Kurzgeschichten · Spannendes · Experimentelles

Von:    Geminus      Mehr vom Autor?

Erstveröffentlichung: 15. Juni 2011
Bei Webstories eingestellt: 15. Juni 2011
Anzahl gesehen: 3031
Seiten: 5

Gewöhnlich verschwendete Radeck keinen Gedanken mehr an einen durchgeführten Auftrag. Aber bei diesem Job stimmte etwas nicht.

Eben erst war er zurück in die eigenen vier Wände gekommen. Der schwache Duft ihres französischen Lavendelparfüms schwebte noch in der Luft. Er hatte nach ihr gerufen, aber eine Antwort war ausgeblieben. Enttäuscht über ihre Abwesenheit war er in die Küche gegangen. Am Kühlschrank hing ein gelber Zettel, auf den sie in ihrer eigenwilligen Handschrift ein paar Zeilen geschrieben hatte:

„Hallo Liebling, ich habe einen kurzfristigen Termin wegen einer neuen Wohnung, nachher gehe ich noch was einkaufen und bin erst im Laufe des Abends wieder zurück. Ich liebe Dich, Martha.“ Radeck sah auf die Uhr. Achtzehn dreißig. Martha konnte jeden Moment auftauchen oder auch erst in ein bis zwei Stunden.

„Verdammt“, murmelte er ärgerlich, setzte sich an den Esstisch, zog eine Zigarette aus einem versilberten Etui und steckte sie zwischen die Lippen. Nachdenklich sog er den Rauch tief in seine Lungen und ließ den Nachmittag an seinem inneren Auge vorbeiziehen. Vor nicht viel mehr als drei Stunden hatte er eine ihm unbekannte Frau getötet. Es war ihm gleichgültig, welchem Geschlecht sein Opfer angehörte. Skrupel waren ihm fremd. Mit derartigen Mimositäten schlugen sich die Amateure seiner Zunft herum.

Fühlt eine Waffe sich schuldig? Schuld luden diejenigen auf sich, die ihn beauftragten.

Das, was die tödliche Harmonie aus dem Lot brachte, war, dass er glaubte, schon einmal eine Partnerin des gleichen Mannes erschossen zu haben. Radeck hatte sich nie für die Hintergründe seiner Aufträge interessiert. Alle Einzelheiten waren seinerzeit anonym übermittelt worden. Lediglich das, was am Tag nach dem Mord in den Zeitungen zu lesen stand, war ihm lückenhaft im Gedächtnis geblieben. Die Frau sollte als Zeugin in einem Geldwäscheprozess, bei dem es um lange Haftstrafen ging, gegen ihren Arbeitgeber aussagen. Er hatte sie vor dem Gerichtsgebäude erschossen, dass sie gerade zusammen mit ihrem Partner betreten wollte. Und je länger er darüber nachdachte, umso sicherer wurde er. Diesem Mann war er heute Nachmittag begegnet. Erst am Morgen hatte Radeck Näheres über den neuen Auftrag erfahren. Neben dem genauen Zeitpunkt, dem Ort und seiner Bezahlung, lag dem unbeschrifteten Briefumschlag ein Foto bei. Auf diesem war lediglich ein einzelner, in einer engen Nische befindlicher Tisch zu erkennen.
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Zwei Stühle standen im rechten Winkel zueinander, von denen der eine mit einem Kreuz markiert war. Unten auf dem Foto stand in Druckbuchstaben: „Türkisfarbenes Kopftuch“. Als Adresse war ein muslimisches Teehaus auf dem Gelände einer türkischen Moschee angegeben.



Radeck traf zum angegebenen Zeitpunkt ein und nahm das Areal in Augenschein. Auf einer die Moschee umrundenden Mauer waren dicht an dicht Blumenkübel mit kleinwüchsigen Zitronen und Apfelsinenbäumchen gepflanzt worden, die einen erstklassigen Sichtschutz bildeten. Aber lediglich eine einzige Stelle von nicht mehr als einem Meter Breite ließ den Blick auf den Tisch zu, der auf dem Foto zu erkennen war. Das Teehaus war nur von wenigen Gästen besucht. Etwa zehn Personen, zumeist Männer, saßen an zierlichen Tischen und unterhielten sich, oder vertrieben sich ihre Zeit mit Karten spielen. Befriedigt registrierte Radeck, dass zwei Personen an dem Tisch saßen. Die Entfernung betrug etwa fünfzig Meter. Alles verlief wie geplant. Das Gewehr aus der mitgebrachten Sporttasche ziehen, das Zielfernrohr auf den geschwärzten Lauf schrauben, das Opfer anvisieren. Von der Frau war fast nichts zu erkennen. Sie saß mit dem Rücken zu ihm und trug, wie in dem Brief angekündigt, ein türkisfarbenes Kopftuch. Ihr gegenüber saß ein etwa fünfzig Jahre alter Mann. Radeck stutzte. Hatte er diese Person nicht schon einmal gesehen? Das Haar wies lichte Stellen auf, und unter seinen Augen befanden sich schwere bläuliche Tränensäcke. Aber an die Mundpartie mit dem markant vorspringenden Kinn meinte er sich erinnern zu können. Er erwog einen verschwindenden Moment lang, den Auftrag nicht auszuführen.

Aber das wäre das erste Mal in seiner Laufbahn als Profi gewesen und er hatte einen makellosen Ruf zu verteidigen. Radeck vertrieb seine Gedanken. Das Geschäft musste schnell, präzise und völlig emotionslos durchgeführt werden. Jede Sekunde, die er länger blieb, erhöhte das Risiko entdeckt zu werden. Das Fadenkreuz richtete sich auf den Rücken der Frau. Als es die Herzgegend erreichte, gab der mit einem Schalldämpfer ausgerüstete Lauf lediglich ein hustenähnliches Geräusch von sich. Alles verlief drehbuchartig. Einen Moment lang erstarrte die Frau. Dann, ohne einen Laut von sich zu geben, kippte ihr Oberkörper vornüber auf die Tischplatte. Radeck hatte das Gewehr sofort zurück in die Tasche gepackt und sich seelenruhig den Menschen angeschlossen, die an diesem Freitagabend das gute Wetter zu einem Einkaufsbummel nutzten.
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Seinen Wagen hatte er einige Straßen weiter geparkt. Später war er zum Hudson River gefahren, hatte seine Kleidung gewechselt und zusammen mit der Waffe in weitem Bogen in den träge dahin fließenden Strom geworfen. Auf der Fahrt nach Hause war ihm dann eingefallen, woher ihm der Mann bekannt vorkam.



Das Klingeln an der Haustür ließ ihn aus seinen Gedanken aufschrecken. Martha, Martha, dachte er leicht amüsiert. Wirst du es nie lernen, deinen Haustürschlüssel mitzunehmen? Mit dem angenehmen Gedanken, seine Frau in die Arme schließen zu können, öffnete er die Haustür.

„Phil Radeck?“ Dass die zwei Männer vor der Haustür keine Sammlung für karitative Zwecke unterstützten, war ihm klar, bevor sein Name über die Lippen des Größeren kam. Radeck konnte es beinahe körperlich spüren, wie die dünne Eisdecke seiner trügerischen Sicherheit erste Risse zeigte.

„Was wollen sie?“, fragte er und hoffte, dass die beiden nicht das seichte Beben in seiner Stimme wahrnahmen.

„Das hier ist Sergeant Farmer“, begann der Größere und zeigte auf einen untersetzten Mittvierziger, dessen fettige Haare dringend einer Wäsche bedurft hätten.

„Mein Name ist Hoffer, wir ermitteln wegen eines Mordes, der heute gegen fünfzehn Uhr unweit der Mossala Moschee verübt wurde“. Beiläufig zog er eine Dienstmarke aus der Jackentasche und betrat, ohne eine Aufforderung abzuwarten, den winzigen Korridor der Wohnung.

„Gibt es in ihrer Wohnung einen Ort, an dem wir in Ruhe über ein paar wichtige Dinge reden können?“ Radeck nickte, ging vor in die Küche und zeigte auf zwei Stühle beim Esstisch. Sein Hirn arbeitet auf Hochtouren. Wo war die Verbindung zu ihm und warum in dieser kurzen Zeit.

„Ein Mord in der Nähe einer Moschee?“, wiederholte er nachdenklich und versuchte ein möglichst betroffenes Gesicht aufzusetzen.

Hoffer setzte sich und Radeck beobachtete, wie er sich abschätzend in der Küche umsah. Im Gegensatz zu seinem Kollegen wirkte er wie frisch geduscht. Kurze braune Haare, ein exakt getrimmter Oberlippenbart, weißes gestärktes Hemd.

„Ich würde es in diesem Fall nicht als irgendeinen X-beliebigen Mord aus Eifersucht oder Geldgier bezeichnen, es schien mir eher nach einer Hinrichtung auszusehen.
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Das Opfer, übrigens eine Frau, wurde aus einiger Entfernung erschossen. Ein einziger Schuss hat gereicht, genau ins Herz. Für mich sieht das eher nach einer Auftragsarbeit aus.“ Einen Augenblick herrschte Schweigen.

„Was haben Sie am heutigen Nachmittag so gegen fünfzehn Uhr getrieben, Radeck?“, ergriff Farmer das Wort. Der anzügliche Unterton in Farmers Stimme wurmte ihn.

„Ich wüsste zwar nicht, was Sie das angeht, aber ich habe zu dieser Zeit einen kleinen Einkaufsbummel durch die Stadt getätigt. Meine Frau hat nächste Woche Geburtstag und ich habe nach einer Kleinigkeit gesucht. Und das ist nach meiner Rechtskenntnis nicht verboten.“

„Ich bitte Sie, Radeck, wir sind doch keine Unmenschen. Aber Sie werden doch sicher jemandem begegnet sein, den Sie kennen, so dass er Ihre Aussage bestätigen kann. Oder haben Sie eine Quittung für ein hübsches Geburtstagsgeschenk bekommen?“, bohrte Farmer süßlich weiter. Radeck schüttelte nachdenklich den Kopf.

„Ich erinnere mich nicht daran einen Bekannten gesehen zu haben und ich habe auch nichts Passendes gefunden. Aber vielleicht erklären Sie mir langsam, was ausgerechnet ich mit dieser ganzen Geschichte zu tun habe?“

„Ich denke, eine ganze Menge“, ergriff Hoffer das Wort. Am Esstisch öffnete er eine mitgebrachte Aktentasche, entnahm ihr einen Umschlag und legte ihn vor sich auf den Tisch.

„Was soll das?“, fragte Radeck zynisch. „Wird die Post mittlerweile durch die Polizei persönlich zugestellt?“ Keiner der Beamten zeigte sich beeindruckt.

„Dieser Umschlag, Mr. Radeck, wurde vor zwei Stunden im Präsidium abgegeben.“ Radeck zuckte mit den Schultern, worauf Hoffer ihn öffnete, ihm ein gedrucktes Foto entnahm und es ihm vorlegte. Radeck erstarrte. Eindeutig war der Lauf eines Gewehres zu erkennen, dessen Ende zwischen zwei Zitronenbäumchen hervorlugte.

„Und?“ Er sah von einem Beamten zum anderen. Ein zweites Foto wurde aus dem Umschlag gezogen und auf diesem war, zwar aus großer Entfernung aufgenommen, aber eindeutig sein Gesicht zu erkennen.

„Ich verstehe nicht, nur weil ein mir ähnlich sehender Mann eine Frau erschossen hat, kommen Sie ausgerechnet zu mir? Allein in diesem Stadteil leben Hunderte, die der Mann auf dieser Aufnahme sein könnten".

Ohne auf Radecks Einwand einzugehen, drehte Hoffer das Foto herum. Auf der Rückseite stand Radecks Name.
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Und über ihm in blutroten Lettern: „Mörder“.



Radeck spürte, wie sich Kälte, von der Magengrube kommend, in seinem Körper ausbreitete. Weitere Aufnahmen wurden vor ihm ausgebreitet, auf denen seine Flucht eingehend dokumentiert wurde. Wie er den Tatort verließ, wie er einige Straßen weiter in seinen Ford stieg und wie er das Gewehr in den Hudson warf. Wie ein Blitz durchdrang Radeck die Erkenntnis und schlagartig war ihm alles klar. Er war in eine Falle getappt. Der Mann, dessen Frau er vor sechs Jahren erschossen hatte, war in der Lage gewesen ihn aufzuspüren und durch einen fingierten Auftrag zu vernichten. Er war sicher, dass er auf dem Gelände eine Kamera postiert, alles fotografiert hatte und ihm mit einem Wagen gefolgt war.

„Eine Frage noch“, erkundigte sich Farmer und zog ein türkisfarbenes Stück Stoff aus der Aktentasche.

„Dieses Kopftuch steckte in dem Umschlag, mit der Anweisung es Ihnen auszuhändigen.“ Radeck erkannte es sofort, zuckte aber nur mit den Schultern und sah Farmer fragend an. Der Beamte räusperte sich kurz.

„Es gibt nur wenig nicht muslimische Frauen, die eine Teestube besuchen, und sie wissen oft nicht, dass hier Kopftuchpflicht besteht. Für sie werden diese türkisfarbenen Tücher bereitgehalten.“ Hoffer hielt das Radeck das Tuch hin. Seine Augen hatte sich auf Stecknadelkopfgröße zusammengezogen und fixierte ihn berechnend.

„Wir werden es sicherlich selbst bald wissen, aber wollen Sie uns nicht weitere Mühe ersparen und verraten, wer die Frau war, die Sie erschossen haben?“ Radecks Gesicht war zu einer ausdruckslosen Maske erstarrt. Sie würden, ohne seinen Anwalt, keinen Ton mehr aus ihm herausbekommen.

Resigniert faltete Farmer das Kopftuch zusammen und war gerade im Begriff, es zurück in den Umschlag zu stecken, als Radeck der schwache, aber unverwechselbare Duft von französischem Lavendel in die Nase stieg.
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Kommentare zur Story:

  Brutal, aber so ist es. Wer anderen eine Grube gräbt...! Tolle Kurzgeschichte.  
   Else08  -  21.06.11 18:02

   Zustimmungen: 0     Zustimmen

  Oh, wie gemein. Aber das hat dieser eiskalte Typ eigentlich verdient.  
   Petra  -  19.06.11 09:39

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  So kann das Leben manchmal zurück schlagen. Schöne boshafte Story.  
   Gerald W.  -  18.06.11 15:36

   Zustimmungen: 0     Zustimmen

  Wow, das Ende ist ja echt fies. Und verschämter Weise muss ich sagen, das gönnt man deinem Protagonisten. Tolle Story.  
   doska  -  17.06.11 08:38

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Interessante Kommentare

Kommentar von "Nausicaä" zu "frühling z2"

einfach toll, dieses frühlingsgedicht. du findest in deinen gedichten häufig ganz eigene, besondere bilder. wunderschön, ohne kitschig zu sein.

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