Plötzlich kamen alle wieder - Teil 6   18

Romane/Serien · Nachdenkliches

Von:    Homo Faber      Mehr vom Autor?

Erstveröffentlichung: 27. April 2006
Bei Webstories eingestellt: 27. April 2006
Anzahl gesehen: 2340
Seiten: 12

Diese Story ist Teil einer Reihe.

Verfügbarkeit:    Die Einzelteile der Reihe werden nach und nach bei Webstories veröffentlicht.

   Teil einer Reihe


Ein "Klappentext", ein Inhaltsverzeichnis mit Verknüpfungen zu allen Einzelteilen, sowie weitere interessante Informationen zur Reihe befinden sich in der "Inhaltsangabe / Kapitel-Übersicht":

  Inhaltsangabe / Kapitel-Übersicht      Was ist das?


Mir fiel auf, dass wir auf dem Weg zum Hotel wenig sprachen, so gut wie gar nicht. Ich musste sie immer wieder ansehen. Sie merkte es und lächelte. Ich war sicher, dass sie wusste, was ich wusste oder zumindest dachte. Ich war nervös, ich war verrückt nach ihr, ich wollte unbedingt mit ihr schlafen, aber ich hatte auch Angst davor, ich hatte außer mit Pia noch mit keiner Frau geschlafen und das war ja auch schon zwei Jahre her, ich war praktisch unerfahren, wie würde ich mich jetzt anstellen, wie sollte ich mich verhalten? Kathy hatte wahrscheinlich schon jede Menge Erfahrung. Sie würde mit Sicherheit merken, dass ich so wenig Erfahrung besaß, wie würde sie darauf reagieren? Sie würde mich wohlmöglich für unnormal halten, was ich wohl auch war. Ich fragte mich, wie ich jeweils eine Partnerin finden sollte, die Verständnis dafür haben würde. Von einem 25-jährigen erwartete man, dass er erfahrener war. Und leider kam es in unserer Welt nicht darauf an, was man von sich selbst erwartete, sondern, was andere von einem erwarteten, so traurig es auch war. Aber ich wollte nicht so sein wie diese coolen Typen, denen es wirklich nur um das eine ging und damit rumprallten, wie viel Frauen sie schon hatten und dass sie gerade schon wieder eine flachgelegt hatten, ich konnte solche Typen nicht ausstehen, diese schleimigen Machos.

Aber vielleicht wollte sie ja doch einfach nur das Hotel sehen, und ich malte mir gleich, wer weiß was aus. Warum sollte sie auch mit mir ins Bett gehen wollen. Wieso sollte jetzt plötzlich, nach dem ich nicht mal einen Tag hier war, eine Frau, die ich gerade mal zwei Stunden kannte und die wirklich jeden haben konnte, bei so jemandem wie mir darauf aus sein? Vielleicht wäre es auch besser, wenn nichts passieren würde, so könnte ich auch nichts falsch machen.

Pia wusste natürlich, dass sie meine erste war, aber ihr konnte ich es auch sagen, sie kannte mich ja schon eine Weile. Sie war kein Mensch, der Vorurteile hatte. Sie war wunderschön und doch so natürlich und lieb. Sie hätte jeden haben können, aber sie war mit mir zusammen. Für sie zählten andere Dinge.

Ich holte meinen Zimmerschlüssel, und wir gingen auf mein Zimmer. Mein Herz begann immer mehr zu klopfen, als wir dort eintraten. Mir fiel ein, dass gar nichts passieren konnte, da ich keine Kondome hatte. Und ohne Kondom würde ich kein Sex machen, egal wie unwiderstehlich die Frau sein würde.
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„Nice room“, sagte sie. „And nice bed“, fügte sie hinzu und sah mich dabei an. Es war ein ganz normales Hotelbett, nichts besonderes. Aber ich wusste, was sie damit meinte. Ich hatte es mir wohl doch nicht eingebildet. Was wir zwei denn noch so machen sollten, fragte sie dann mit einem gewissen Unterton und stellte sich wieder mit kerzengerader Haltung und ausgestrecktem Busen, wie an der U-Bahnstation, als sie mich nach der Zigarette gefragt hatte, vor mich hin. Nur musste ich nun zu ihr aufblicken, da sie die hohen Schuhe trug. Ich war die ganze Zeit schon erregt, aber wurde in diesem Moment noch erregter. In dem Moment kam sie auch näher. Nun konnte ich mich nicht mehr zurückhalten und küsste sie, wahrscheinlich stellte ich mich dabei schon total ungeschickt an, aber das war mir in dem Moment ziemlich egal, ich war einfach zu verrückt nach ihr. Sie erwiderte den Kuss und zog mich ganz dicht an sie. Sie sagte, dass sie mich gern fühlen würde. Ich sagte, dass ich sie auch gern fühlen würde, aber ich keine Verhütungsmöglichkeiten hätte. Tatsächlich hatte sie aber Kondome dabei. Vermutlich war sie grundsätzlich auf so etwas vorbereitet. Dann öffnete sie meine Hose, machte mich unten frei und zog mir das Kondom rüber. Dann schob sie mich aufs Bett, machte sich ebenfalls unten frei und setzte sich auf mich es war gut, dass sie die Führung übernahm, so konnte ich nicht allzu viel falsch machen, aber trotzdem war ich sehr verkrampft. Aber nachdem ich „drin“ war, war die Unsicherheit weg.

Es war schön mit ihr, es war ein Traum mit dieser Frau schlafen zu dürfen. Ich fragte mich, wie oft sie schon Sex hatte und mit wie vielen Typen und wann das erste Mal. Wir kamen sehr schnell zum Höhepunkt. Ich sagte ihr, dass ich es schön fand. Sie fand es auch schön. Ich ging duschen. Ich war richtig fröhlich. Ich wollte mit ihr gern auch die restlichen Tage in London verbringen. Nur fragte ich mich, wie es sein würde, wenn ich wieder fahren würde, aber ich beschloss mir darüber noch nicht den Kopf zu zerbrechen, sondern erst noch ein paar schöne Tage mit ihr zu verbringen. Aber als ich aus dem Bad herauskam, musste ich feststellen, dass daraus wohl nichts werden würde, denn sie war verschwunden. Für mich brach die Welt zusammen, das konnte doch nicht wahr sein, wieso war sie einfach abgehauen.
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Da sah ich einen Zettel auf dem Bett liegen. Schnell griff ich danach. Sie hatte geschrieben, dass sie nur etwas Spaß wollte, dass es ihre Art sei und es ihr leid tue und sie hoffe, dass sie mich damit nicht verletzt habe. Und ob sie das hatte! Wenn sie es direkt gesagt hätte, dass sie nur Sex wolle, wäre ich auch einverstanden gewesen, aber ich dachte, sie würde mich auch so mögen und hätte Interesse daran, mit mir, so lange ich in London war, etwas zu unternehmen. Und ich Idiot hatte ihr auch noch die Schuhe bezahlt, wahrscheinlich hatte sie nur mit mir geschlafen, weil ich ihr die Schuhe bezahlt hatte und wir waren für sie jetzt quitt. Warum hatte sie das nicht gleich mit in ihrer Nachricht geschrieben, wenn sie sowieso abgehauen war, hätte sie auch noch so ehrlich sein können.

Einerseits bekam ich eine Riesenwut, andererseits tat es mir auch weh, dass ich so auf sie hereingefallen war. Ich hätte so gerne noch Zeit mit ihr verbracht. Ich hatte mich tatsächlich in sie verliebt. Natürlich war das nicht normal, ich kannte sie ja überhaupt nicht, aber ich konnte doch nichts dafür.

Was sollte ich nur machen. Mein ganzer Urlaub war schon versaut. Ich beschloss den folgenden Montag, da sie dann ja wieder Schule haben würde, an derselben U-Bahnhaltestelle zu warten, bis sie dahin kommen würde, auch wenn ich den ganzen Tag dort warten würde, denn ich musste sie sehen, um ihr meine Meinung zu sagen. Und ich wollte sie auch sonst gern sehen. Zu dumm, dass sonntags keine Schule war.

Ich beschloss, wieder heraus in die Stadt zu fahren, ich wollte nicht den ganzen Tag nur auf dem Zimmer verbringen und herum seufzen. Vielleicht würde ich ihr ja sogar in der Stadt noch mal über den Weg laufen, was ich aber nicht glaubte. Ich fühlte mich wieder beobachtet. Es kam mir vor, als würden mich alle in der Bahn ansehen und auslachen, weil alle über mich Bescheid wussten. „Da ist er, der Trottel. Der dachte wohl, sie fände ihn toll, dabei hatte sie nur nach jemandem gesucht, der ihr die Schuhe bezahlt, und er war so blöd und ist darauf hereingefallen. Jetzt sucht er sie wohl“, hörte ich jemanden sagen. Natürlich hörte ich die Leute alle Deutsch reden.

Ich sah mir den Big Ben an und auch den Buckingham Pallast.
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Auch hier machte ich wieder Fotos, obwohl mich das in dem Moment nicht wirklich interessierte, ich war einfach zu enttäuscht von Kathy. Ich wünschte, ich hätte auch von ihr ein Foto gemacht, zur Erinnerung, auch wenn es wohl besser wäre, ich würde mich nicht an sie erinnern. Enttäuscht war ich nicht wirklich von ihr, ich hatte vielmehr eine Wut auf sie, dass sie so eine Show mit mir abgezogen hatte, dass sie mich ausgenutzt hatte und mich so verletzt hatte. Gleichzeitig hatte ich auch eine Wut auf mich, dass ich so blöd war auf sie hereinzufallen. Wie konnte ich auch nur so blöd sein, einer wildfremden Frau Schuhe zu bezahlen. Eigentlich hatte ich, als ich ihr die Schuhe bezahlt hatte, schon gewusst, dass sie in mir vielleicht nur einen Dummen gesucht hatte, aber in dem Moment hatte ich es verdrängt, ich war einfach zu geblendet von ihr, dass ich nicht „nein“ sagen wollte. Manchmal will man die Wahrheit einfach nicht erkennen. Vielleicht wollte ich aber auch nur einfach mal wieder jemanden trauen, ich wollte nicht mein Leben lang anderen Frauen gegenüber misstrauisch sein, auch wenn ich mit den Frauen, die ich nach Pias Tod kennen gelernt hatte, schlechte Erfahrungen gemacht hatte. Aber wie sollte ich jeweils wieder in jemandem Vertrauen finden? So wie sich die Frau und der Mann des Paares, dass ich gerade beobachtete, sich auch vertrauten.

Die Frau war etwa in meinem Alter, ihr Freund vielleicht 30. Sie kamen auch aus Deutschland, wahrscheinlich aus dem Norden, der Mann sprach zumindest mit einem nordischen Akzent, die Frau weniger. Eine hübsche Frau, sehr natürlich. Sie waren so fröhlich, gewiss waren sie beide sehr glücklich miteinander. So, wie ich es mit Pia auch war. Sie lachten, so wie ich es mit Pia auch tat. Die Frau kam genau in dem Moment auf mich zu und fragte, ob ich ein Foto von ihnen machen könne. Ich erklärte mich bereit. Ich nahm sie vor dem Big Ben auf. Wie sie beide da standen und strahlten, so fröhlich, so wie Pia und ich auch auf unseren Fotos. Dieses Foto erinnerte mich sehr stark an unser letztes Foto. „Es wird ein sehr schönes Foto“, sagte ich anschließend zu ihnen. „Das sollten Sie immer aufbewahren, egal, was kommt“, riet ich ihnen. Sie glaubten auch, dass es gewiss ein schönes Foto werden würde und bedankten sich. „Darf ich fragen, wie lange Sie zusammen sind?“, fragte ich. Ich hatte so etwas noch nie fremde Leute gefragt, mich hatte so etwas vorher nie interessiert.
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„Seit drei Jahren“, antwortete die Frau strahlend, die darüber offensichtlich sehr glücklich war. Genau so lange, wie ich mit Pia jetzt auch zusammen wäre. „Und glücklich wie am ersten Tag“, fügte der Mann hinzu und küsste sie. „Und Sie? Ich hoffe, Sie sind auch glücklich mit jemanden?“, fragte die Frau. „Ebenfalls drei Jahre“, antwortete ich. „Sie ist die Richtige für mich.“ „Das ist schön“, sagte sie. „Sie ist gerade Eis holen“, sagte ich. Die beiden wunderten sich sonst vielleicht, warum sie nicht hier war. „Ich werde mal sehen, wo sie bleibt“, sagte ich noch und wünschte den beiden noch alles Gute, sie mir ebenfalls.

Für einen ganz kurzen Moment kam es mir so vor, als sei Pia wirklich nur Eis holen. Und vor ein paar Stunden hatte ich mir noch eingebildet, sie sei dabei aus meinem Herzen zu verschwinden, als ich mit Kathy unterwegs war. Anfangs nach ihren Tod kam es mir oft für kurze Momente so vor, als sei sie nur vorübergehend nicht da. Es war dann so als würde jeden Moment das Handy klingeln und eine Kurzmitteilung von ihr eingegangen sein. Abends hatten wir uns meistens immer eine geschrieben, um uns gute Nacht zu sagen. Aber nach einem kurzen Moment wurde mir dann jeweils wieder klar, dass sie für immer weg war und dies nie wieder passieren würde. Ich hatte mir ein zweites Handy besorgt und jedem diese Nummer gegeben und gesagt, ich hätte mein altes Handy nicht mehr, denn ich wollte nicht, dass mich darüber noch jemand anrief. Mein altes Handy hatte ich behalten, denn nur noch Pia hätte sich darüber melden können und hätte ich einen Anruf oder eine Kurzmitteilung auf dieses Handy bekommen, hätte ich gewusst, dass nur sie es sein kann. Ich wollte damals einfach nicht wahrhaben, dass sie tot war und nie wieder kommen würde und hatte immer an Wunder geglaubt, obwohl ich wusste, dass es keine Wunder gab. Ich hatte das Handy immer noch, obwohl ich es seitdem nie wieder benutzt hatte. Es lag nur immer Tag und Nacht eingeschaltet da, aber es würde niemals wieder benutzt werden, denn sie war tot. Sie würde niemals wieder kommen. Nie wieder. Ich merkte, dass mir wieder die Tränen anfingen in die Augen zu steigen. Ich atmete ein paar Sekunden tief durch, bis es wieder nachließ. Wann würde ich über ihren Tod endlich hinwegkommen? Warum konnte ich nicht endlich über ihren Tod hinweg kommen und einfach glücklich werden.
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Aber es gab ja nichts, was mir Freude bereiten konnte. Ich war ja allein. Wenn doch nur Bianka noch da wäre. Auf Melanie konnte ich ja nicht mehr zählen. Selbst in ihr hatte ich mich getäuscht. Anfangs war ich manchmal kurz davor ihren Eltern zu sagen, dass sie von der Schule abgegangen war und dass das Abiturzeugnis gefälscht war, sie in Wirklichkeit ein Abgangszeugnis bekommen hatte. Aber ich konnte es nicht tun, ich hatte es nicht fertig gebracht. Ich hatte mir dann vorgestellt, was passieren würde, wie ihre Eltern ausgeflippt wären. Wohlmöglich hätten sie sie raus geschmissen. Nein, das konnte ich ihr einfach nicht antun.

Sie hatte Glück, dass ihre Eltern beruflich so viel unterwegs waren, dass sie es sowieso nicht geschafft hätten, zur Abiturfeier zu kommen, denn sonst wäre es aufgeflogen. Sie war ganz spontan abgegangen, hatte sich einfach überfordert gefühlt in der Schule. Sie wollte auch nie so wie ihre Eltern werden.

Bianca hatte ein gutes Verhältnis zu ihren Eltern, sie hatte überhaupt gar keine Probleme. Aber Pia hatte auch Probleme zu Hause, sie litt noch mehr als Melanie. Sie wurde zu Hause regelrecht unterdrückt. Nur wusste ich es nicht, ich wusste zwar, dass sie zu Hause oft Ärger hatte, aber ich hatte nie gemerkt, wie sehr sie darunter wirklich litt, sie hatte es immer überspielt. Ihre Eltern waren geschieden, und ihr Vater hatte wieder geheiratet, und sie lebte bei ihrem Vater und ihrer Stiefmutter. Sie hätte gern bei ihrer Mutter gelebt, aber ihrer Mutter ging es finanziell nicht so gut, sie konnte sich nur eine kleine Wohnung leisten und dort konnte keine weitere Person leben. Sie war ein lieber Mensch, sie hätte sich auch gewünscht, dass Pia bei ihr hätte wohnen können und bedauerte, dass es nicht möglich war. Ihr Vater war schon schlimm, aber am schlimmsten war ihre „Stiefmutter“. Ich konnte sie nicht leiden, sie tat zwar immer total freundlich, wenn man ihr begegnete, aber ich hatte schnell den Eindruck, dass sie anders tat als sie dachte, solche Leute durchschaute ich schnell. Bianca konnte sie auch nicht leiden und Melanie ebenfalls nicht. Wenn sie nicht gewesen wäre, wäre der Vater wahrscheinlich nicht so schlimm gewesen, er stand wohl sehr unter ihrem Einfluss.
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Die beiden mischten sich ständig in Pia Leben ein, ständig meinten sie ihr vorschreiben zu müssen, was sie zu tun habe. Weil sie anfangs nie wusste, was sie wirklich nach dem Abitur machen wollte und sich deshalb um keine Ausbildungsstelle beworben hatte, sondern beschlossen hatte irgend etwas zu studieren, waren sie auch nur am herumnörgeln. Sie wollten unbedingt, dass sie etwas machte. Hauptsächlich ging es ihnen nur ums Geld, weil sie Angst hatten, dass sie für sie zahlen mussten. Direkt gesagt hatten sie es zwar nicht, aber so waren sie, ihnen ging alles nur immer ums Geld. Vor allem ihre Stiefmutter mischte sich ständig ein und musste immer ihren Senf dazu geben, obwohl es sie überhaupt nichts anging. Wenn ihr Vater sich darüber aufregte, konnte ich noch akzeptieren, obwohl er auch Verständnis hätte haben müssen, dass es keinem Menschen irgendetwas bringt, wenn er einen Beruf lernt, nur um Geld zu verdienen, in dem Beruf aber nicht glücklich ist. Und genau für so etwas hatte er kein Verständnis. Pia sagte, er sei zwar schon immer sehr rechthaberisch gewesen, aber seit er mit dieser Frau verheiratet war, war es noch schlimmer geworden. Zwar hatte ich die beiden selbst noch nie so erlebt, in meiner Gegenwart verhielten sie sich normal, aber Pia hatte mir oft genug erzählt, wie sie waren. Aber ich wusste nicht, dass sie noch mehr litt, als sie zugab. Als sie nach dem Abitur studieren wollte, aber keinen Studienplatz erhalten hatte und somit für das folgende Jahr keine Perspektiven hatte, musste es besonders schlimm gewesen sein, so schlimm, dass sie es nicht mehr aushalten konnte und sich umbrachte.

Warum hatte ich es nur nicht gemerkt, dass es ihr so schlecht ging? Warum hatte sie es mir nicht gesagt, warum hatte sie es immer überspielt und so getan, als sei sie nur genervt? Von Bianca hatte ich später erfahren, dass sie in ihrer und Melanies Gegenwart sehr oft geweint hatte und nicht mehr weiter wusste, sie aber nicht wollte, dass ich es erfahre, weil sie Angst hatte, sie würde mich dadurch belasten. Aber sie hätte mich nicht belastet, ich hätte alles getan, um ihr daraus zu helfen, ich hätte sie bei mir einziehen lassen. Aber warum hatte ich es selber nur nicht gemerkt? Ich war ihr Freund, ich hätte es selber merken müssen. Ich machte mir selbst immer noch Vorwürfe, auch wenn sie mich in ihrem Abschiedsbrief darum gebeten hatte, mir keine Vorwürfe zu machen.
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Auch ihrem Vater machte ich Vorwürfe, aber vor allem ihrer Stiefmutter. Ich hasste diese Frau, dieses blöde Mistvieh, ich konnte ihre dämliche Visage schon damals nicht ertragen, aber seit Pias Tod hatte ich einen Hass auf sie. Dafür, dass sie sich so in ihr Leben eingemischt hatte, obwohl es sie gar nichts anging.



Ich erfuhr es von Pia Mutter. Sie rief mich abends, als ich gerade fünf Minuten zu Hause war, an und fragte mich, ob ich zu ihr kommen könne, sie müsse mit mir reden, es gehe um Pia. Sie weinte nicht, aber sie klang ernst. Ich fragte, was denn los sei, aber sie wollte nicht am Telefon mit mir darüber reden. Ich war sehr beunruhigt, verwirrt, wusste nicht was los war, hatte aber keinen Verdacht, was wirklich passiert war und fuhr sofort los.

Als sie die Tür öffnete, sah ich, dass sie geweint hatte, sie versuchte aber sich zu beherrschen. Sie bat mich rein. „Was ist denn los?“, hörte ich mich ängstlich fragen. Ich folgte ihr ins Wohnzimmer. Dort saß Melanie, kreidebleich. Ich wusste, dass etwas Schlimmes passiert war. „Was ist passiert?“, fragte ich. Da fing Pias Mutter an zu weinen und sprach: „Pia ist tot.“ Ich glaubte nicht zu hören, was ich hörte. Es war, als schlüge ein Blitz in mir ein. Ich bekam gar nicht mehr richtig mit, dass ich nach hinten weg kippte und auf der Couch landete. Bevor ich überhaupt zu einer Reaktion fähig war, sprach sie weiter. „Sie hat sich das Leben genommen.“ Ich war wie im Trance, ich hatte es deutlich gehört, aber ich wollte es einfach nicht wahrhaben. Ich sah Melanie an, sie saß da und sah nach unten, immer noch kreidebleich. „Aber das ist doch nicht möglich“, hörte ich mich leise sagen. Und sah die Mutter an, dann wieder Melanie und wieder die Mutter. Die Mutter sah mich nur weinend an. Jetzt begann ich erst langsam zu realisieren, was passiert war. Ich spürte, wie sich in meinem Rachen ein Kloß bildete, der gegen meinen Gaumen zu pressen begann, was gegen meine Tränendrüse drückte. Ich versuchte Tränen zu unterdrücken, aber ich konnte es nicht.

Pia war tot, das bedeutete, sie war fort. Bilder von ihr jagten durch meinen Kopf. In dem Moment erinnerte ich mich daran, dass sie am Abend davor als wir uns gesehen hatten zum Ende hin ganz seltsam war.
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Als ich sie nach Hause gebracht hatte war ihr letzter Satz: „Pass auf dich auf!“ Und sie hatte mich, als sie ins Haus gegangen war für einen Moment besorgt und nachdenklich angesehen. Und ich hatte gedacht, sie bezöge es aufs Auto fahren, denn ich war ziemlich chaotisch gefahren.

Ich würde sie nie wieder sehen, begriff ich, nie wieder. Ich würde sie auch nie wieder hören, es gab sie nicht mehr. Tot war sie. Gestern hatte sie noch gelebt, heute war sie tot. Tot, nur ein Wort, nur drei Buchstaben, und doch so schlimm. So schlimm, dass es einem eiskalt über den Rücken lief, wenn man es hörte, selbst wenn man nur dran dachte. Tot. Tot. Tot. Und niemand konnte es aussprechen, nicht einmal der Lebendigste unter den Lebendigsten. Tot. Tot. Tot.

„Wann ist es passiert?“, gelang es mir zu fragen, obwohl ich den Kampf gegen die Tränen verlierend kaum sprechen konnte. „Ihr Vater hat heute Morgen einen Abschiedsbrief gefunden, sie muss es gestern Abend gemacht haben.“ Sie erzählte mir, was in dem Abschiedsbrief gestanden hatte. Darin hatte sie erklärt, dass sie es nicht mehr aushielt zu Hause. Sie war so verzweifelt, dass sie nicht mehr wusste, was sie machen sollte. Ich gab den Kampf gegen die Tränen auf. Ich spürte, wie mir die Tränen vom Gesicht liefen. Melanie rannte plötzlich aus dem Zimmer ins Badezimmer. Einen Moment später hörte ich sie schluchzen. Pia hatte in dem Brief beschrieben, dass sie an ihrem Lieblingsplatz, an der Ruhr einen letzten Sonnenuntergang sehen wollte und dort friedlich einschlafen wollte. Dort hatten wir oft abends gesessen und Sonnenuntergänge betrachtet. Ihre Leiche war nicht gefunden worden, aber eine leere Packung mit Schlaftabletten und eine angebrochene Flasche Schnaps. Vermutlich war sie dann ins Wasser gefallen und dort ertrunken. Ein paar 100 Meter weiter sei ein Schuh von ihr ans Ufer geschwemmt worden. Ich konnte es nicht hören. Ich konnte es einfach nicht ertragen. Ich weinte weiter. „Melanie war 20 Minuten vor dir da“, erzählte die Mutter. „Ich hab ihr schon alles erzählt.“ Ich sagte nichts.

Melanie kam kurze Zeit später zurück. Sie nahm die Mutter in den Arm und versuchte sie zu trösten und weinte selbst dabei. Mich beachtete sie gar nicht. „Sie hat mir und euch beiden einen persönlichen Brief hinterlassen und auch einen für Bianka“, erklärte die Mutter.
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Sie versuchte zu lächeln, als sie mir meinen Brief gab und Melanie ihren. „Sie bittet euch darum, es Bianka zu sagen und ihr den Brief zu geben.“ „Ich werde es tun“, sagte Melanie. „Ich kann meinen Brief jetzt nicht lesen, ich möchte ihn lieber zu Hause lesen“, sagte ich. „Das verstehe ich“, sagte die Mutter. Melanie las ihren sofort. Ich sah ihr dabei zu und wie ihr dabei Tränen auf das Papier tropften. Ich konnte den Brief nicht lesen, nicht jetzt.

Aber wenigstens war ich nicht allein, Melanie war ja noch da, wenigstens eine gute Freundin war mir noch geblieben, dachte ich.



Auf der Beerdigung waren viele Leute da. Verwandte, Freunde, Bekannte, eine Menge Schüler aus ihrer Jahrgangstufe und auch Lehrer, wie ich mitbekam. Es war ein schlimmer Tag. Ihre Stiefmutter war natürlich auch da. Pias Vater sprach ich kurz mein Beileid aus, das musste ich ja tun, auch wenn ich ihm Vorwürfe machte, aber getan hatte er mir ja so nichts. Die Stiefmutter beachtete ich nicht. Sie hatte einen Trauerblick, es sah sogar überzeugend aus, aber ich kaufte ihr es nicht wirklich ab. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie um Pia trauerte, ich war sicher, dass sie sie in Wahrheit nicht ausstehen konnte.

In der Trauermesse saßen vorne die engen Verwandten. Ich fragte mich nur, was ihre dämliche Stiefmutter dort auch zu suchen hatte, sie war keine Verwandte, sie hatte gefälligst in einer der hinteren Reihen zu sitzen. Ich saß in der letzten Reihe zusammen mit Bianka, die aus Wien angereist war, und Melanie.

Die Rede des Pastors war mehr als traurig. Er erzählte vieles aus ihrem Leben, was sie gerne machte usw. Dass sie Selbstmord begannen hatte erwähnte er auch, aber nicht, warum genau, was mich nicht überraschte, da waren wohl gewisse Leute gegen. Ich kämpfte wieder die ganze Zeit gegen die Tränen an. Ich wusste, dass es völlig normal war zu weinen, dass es keinen Grund gab, mich dafür zu schämen, aber ich wollte es einfach nicht. Ich versuchte stark zu sein.

Die Rede des Pastors war zu Ende, jetzt begann der Trauermarsch. Die Sargträger stellten sich am Sarg auf, nahmen ihre Hüte ab und hoben den Sarg. Jetzt konnte ich mich nicht mehr zurückhalten. Ich hörte, wie ich zu schluchzen anfing und drauf los weinte.
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Da marschierten sie mit dem Sarg daher. Bianka hörte, wie ich zu weinen anfing und nahm mich in den Arm. Es tat gut in den Arm genommen zu werden. Die Trauergäste folgten den Sargträgern. Wir gingen zuletzt. Am Grab wurden die letzten Worte vom Pastor gesprochen, dann wurde der Sarg hinab gelassen. Zuerst gingen die Verwandten ans Grab. Alle nacheinander. Bianka, Melanie und ich gingen zuletzt. Ich hatte meine Sonnenbrille auf, um meine Tränen nicht zu zeigen, obwohl sowieso jeder mitbekommen hatte, dass ich weinte.

Da lag sie nun. Obwohl sie nicht wirklich dort unten lag, ihre Leiche wurde nie gefunden. Sie war offensichtlich durch die Strömung schon zu weit vorangetrieben. Aber es lagen persönliche Gegenstände, die mit ihr in Verbindung gebracht wurden, im Sarg. Ich hatte dafür gesorgt, dass das blaue Oberteil dort reingelegt wurde. Denn als sie es gekauft hatte, hatte ich sie kennen gelernt, daher war das für mich ein sehr persönlicher Gegenstand. Ich warf Blumen hinab ins Grab. Lange blickte ich hinunter. Ich spürte, wie Bianka mich immer besorgt ansah. Sie nahm mich noch einmal in den Arm, dann wandten wir uns vom Grab ab. Sie musste zwar auch weinen, doch beherrschte sie sich von uns dreien am meisten. Melanie nahm sie auch in den Arm. Melanie wirkte total verstört und war genau so bleich wie an dem Abend, als wir die Todesnachricht erfuhren. Sie hatte zwei Freundinnen verloren. Eine war tot, und die andere fuhr bald wieder zurück nach Wien. Irgendwie hatte sie mich noch gar nicht beachtet. Ich führte es auf ihre Verzweiflung zurück.

Pias Vater und ihre Stiefmutter kamen an. „Das muss auch schlimm für Sie sein“, sprach die Stiefmutter zu mir. „Sie haben Pia wahrscheinlich sehr geliebt.“ Die wagte es tatsächlich mich anzusprechen. Ich bekam plötzlich so eine Wut, so dass ich alle Höflichkeit vergaß. „Ach, lassen Sie mich bloß in Ruhe. Es ist doch alles Ihre Schuld, Sie haben sie in den Selbstmord getrieben“, schrie ich sie an. „Sie brauchen doch gar nicht so scheinheilig zu tun, Sie mochten sie doch sowieso nicht!“ Sie wurde knallrot im Gesicht vor Wut. „Und Sie sind doch auch nicht viel besser“, wandte ich mich ihrem Vater zu. „Sie haben sie doch auch nur unterdrückt, und von dieser Person haben sie sich noch beeinflussen lassen, obwohl die überhaupt nichts damit zu tun hatte.
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Sie beide haben Schuld, Pia hat mir alles erzählt.“ Ich hatte wohl ziemlich laut geschrieen, alle guckten mich erschrocken an. „Wie kommen Sie eigentlich...?“ fing die Stiefmutter gerade an, aber ich ließ sie gar nicht zu ende reden. „Ach, halten Sie sich daraus, mit Ihnen rede ich nicht“, schrie ich sie wieder an. Der Vater blickte mich nur mit offenem Mund an und meinte dann mit weinerlicher Stimme. „Na los, schlagen Sie schon zu, wenn Sie mich zur Verantwortung ziehen wollen. Das wollen Sie doch.“ „Nein“, sagte ich. „Ich habe meine Freundin verloren, und Sie haben Ihre Tochter verloren. Wir sind quitt.“ Ich wandte mich ab von Ihnen. Bianka kam zu mir. „Das hast du gut gemacht“, sagte sie. „Denen musste mal einer die Meinung sagen.“ Ich war selbst überrascht von mir. Aber glücklich hatte mich das auch nicht gemacht, Pia brachte es mir auch nicht zurück.
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Punktestand der Geschichte:   18
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Kommentare zur Story:

  Dieser Martin ist aber ganz schön unsicher ;-).  
Christian S.  -  23.05.07 22:22

   Zustimmungen: 0     Zustimmen

  Warte schon sehnsüchtig auf den nächsten Teil. Die Geschichte gefällt mir richtig gut. Es ist alles so reel und es ist wie bei einer serie, bei der man nichts verpassen möchte. Bis denn dann, Gruß Sabine  
Sabine Müller  -  02.05.06 14:21

   Zustimmungen: 0     Zustimmen

  Hallöchen, komme gerade von der Arbeit und habe mich schon auf den Teil gefreut.
Du schreibst sehr interessant und mir gefällt es, dass die Rückblicke/ Gedanken/ Erinnerungen dann immer eingebaut werden.
Zu dem Englandteil muss ich sagen, dass ich mir denken konnte, dass etwas läuft und auch die Schuhe abgezockt werden :-) Hast den Quickie echt gut beschrieben. Besser könnte es nicht sein...
Der Teil mit Pia ist ziemlich traurig und geht Einem schon nah, weil er so realistisch klingt und auch dramatisch, fast wie wenn man einen Film anschaut.
Es hat mich selten ein Mehrteiler hier so gepackt wie Deiner!
Gruß Sabine  
Sabine Müller  -  28.04.06 01:48

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Interessante Kommentare

Kommentar von "Simone Cyrus" zu "Zertreten"

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