Das bayrische Weihnachtsessen (Erste Weihnachtsgeschichte)   375   1

Erinnerungen · Kurzgeschichten · Winter/Weihnachten/Silvester

Von:    Michael Kuss      Mehr vom Autor?

Erstveröffentlichung: 22. September 2012
Bei Webstories eingestellt: 22. September 2012
Anzahl gesehen: 6558
Seiten: 9

Als Mutter überhaupt keinen Ausweg mehr sah, zogen wir gemeinsam los. Bis zur bayrischen Grenze trottete ich tapfer neben ihr her; dann packte sie mich auf den hölzernen Rodelschlitten und zog mich durch den Schnee, der pünktlich zu Weihnachten gefallen war, bis wir bei Einbruch der Dunkelheit die ersten Höfe und die Kirchturmspitze des Dorfes erkennen konnten. Durch die Kälte des mondklaren Abends kroch heimelig der Geruch des warmen Dungs aus den Viehställen zu uns herüber. Die unteren Fenster des Bauernhauses waren erleuchtet; drinnen konnten wir einen geschmückten Weihnachtsbaum und Menschen um einen robusten Tisch erkennen. An der Wand hing ein auffallend großes Bild mit einem christlichen Motiv, Jesus beim Abendmahl. „Die geben uns was zu essen!“ sagte Mutter erschöpft, aber voller Zuversicht. „Es ist Weihnachten! Und die Leute sind hier alle gut katholisch!“

*

Mittags hatte ich unser letztes Ei zerbrochen. Mutter hatte zu mir gesagt, wir haben noch etwas Mehl und mit dem Ei ergibt das einen gestreckten Teig und damit mehrere Eierpfannkuchen. Genug, um bis zum nächsten Tag zu kommen. Morgen würden wir dann weiter sehen …

Von der zerbombten Wohnung war nur noch ein Zimmer heil geblieben; darin schliefen, wohnten, kochten und aßen wir. Und manchmal empfing Mutter hier auch Onkel Tom für eine Stunde, während ich unterdessen nach unten zum Spielen gehen musste oder mich in den Trümmern der Nachbarschaft herumtrieb.

Durch eine Tür gelangten wir in ein zweites Zimmer, aber das war von einer Bombe weggerissen und hing nur noch zur Hälfte an der Mauer. Wir konnten es noch als Speisekammer und im Nachkriegswinter 1945 auch als Kühlraum nutzen, obwohl es meistens nichts gab, was wir dort hätten deponieren können. Nur Onkel Tom brachte bei seinen Besuchen oft ein Paket mit Bohnenkaffee, etwas Essbarem, zum Beispiel Cornedbeef und eine Stange amerikanische Zigaretten mit. Den Kaffee tauschte meine Mutter auf dem Schwarzmarkt – wir nannten das „fuggeln“ - gegen Petroleum oder ein paar Briketts oder gegen irgendetwas Brauchbarem, womit man in diesen Monaten nach dem Krieg überleben konnte. Onkel Toms Zigaretten waren Gold wert; damit konnten wir hinüber ins Bayrische reisen und bei den Bauern gegen Eier oder Geschlachtetem, jedenfalls gegen lebensnotwendige Nahrung eintauschen.

Aber Onkel Tom war schon über eine Woche nicht gekommen.
Seite 1 von 10       
Vielleicht war er bereits in Alabama bei seiner richtigen Familie. Angeblich schickte die amerikanische Armee die schwarzen Soldaten zurück in die USA. Die kämpfende Truppe, die nach dem Einmarsch oft aus Farbigen bestand, wurde nach und nach von frischen Soldaten ersetzt. Mutter sagte mit einem Seufzer, dann müssen wir uns eben einen neuen Onkel Tom suchen, anders weiß ich nicht, wie es weitergehen soll …

Mir war der pummelige Onkel Tom mit seinen lachenden und wulstig-dicken Lippen und dem schwarzen Kraushaar eigentlich ganz recht. Wenn ich bei seinen Besuchen für eine Stunde nach unten musste, grinste er mich breit an und gab mir regelmäßig einen Schokoladenriegel oder ein Päckchen Kaugummi, mit dem ich auf der Straße angeben und den anderen Kindern imponieren konnte. Das brachte mir zwar ein paar Neider und einige Nachbarfrauen tuschelten über uns: Mutter sei ein lockeres, unmoralisches Ami-Liebchen, eine gewissenlose Negerhure, sie hätte schon einen Anderen, wo doch noch gar nicht sicher sei, ob mein Vater noch aus dem Krieg heimkommen oder gefallen sein würde. Mutter war das Gerede anscheinend egal. „Die haben alle ihre eigenen Onkel Toms“, erklärte sie. „Kein Wunder, wo es keine Männer mehr gibt, - nichts fürs Herz und nichts für ’n Bauch, was soll unsereins also machen? Aufgeben und uns aufhängen?“ Nicht meine Mutter! Sie fand immer einen Ausweg! Darauf konnte ich bauen!

An diesem Nachmittag des Heiligabend hatte sie mich also in die ‚Speisekammer’ geschickt, um unser letztes Ei zu holen. Ich hob es aus der Nische zwischen den Trümmersteinen heraus, nahm es tollpatschig in die Hand und drückte mit dem Ei gleichzeitig die Türklinke nach unten. Die Flüssigkeit mischte sich mit der zerbrochenen Eierschale und verteilte sich glitschig auf dem Fußboden und in meiner kleinen Hand.

Ich heulte los.

Mutter nahm mich in ihre Arme. Aber nein, das ist doch kein Beinbruch, tröstete sie und streichelte mir beruhigend über die Haare. Dann schabte sie mit der Hand den klebrigen Rest vom Fußboden in eine Schüssel, suchte vereinzelt die Eierschalen heraus, gab Wasser und Mehl hinzu, goss den ganzen Brei in eine Pfanne ohne Fett, nahm zwei Eisenringe vom Herd, setzte die Pfanne auf die offene Flamme, und schließlich wurde doch noch so etwas wie ein pampiger Mehlpfannkuchen daraus, den wir irgendwie in unsere hungrigen Mägen bekamen.
Seite 2 von 10       


Das war gegen Mittag. Bis Eins hofften wir noch auf Onkel Tom. Dann nahm mich meine Mutter an die Hand und wir liefen ein paar Straßen bis zu den Kasernen, die am Stadtrand lagen und wo der Weg von zwielichtigen Bars gesäumt war. Die ‚Bars’ waren in den Hausruinen aus Brettern und Blech notdürftig zusammengezimmert worden und bildeten das Vergnügungsviertel für die US-Soldaten und ihre deutschen ‚Frolleins’.

In dieser Gegend lagen die meisten Zigarettenkippen auf der Straße herum, von den Soldaten nicht einmal halb geraucht und dann weggeworfen und die US-Boys wussten sehr wohl, dass sie dort nicht lange liegen blieben. ‚Kippenstecher’ lauerten an allen Straßenecken und bückten sich für jeden Tabakkrümel. Mit einem Stock, an dem unten ein Nagel befestigt war, stachen wir die Kippen, brachen das Papier auf und krümelten den Tabak in eine Blechdose. Eine alte, fast verrostete Blechdose war wertvoll wie eine Schatztruhe und wurde in Ehren gehütet.

„Unsere letzte Chance!“ sagte Mutter mit nüchterner Einschätzung. „Auf den Dörfern bekommen wir dafür noch was Essbares!“ Die Bauern auf der bayrischen Seite der Grenze waren mit Nahrung gut bestückt und ohne Hunger über den Krieg gekommen. Jetzt nahmen sie alles, was man in diesen Monaten gebrauchen, aber auf dem Land nicht finden konnte: Nägel, Werkzeug, Pelze, Tabak, Schokolade, Schmuck. Die ausgehungerten Städter brachten ihnen alles, was nicht niet- und nagelfest war, für ein paar Eier, ein paar Kartoffel, mit etwas Glück auch für ein Stückchen Speck. Aber Mutter hatte ihren bescheidenen Vorkriegsschmuck und ihr Pelzjäckchen aus Hasenfellen längst versetzt; Onkel Toms Zigaretten fehlten jetzt, und es blieb uns nur die Blechdose mit dem popeligen Kippentabak.

So waren wir mit dem Schlitten losgezogen und standen nun vor dem Bauernhaus mit dem Weihnachtsbaum im erleuchteten Wohnzimmer. Zaghaft klopfte Mutter an die Tür. Der älteste der Männer stand auf, stapfte zur Tür und öffnete.

„Guten Abend!“ sagte meine Mutter und deutete eine devote Haltung an. Ich machte einen artigen Diener, wie Mutter es mir für solche Situationen beigebracht hatte.
Seite 3 von 10       
Hunger und Not kennen keine Peinlichkeiten.

„Grüß Gott!“ Der Mann schaute meine Mutter fragend an und dann abschätzend auf mich herunter. Sein Gesicht sah alt und verarbeitet aus, aber seine Augen hatten für mich so etwas wie verstecktes Wohlwollen übrig. Er schien die Situation erkannt zu haben. Solche Besuche waren in diesen Monaten nicht selten. Nur die Stunde war wohl etwas ungewöhnlich.

„Else!“ rief der Mann in die Stube hinein. „Komm einmal her! Eine Frau mit einem Kind steht draußen. Kümmere dich mal um die Angelegenheit!“

Die Bäuerin trug ein geblümtes Festtagskleid, das an den Armen mit Rüschen abgesetzt war. Der keusche Ausschnitt ließ einen faltigen Hals erkennen, an dem ein kleines Jesuskreuz an einer dünnen Kette hing. Ihr angegrautes Haar war streng nach hinten gekämmt und zu einem Knoten geknüpft. Eine schmale Nase und asketisch eingefallene Backenknochen standen über einem Mund mit dünnen Lippen. Nur das geblümte Kleid machte die Bäuerin freundlicher.

„Jaa?!“ sagte sie gedehnt.

„Wir wollten fragen …“, stotterte Mutter. „Weil doch Heiligabend ist, und wir …“. Noch immer fiel es ihr schwer, obwohl es nicht unsere erste Hamsterfahrt war.

„Ihr wollt also betteln?!“ stellte die Bäuerin halb fragend fest. „Was zu essen wollts?“ Mutter nickte und ich nickte schüchtern mit. Ich kippte vor Hunger fast von den Beinen und Mutter wird es nicht anders ergangen sein. „Wir sind über zwanzig Kilometer gelaufen“, versuchte Mutter zu erklären. „Wir haben seit gestern nichts …“

„Wo kommts denn her?“ unterbrach der Bauer aus dem Hintergrund.

„Aus dem Hessischen!“ antwortete Mutter und fügte hinzu, als würde sie hoffen, dass es hilft: „Wir sind ausgebombt …!“ Das war zwar zur Hälfte gelogen, immerhin hatten wir noch eine Ruine als Wohnung und ein Loch zum unterkriechen und lebten nicht wie viele Nachbarn in totalen Trümmerkellern zwischen Leichengestank und Ratten, aber in den vergangenen Monaten hatte diese barmherzige Notlüge auf den bayrischen Dörfern schon ein paar Herzen geöffnet und unsere Bäuche für ein paar Stunden gefüllt.

„Das behaupten alle!“ sagte die Bäuerin. Ihre Stimme klang hart und abweisend, dass ich befürchtete, hier wird’s nichts mit dem Essen.
Seite 4 von 10       
Aber vielleicht gibt’s wenigstens einen Kanten Brot und wenn wir Glück haben sogar ein Stück Blutwurst und für ein paar Minuten die Kälte aus den Kleidern schütteln. Ich schwelgte in dem Gedanken an einen Kanten Brot und ein Stück Blutwurst aus der Hausschlachtung. Eine unermessliche Delikatesse …!

„Nun pack’ ihnen schon was zum Essen ein!“ rief der Bauer aus dem Hintergrund. „Schließlich ist Heiligabend!“ Seine Stimme hatte ungeduldig und leicht befehlend geklungen. Ich bemerkte, wie sich das harte Gesicht der Frau veränderte und sie, wohl mürrisch und verärgert über die männliche Einmischung, klein beizugeben schien.

Aber sie setzte noch einmal nach und fragte: „Habt ihr wenigstens was zum Tauschen bei euch?“ Sie zeigte auf den leeren Sack, der auf dem Schlitten lag und eigentlich dafür gedacht war, ein paar Kartoffel oder noch größere Schätze, vielleicht Brennholz oder sogar ein Hühnchen nach Hause zu schaffen, wenn es denn greifbar sein würde.

„Wir haben etwas Tabak!“ sagte Mutter. „Amerikanischen!“

„Kippentabak?!“ sagte die Bäuerin abfällig. „Aufgelesene Amikippen!“ Verächtlich verzogen sich ihre Mundwinkel.

„Und wenn schon!“ sagte der Mann. „Zeigense mal her!“ Er ging an seiner Frau vorbei auf Mutter zu und streckte die Hand aus. Mutter fummelte unter ihrem abgeschabten Mantel die alte Blechbüchse heraus und reichte dem Mann den Tabak.

„Viel ist es nicht!“ brummelte der Mann und roch daran.

„Nächste Woche kann ich Ihnen mehr bringen! Auch richtige amerikanische Zigaretten!“ versuchte Mutter zu versichern. „Es ist nur…“

„Na gut! Warten Sie draußen!“ sagte die Bäuerin. „Ich mache euch etwas Essen zurecht…!“ Mit ausgebreitenden Armen dirigierte sie uns zur Tür, als würde sie Gänse über den Hof treiben.

„Du wirst sie doch nicht draußen warten lassen!“ sagte der Bauer. „Heute an Weihnachten! Und bei dieser Kälte!“ Offensichtlich hatte er wieder das Kommando übernommen. „Kommt rein in die Stube! Dort drüben könnt ihr euch in die Ecke setzen, die Bäuerin packt euch was ein …!“ Er gab seiner Frau ein Zeichen und sagte, auf uns deutend: „Schließlich sind das doch auch Christenmenschen! Oder?“

„Hoffentlich sinds Christenmenschen!“ sagte die Frau und ging sichtbar mürrisch in die Küche.
Seite 5 von 10       
Der Mann wandte sich meiner Mutter zu. „Sie müssen entschuldigen, junges Frauchen...“ Er schaute Mutter eigenartig an; wahrscheinlich gefiel sie ihm. Mutter war noch keine Dreißig und für mich die schönste Frau der Welt. Sie rangierte bei mir sogar vor Rita Hayworth, deren Foto Onkel Tom mir gezeigt hatte. Aber an Mutter kam keine Filmdiva heran, nicht einmal eine amerikanische.

Der Bauer begann zu erklären, als wollte er sich für seine Frau entschuldigen: „Seit dem Zusammenbruch geht das hier fast jeden Tag so. Seit Monaten ziehen die Städter schon übers Land und angeblich besitzen sie alle nicht mehr als das nackte Leben. Aber keiner will Schuld gehabt haben! Keiner hat diesem Herrn Hitler zugejubelt! Aber jetzt sollen wir Bauern den Karren aus dem Dreck ziehen! Wir können nicht ganz Großdeutschland durchfüttern!“ Seine Stimme hob sich vorwurfsvoll. „Und nun kommen auch noch die Flüchtlinge aus den Ostgebieten scharenweise und werden bei uns zwangsweise einquartiert!“ Er machte eine Pause, dann sagte er, den Kopf zu den anderen am Tisch gewandt, als suche er dort Zustimmung: „Aber schließlich sind wir ja Christenmenschen! Oder?“

„Wir sind Ihnen auch sehr dankbar!“ versicherte Mutter eifrig und ohne Stolz. Schüchtern setzte sie sich auf den Stuhl in der Ecke. Schutz suchend blieb ich dicht neben ihr stehen und verkrampfte meine Hand in ihrer Schulter.

Am großen Tisch saßen fünf oder sechs Menschen, augenscheinlich zwischen sechs und dreißig Jahren. Darunter eine junge Frau, etwas jünger wie meine Mutter. „Aber Vater!“ rief die junge Frau. „Warum können sie denn nicht mit uns am Tisch essen? Es ist doch genug da! Und es ist Weihnachten!“ Ihre Stimme, die zuerst schüchtern geklungen hatte, wurde fester und mutiger.

„Frag’ die Mutter!“ antwortete der Mann und deutete auf die Küchentür, wo seine Frau an der Speisekammer herumhantiert hatte. Sie kam jetzt in den großen Wohnraum zurück, in der Hand ein in Zeitungspapier gewickeltes Bündel.

„Wenns gute Christenmenschen sind" sagte sie, "Na schön, dann sollens halt am Tisch Platz nehmen!“

„Natürlich sinds Christenmenschen!“ Der Mann schaute meine Mutter fragend und zugleich aufmunternd an, als hoffe er inständig, dass sie unser Christentum bestätigt.
Seite 6 von 10       


„Ja!“ sagte Mutter nervös und eine Spur zu laut. "Wir sind getauft!"

„Katholisch oder damische Protestanten?“ fragte die Bäuerin.

„Evangelisch!“ gab meine Mutter kleinlaut zu.

Für eine Sekunde wurde das Gesicht der Bäuerin wieder zur undurchdringlichen Maske. Dann gab sie sich einen Ruck und sagte: „Na schön, jeder kann im Leben mal einen Fehler machen! Unser gütiger Herrgott wird`s ihnen vergeben!“

Sie stellte noch zwei Stühle an den Tisch und sagte: „Dann will ich mal die Suppen holen!“ Sie schleppte eine große weiße Terrine herein, stellte sie auf den Tisch und als sie den verzierten Deckel mit dem Schwanenhals hob, duftete und dampfte es und darin schwammen Gemüse- und Fleischstücke und Fettaugen und ich dachte, so muss das im Paradies gewesen sein, oder im Schlaraffenland, und ich nahm mir vor, in Zukunft endlich in die Kirche zu gehen, fromm zu werden, vielleicht sogar katholisch und beten zu lernen.

Die Teller wurden gehoben und der Bauer griff zur Schöpfkelle. Als alle ihre Teller mit der dampfenden Suppe vor sich stehen hatten, blickten wir abwartend auf die Bäuerin. „Wir wollen jetzt beten und dem Herrn danken!“ sagte die Frau und schaute Mutter und mich erwartungsvoll an. „Da wir heute Abend zwei verirrte und verlorene Schafe unter uns haben, die dennoch Christenmenschen sind, so wird uns der Kleine“ - sie deutete auf mich - „der Kleine das Weihnachts- und Dankesgebet sprechen!“

Schock und Verlegenheit standen in der Luft. Wo war das rettende Loch im Fußboden, in das ich hätte kriechen können? Hitze und Röte schossen mir in den Kopf. Ich stierte auf die Suppe, dann Hilfe suchend auf meine Mutter und schließlich unter den Tisch.

„Also, mein Kleiner!“ sagte die Frau und sah mich mit provozierender Erwartung an. Dann sagte sie mit scharfer Stimme: „Kann er nicht, oder will er nicht, der Balg?!“

Beschämt wollte ich immer tiefer im Boden versinken und sah die Aussicht auf Suppe und Weihnachtsbraten schwinden. Angst und Schuld hatten meinen Hals geschnürt.
Seite 7 von 10       
Ich kannte kein Weihnachts- oder Dankesgebet, aber ich spürte, dieses Gebet war der seidene Faden, an dem in dieser Nacht alles hing. Mir war nicht einmal irgendeine religiöse Zeremonie geläufig. Beschämt ließ ich den Kopf hängen.

Während der vergangenen Jahre hatten wir anderes zu tun, als mit den Knien über Kirchenbänke zu rutschen und einen Gott zu lobpreisen, der die Nazis und ihren Krieg und unser Elend zugelassen hatte, lobhudeln einer Kirche, die alle Soldaten dieser Welt und alle Waffen segnet, mit denen die Menschen in den Hunger, in Angst und Abhängigkeit getrieben werden. Doch diese Gedanken und Erkenntnisse kamen mir erst viele Jahre später. Aber sie kamen.

Im letzten Kriegsjahr hatten wir uns vor den Bomben außerhalb der Stadt im Steinbruch verkrochen, in Höhlen und im Wald geschlafen, wir hatten Hunde geschlachtet, gebraten und gegessen, mit triefenden Fingern in den hungrigen Mund geschoben, hatten Kohlen von fahrenden Güterzügen geklaut und auf das Ende des Krieges gewartet, immer mit dem Feind und seiner Rache rechnend, bis dann eines Tages Onkel Tom mit einer Maschinenpistole im Anschlag in unserer Trümmerwohnung auftauchte, meine Mutter anstarrte und fragend rief: „Du Nazi?“

Mutter stand das Entsetzen im Gesicht. Sie reichte dem Fremden mit dem schwarzen Gesicht und den wulstigen Lippen unser letztes Glas mit eingemachten Kirschen, hier nimm, aber lass mich und mein Kind in Frieden, wir sind keine Nazis, wir haben niemanden etwas getan, wir wollen doch nur überleben!

Dann schob Onkel Tom das Einmachglas mit den Kirschen zur Seite, grinste herzhaft mit seinem breiten Schokoladengesicht, seine schwarzen Kulleraugen begannen zu leuchten und er holte aus seiner Uniformtasche die erste Tafel Schokolade meines Lebens und gab sie mir und meine Mutter schaute ihn dankbar an. Seitdem kam Onkel Tom regelmäßig, bis letzte Woche. Wo und weshalb also hätte ich Gebete lernen, und wem hätte ich danken sollen außer meiner Mutter und diesem Onkel Tom?

Mutter sah den Bauersleuten abwechselnd ins Gesicht und stotterte entschuldigend: „Wir sind es nicht gewohnt…, ich meine, der Krieg in der Stadt, sogar unsere Kirche ist zerbombt…“ Mutter verhedderte sich mit jedem Wort mehr.

Die Bäuerin war spontan aufgestanden; ihr verhärmtes Gesicht war noch abweisender geworden und ihre Augen hatten etwas Missionarisches, etwas Strafendes bekommen.
Seite 8 von 10       
Sie kam um den Tisch herum, hob entschlossen unsere Teller hoch, goss die Suppe in die Terrine zurück und sagte: „Am Tisch des Herrn essen nur Christenmenschen!“

„Aber Mutter …!“ sagte die junge Frau, die vorhin den Anstoß gegeben hatte, uns an den Tisch einzuladen. Doch durch den Blick ihrer Mutter verstummte sie und senkte die Augen. Auch alle anderen schwiegen und schauten betreten auf den Tisch. Nur der Bauer sagte, zu meiner Mutter gewandt: „Nun schauen Sie mal, was Sie angerichtet haben, junges Frauchen! Es ist Weihnachten, und Sie haben Unfrieden in meine Familie gesät. Und das am Heiligabend!“ Dann bekreuzigte er sich und schaute auf das kleine Muttergottesbild mit dem Heiligenschein, das neben dem großen Abendmahl an der Wand hing und den ganzen Raum zu beherrschen schien.

Mutter war aufgestanden, hatte ihre Hand ausgestreckt und entschlossen „Komm!“ zu mir gesagt. Ich griff zu, hielt mich an ihrer Hand fest wie an einem Rettungsring und folgte ihr nach draußen.

Als wir, den Schlitten hinter uns herziehend, den dunklen Hof verließen, huschte aus einer Nebentür plötzlich eine Gestalt, mit einer Jacke vermummt und in ihren Händen ein Paket und eine Decke. „Kommen Sie!“ flüsterte die junge Frau von vorhin und gab Mutter das Paket und die Decke. Sie tuschelte und sah ängstlich zum Wohngebäude hinüber.

Wir schlichen ihr nach. Leise und behutsam öffnete sie eine Stalltür, drinnen grunzten Schweine. „Hier!“ Im fahlen Mondlicht deutete sie auf eine Box, in der saubere Strohballen lagen. „Sie können hier schlafen! Aber Sie müssen leise sein! Und nicht rauchen! Ich komme morgen früh um Sechs zum Füttern, da ist es noch dunkel und Sie müssen dann weg! Versprechen Sie mir das?!“ Sie legte noch einmal den Finger auf den Mund und huschte hinaus.

Mutter verteilte das Stroh mit der gleichen Ruhe und Sorgfalt, wie sie auch zu Hause mein Bett machte, und legte ihren Mantel darüber. Dann packte sie das Paket aus. Eine Blechflasche mit Milch, zwei Kanten Brot, gekochte Eier, hausgemachte Leber- und Blutwurst, herzhaft nach Gewürzen duftend, und vier Winteräpfel, deren Schale so rosig und verhutzelt war wie das Gesicht meiner Großmutter, die den Bombenangriff nicht überstanden hatte.
Seite 9 von 10       
Vom Mondlicht beschienen lag ein Festtagsschmaus vor uns im Stroh!

Als wir satt waren, verpackte Mutter sorgfältig den Rest. Dann kuschelten wir uns unter die Decke. Die Ausdünstungen der Tiere und die Nähe meiner Mutter gaben zusätzlich wohlige Wärme und Geborgenheit. Mit dem gleichmäßigen Grunzen der Schweine schlief ich schließlich ein, während Mutter beschützend ihren Arm um mich gelegt hatte und noch lange wachte …

*
Seite 10 von 10       
Punktestand der Geschichte:   375   1
Dir hat die Geschichte gefallen? Unterstütze diese Story auf Webstories:      Wozu?
  Weitere Optionen stehen dir hier als angemeldeter Benutzer zur Verfügung.
Ich möchte diese Geschichte auf anderen Netzwerken bekannt machen (Social Bookmark's):
      Was ist das alles?

Kommentare zur Story:

  Hallo, Michael - DAS ist mal eine Weihnachtsgeschichte nach meinem Geschmack: Authentisch und Brandaktuell! Hoffentlich erinnern sich viele daran, wie hungrig sie einmal körperlich, seelisch und geistig waren - jetzt, wo viele Menschen aus dem Ausland in gleichen Nöten zu uns ins Land kommen.
Meine Erfahrung in der Seniorenarbeit: Das Friede-Freude-Eierkuchen-Fest zelebriert das Personal so. Die meisten Senioren wären froh, wenn sie menschliche Zuwendung, einen Gesprächspartner oder wertschätzenden Zuhörer hätten: O weh, du Fröhliche!  
   Gringa  -  17.11.13 10:24

   Zustimmungen: 0     Zustimmen

  Ein Erfahrungsbericht über Lesungen in Seniorenclubs, die mich erstaunt und überrascht haben: Ich lese diese "kritischen bis bissigen" Weihnachtsgeschichten häufig in Seniorenclubs und war anfänglich der Meinung, die Senioren wollten lieber "brave Eierkuchen-Weihnachtsgeschichten vom lieben Christkind" hören, weil sie mit "kritischen" Geschichten nichts oder wenig anfangen können und sie nicht ihrem Taum von der heilen Welt entsprechen. Aber überraschender Weise sind die "älteren Leutchen" sehr aufgeschlossen und diskussionsfreudiger gegenüber kritischen Geschichten.  
   Michael Kuss  -  23.09.12 19:43

   Zustimmungen: 0     Zustimmen

  Ich schließe mich an. Dramatisch und sehr, sehr gut.  
   Gerald W.  -  23.09.12 19:34

   Zustimmungen: 0     Zustimmen

  Ich bin hellauf begeistert. Wirklich lesenswert, weil spitze geschrieben. Selten eine so gute Weihnachtsgeschichte gelesen.  
   doska  -  23.09.12 14:46

   Zustimmungen: 0     Zustimmen

Stories finden

   Hörbücher  

   Stichworte suchen:

Freunde Online

Leider noch in Arbeit.

Hier siehst du demnächst, wenn Freunde von dir Online sind.

Interessante Kommentare

Kommentar von "Simone Cyrus" zu "Zertreten"

hi rosmarin! da du dich ja schon vorab für meinen kommentar bedankt hast ;-), nicht wahr, lass ich hier jetzt auch mal meinen senf ab. wie kommt es eigentlich, dass du uns immer verwechselst? ...

Zur Story  

Aktuell gelesen

  In Arbeit

Funktion zur Zeit noch inaktiv. Über ein Konzept zur sicheren und möglichst Bandbreite schonenden Speicherung von aktuell gelesenen Geschichten und Bewertungen, etc. machen die Entwickler sich zur Zeit noch Gedanken.

Tag Cloud

  In Arbeit

Funktion zur Zeit noch inaktiv. In der Tag Cloud wollen wir verschiedene Suchbegriffe, Kategorien und ähnliches vereinen, die euch dann direkt auf eine Geschichte Rubrik, etc. von Webstories weiterleiten.

Dein Webstories

Noch nicht registriert?

Jetzt Registrieren  

Webstories zu Gast

Du kannst unsere Profile bei Google+ und Facebook bewerten:

Letzte Kommentare

Kommentar von "rosmarin" zu "Die Belfast Mission - Kapitel 02"

Eine höchst interessante Geschichte. Und ganz toll geschrieben. Ich bin gespannt, wie es weiter geht. Gruß von

Zur Story  

Letzte Forenbeiträge

Beitrag von "Tlonk" im Thread "Account nicht erreichbar"

klappt ja dann auch!

Zum Beitrag