Kurzgeschichten · Nachdenkliches

Von:    Geminus      Mehr vom Autor?

Erstveröffentlichung: 4. Juni 2011
Bei Webstories eingestellt: 4. Juni 2011
Anzahl gesehen: 2489
Seiten: 4

Nachdem der Donner mir fast das Trommelfell zerrissen hat, dringt nun der aufgewirbelte Staub ätzend in Mund, Nase und Augenlider. Wie Puderzucker bedeckt er meinen dunklen Mantel, den ich wegen der eisigen Kälte eng um mich gezogen habe. Sehr schnell ist es gegangen, ganz anders, als es in den Reportagen im Fernsehen gezeigt wird.



Mit dem Zünden des Dynamits waren an mehren Stellen des alten Turmes kleine Lichtblitze zu sehen. Steine waren durch die Kraft der Explosion aus ihrem Verbund gerissen worden und hatten ihm seine Stabilität genommen. Zuerst sah es aus, als würde er widerstehen. Er zitterte nur ein wenig, neigte sich dann aber langsam und bedächtig zur Seite. Er starb, wie er gelebt hatte, mächtig und voller Würde. Viele Jahrzehnte hatte er das Bild unserer Stadt geprägt, war Symbol von Wachstum und Wohlstand. Nun erinnert nur noch ein rauchender Haufen Schutt an seine über vierzigjährige Existenz. Dies ist ein Begräbnis ohne Pfarrer, Kränze oder Blumen. Die Wenigen, die gekommen sind, wenden sich aufregenderen Dingen zu, für sie hatte der Turm keine Bedeutung. Für mich war er ein Freund, mehr noch ein Eingeweihter, ein Mitverschwörer. Hatte er doch ein Geheimnis bewahrt, das ich seit seinem Bau im Herbst 1952 mit ihm teilte. Damals war ich an seiner Entstehung mitbeteiligt.



Ich musste mir mein Studium mit Hilfsarbeiten auf dem Bau verdienen. Hier lernte ich Klara kennen. Klara war die Tochter meines Poliers. Hennes wurde er damals genannt. In Wirklichkeit hieß er Hans Keller, war um die Vierzig und hatte schon damals Gicht in den Knochen. Klara, auch nach 40 Jahren scheint dein helles Lachen noch vom Wind mitgenommen und zu mir herüber getragen zu werden. Siebzehn bescheidene Jahre und einen Glanz in den Augen, der soviel Lebensfreude widerspiegelte, dass mir ganz schwindelig wurde. Sie war nur eins-sechzig groß, hatte nussbraune, toupierte Haare, wie es zu jener Zeit Mode war, und dunkelbraune, fast schwarze Augen. Ihre Fingernägel waren rot lackiert, wenn wir uns sahen. Die erste Liebe traf mich wie ein Blitz aus heiterem Himmel und alle späteren Beziehungen erreichten nie wieder eine derart tiefe Verunsicherung und Bindung. Wir trafen uns heimlich, die Tochter des Poliers Hans Keller und der Student Rainer Hoffmann. Zuerst verabredeten wir uns im Stadtpark. Schnell wurde uns jedoch klar, dass es hier zu viele Menschen gab die mich oder Klara kannten.
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Warum niemand von unserer Freundschaft wissen sollte, kann ich nicht begründen, ich glaube das diese erste Liebe viel zu persönlich war, als das Andere daran oder auch nur davon wissen sollten. Wir kamen schnell auf einen viel besseren Treffpunkt, die Baustelle neuer Wasserturm. Hier kannte ich alle Winkel und Verstecke.



An den Wochenenden ruhten die Arbeiten und ein Loch im Bauzaun war schnell geschnitten. Das war unser ideales Versteck. Wir trafen uns jeden Samstag und Sonntag hinter der Baubude ihres Vaters, was wir ganz besonders komisch fanden. Klara und ich kamen uns vor wie im Mittelalter und betrachteten den Turm wie unsere Burg. Hin und wieder brachten wir alte Klamotten mit und verkleideten uns. Klara beherrschte perfekt die Kunst der Verwandlung und überraschte mich immer aufs Neue mit dieser wunderbaren Eigenschaft. Der Zeit der fast kindlichen Spiele folgte die Zeit der Träume und Enddeckungen. Wir entwarfen unsere Wunschwelten und schwelgten in naiven Gedanken. Auch entdeckten wir nach und nach den Körper des Anderen. Dennoch dauerte es viele Wochen, bis ich Klara an mich zog und sie zum ersten Mal küsste. Die Sinnlichkeit ihre Hand zu streicheln, das Lachen in ihren Augen zu betrachten, all das Wenige, das doch tief ins Herz traf. Wir schliefen nie miteinander, aber das Gefühl, das erste Mal ihren Busen zu berühren, war elektrisierender als ein Stromschlag.



Der Bau des Wasserturms zog sich noch über den ganzen Herbst hin. Ende August sollte Richtfest gefeiert werden. In dieser Woche wurde schon am Donnerstagnachmittag nicht mehr gearbeitet, so dass wir uns am Abend trafen. Klara hatte ihr kurzes geblümtes Kleid an. Die obersten Knöpfe hatte sie, kurz bevor sie den Bauzaun erreichte, aufgeknöpft, so dass ich, wenn sie sich zu mir herabbeugte, ihre Brüste sehen konnte. Sie war an diesem Nachmittag aufgeregter und anziehender als je zuvor und redete ununterbrochen von sich, von uns und ihren Träumen und Hoffnungen. Sie küsste mich und mir fiel auf, dass sie etwas getrunken hatte. Klara wirkte leicht euphorisch und als sie die Holzleiter zur ersten Plattform des Turms hinauf stieg und mir ein Zeichen gab, dass ich ihr folgen sollte, konnte ich erkennen, dass sie nichts unter ihrem Kleid trug. Bevor ich wieder klar im Kopf wurde, sah ich sie den Aufstieg zur zweiten Plattform nehmen.
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Viel zu langsam durchdrang mein hormongeschwängertes Gehirn die Erinnerung an etwas, das ihr Vater mir heute Morgen noch eingehämmert hatte. Die Haltebolzen der zweiten Plattform waren zum größten Teil schon entfernt worden. Nur ein kleines Übergangsstück hinter der Leiter war für die Arbeiter, die mit den Demontagearbeiten beschäftigt waren, gesichert worden. Bevor ich Klara jedoch warnen konnte, hörte ich einen kurzen Schrei und den nachfolgenden dumpfen Schlag, mit dem ihr schlanker Körper auf den Beton traf. Danach folgte bleierne Stille.



Ich war starr und völlig benommen vor Angst. Meine Beine zitterten so stark, dass ich die Tritte der Holzleiter verfehlte und beinahe ebenfalls hinab gestürzt wäre. Sicher hatte es nur wenige Sekunden gedauert, bis ich bei ihr war, aber die Zeit schien für mich endlos. Da lag sie und schien zu schlafen. Mir war, als hätte sie sich nur hingelegt um mit ihren dunklen Augen den Himmel zu betrachten. Ich nahm ihren Kopf in meine Hände und hoffte, in ihren Augen einen Funken von Erkennen zu entdecken. Ihre Wangen waren warm, ihre Lippen rot und schmeckten wie immer. Nur erwiderte sie meinen Kuss nicht. Ihre Haare, die blaue Spange, mit der sie sie in den Nacken gebunden hatte, alles wirkte so lebendig. Komm, steh auf, lass uns tanzen! Der Mond leuchtet heute nur für uns! Ich schlang meine Arme um ihren Oberkörper und zog sie zu mir auf den Schoß. So saßen wir da Stunde um Stunde, während ich erzählte. Die Tränen, die mir die Wangen herunter liefen, vermischten sich mit dem Blut, das sich unter ihr gesammelt hatte, und bildeten eine rosa Lache. Ich sprach von all den Dingen, die wir noch vor uns hatten, lauter irren Kram, verrücktes Zeug. Längst war es Nacht geworden und der Körper in meinen Armen erkaltete. Den Gedanken, mich von ihr zu trennen, schob ich immer weiter vor mir her. Hier am Wasserturm, hatte ich die bisher glücklichsten Stunden meines Lebens verbracht, hier wollte ich bei ihr sein.



Gegen Mitternacht begann ich zu frieren und neben dem Schmerz schlich sich ein Gefühl von alles verdrängender Angst in meine Gedanken. Würde man mir glauben, dass es ein Unglück gewesen war? Lange Jahre, Nacht für Nacht wachte ich auf, durchlebte voll von Schmerz diese wenigen Stunden und fragte mich, ob meine Entscheidung richtig war.
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Heute würde ich vielleicht anders handeln, aber in dieser hellen Mondnacht vor vierzig Jahren entschied ich aus reiner Verzweiflung. Behutsam legte ich Klaras Körper auf meine Jacke und machte mich roboterhaft an die Arbeit. Gegen Mittag hatte man begonnen eine Verschalung auszugießen, der Beton musste noch weich sein, so dass ich Teile davon entfernen konnte. Nach einer Stunde Arbeit hatte ich ein so großes Stück beseitigt, dass Klaras Körper in die entstandene Öffnung passte. Vorsichtig umfasste ich ihre Hüften und trug sie zu ihrer letzten Ruhestätte. Sie saß wie eine griechische Göttin in der vom Mondlicht schwach ausgeleuchteten Grube. Der benötigte Beton war schnell gemischt und nach und nach verschwand Klara hinter einer Schicht aus Sand und Steinen. Nachdem ich die Spuren unserer Anwesenheit beseitigt hatte, schlich ich todmüde zurück in mein Studentenwohnheim.



Die Untersuchungen über das rätselhafte Verschwinden Klaras zogen sich mehrere Wochen hin. Auch ich wurde befragt, aber der Beamte legte wenig Enthusiasmus an den Tag, so dass mein erfundenes Alibi nie auf den Prüfstein gelegt wurde. Ich arbeitete noch vier Monate auf der Baustelle, wo ich mich immer ganz in der Nähe von Klara fühlen konnte. Mein Studium als Wasserbauingenieur schloss ich wenige Jahre später ab. Ich habe mich dann beim Bauamt des Kreises beworben und mit Glück und Beziehungen den Posten erhalten. Auch der Wasserturm gehörte zu meinem Kontrollbereich. Wann immer es mir die Zeit erlaubte, besuchte ich Klara. Ans Mauerwerk gelehnt, hielt ich Zwiesprache und teilte mit ihr meine Träume und Sorgen. Später wurde ich in einen anderen Bezirk versetzt und als Brigitte in mein Leben trat, wurden die Besuche am Wasserturm immer seltener. Es vergingen dann einige Jahre, ohne das ich Klara besuchte. Erst die Meldung im Rheinkurier, dass der alte Wasserturm gesprengt werden sollte, brachte sie zurück in mein Leben.



Der letzte Rauch hat sich aufgelöst, der Staub sich gelegt. Die Rose, die ich mitgebracht habe, lege ich hier ins Gras für dich, Klara. Ich werde dich vermissen, Wasserturm, doch langsam wird mir klar, dass die Zeit uns beide längst eingeholt hat.
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Kommentare zur Story:

  Diese Geschichte hätte sicher ein nachvollziehbares und befriedigendes Ende zugelassen. Aber Ausnahmesituationen und Ängste lassen Menschen irrationale, unlogische Entscheidungen treffen. So sympathisch der Protagonist vielleicht wirkt, er hat letztendlich zu keiner Zeit den Mut besessen, zu seiner Liebe zu stehen. Das war die ganze Aussage der Story.  
   Geminus  -  07.06.11 09:27

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  Trotz tollem Schreibstils empfinde ich persönlich diese Kurzgeschichte als nicht so gut gelungen wie deine vorherigen. Weil ich sie nicht als besonders lebensecht erachten kann. Wenn jemand abstürzt holt man doch Hilfe, würde ich sagen. Auch wenn er zu Tode gekommen ist, würde man das tun, denke ich mal. Gelesen hat es sich wie immer fließend und gut.  
   Gerald W.  -  06.06.11 21:33

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  Eine traurige Kurzgeschichte. Aber der arme Vater, der sich dann gewiss Sorgen um seine verschollene Tochter gemacht hat.  
   Else08  -  05.06.11 20:44

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Interessante Kommentare

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