Nachdenkliches · Kurzgeschichten · Experimentelles

Von:    Siebensteins Traum      Mehr vom Autor?

Erstveröffentlichung: 19. September 2010
Bei Webstories eingestellt: 19. September 2010
Anzahl gesehen: 3279
Seiten: 4

Die Kutschen rumpeln lärmend über die holprigen Straßen und die Pferde lassen einfach so ihre Äpfel auf eben diesen fallen. Er geht gerade am großen Marktplatz vorbei, wo die Leute kreuz und quer umherwuseln und die Verkäufer rege damit beschäftigt sind, ihre Waren unter das Volk zu bringen: ein Blumenhändler preist lauthals seine Blumen an und ein Bäcker tut dies ebenfalls mit seinen Backwaren. An anderer Stelle protzt ein Metzger mit der angeblich hohen Qualität seiner Fleischwaren und wieder woanders wird vermeintlich frischer Fisch unter die Leute gebracht. Es ist laut, schmutzig, aber dennoch für das einfache Volk stets auch interessant. Es stellt eine kleine Abwechslung vom meist doch sehr harten Alltag dar. Denn der wöchentliche Markt ist eine Art Spektakel für den kleinen Mann, ja fast schon ein kleines Fest. Und die Hauptattraktionen dabei sind die Verkäufer, die möglichst unterhaltsam und auf eine Art und Weise, wie es auch das einfache Volk verstehen kann, ihre Waren für den alltäglichen oder den speziellen Gebrauch anbieten.

Er geht an dem Markt achtlos vorbei, denn dieser soll heute nicht sein Ziel sein. Sein heutiges Ziel ist ein paar Straßen weiter in einer kleinen, fast unscheinbaren Gasse, wo ein Fremder von außerhalb wohl niemals etwas Besonderes vermuten würde.

Nachdem er die enge Gasse erreicht hat, stellt sich ihm plötzlich eine Frau in den Weg, eine Frau mit recht eindeutigen Absichten. Sie ist, ihrer Zunft gemäß, für diese Stadt doch sehr typisch angezogen: sehr barock, also einfach viel zu viel von allem. Zu anderer Stunde wäre er dem Angebot dieser offensichtlichen Hure sicherlich alles andere als abgeneigt. Zu dieser Stunde jedoch tritt er mit einem anderen Vorwand in diese abgelegene und von den meisten Menschen dieser Stadt eher gemiedene Gasse, weshalb er der leichten Dame mit einer subtilen Geste zu verstehen gibt, dass zumindest für den Moment nichts aus ihrem verlockenden Angebot werden wird.

Diese zuckt daraufhin mit ihren Schultern und gibt gleichzeitig einen tiefen Seufzer von sich, der zu signalisieren scheint: „Wie Du meinst. Aber wenn Du wüsstest, was Dir dadurch entgeht, würdest Du es Dir sicherlich noch einmal anders überlegen.“ Daraufhin gibt sie dann aber, wenn auch etwas zögerlich, den Weg frei.

Zielstrebig geht er an ihr vorüber hin zu dem einzigen Lokal in dieser Gasse.
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Dort angekommen nimmt er höflich seinen Zylinder von seinem Haupt und tritt durch die gotisch verzierte Türe ein. Das Lokal ist sehr klein und macht immer, selbst jetzt, als außer ihm und dem Wirt keine einzige Seele darin zu finden ist, einen irgendwie verrauchten Eindruck. An einer der Wände hängt ein Bild, sehr wahrscheinlich von einem unbekannten Künstler, das irgendwelche schwer arbeitenden Menschen zeigt. Sie sind sehr schmutzig und schauen mit einem Blick drein, aus dem eine Mischung aus Verzweiflung, Traurigkeit und Hoffnungslosigkeit zu schimmern scheint. Insgesamt herrscht in diesem kleinen Lokal eine Atmosphäre der Melancholie, Bohème, Leichtigkeit und gleichzeitig auch Schwermüdigkeit. Demnach eine ideale Umgebung, um sich der bevorzugten Hure seiner Zeit, manche sagen auch Schutzpatronin des Vergessens zu ihr, hinzugeben.

Der Wirt kennt diesen für sein Lokal doch recht ungewöhnlich feinen Stammgast mit seinen ganz speziellen Vorlieben nur allzu gut. Ohne dass er darum gebeten wird tritt er heran, nimmt seinem Gast das Jackett ab, hängt es an der Garderobe auf und weist ihm seinen Stammplatz an einem der runden Tische zu. Dort angelangt nimmt der feine Herr elegant umständlich platz, legt seinen Zylinder und seinen Stock neben sich auf den Tisch, und nickt dem Wirt zu, der daraufhin sofort loseilt, um ihm genau das zu bringen, worauf dieser so sehnsüchtig wartet: die legendäre grüne Fee. Denn für diesen Tag soll SIE seine Hure sein, so wie an vielen vorherigen Tagen auch.

Nach einer kurzen Weile kommt der Wirt mit einem silbernen Tablett, auf dem ein Glas mit einer grünen Flüssigkeit steht, zu dem Tisch des feinen Herrn zurück. Er stellt das Tablett dort ab, nimmt eine schön verzierte Gabel, die ebenfalls auf dem Tablett liegt, zur Hand, legt diese auf das Glas, legt noch ein Stück Würfelzucker oben drauf und öffnet den Schraubverschluss einer ebenfalls mitgebrachten Flasche. Anschließend lässt er die in der Flasche enthaltene farblose Flüssigkeit, es handelt sich dabei um leicht gekühltes Wasser, über den Zucker in das Glas fließen, wodurch sich die grüne Flüssigkeit darin weiß verfärbt. Danach rührt der Wirt noch mit der Gabel in der Flüssigkeit solange herum, bis der Zucker vollends darin aufgelöst ist und stellt als letzten Akt dieses Rituals das Glas vor seinen Gast auf den Tisch, verbeugt sich kurz vor diesem, und lässt ihn dann mit dem Getränk und sich alleine.
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Der feine Herr nimmt bedächtig die Gabel aus der Flüssigkeit heraus und legt sie daneben auf den Tisch. Diese verfluchte Wissenschaft, denkt er dabei so bei sich. Sie ist es, die für die Entzauberung der Welt gesorgt hat: der Mensch ein Affe und jedwede Metaphysik nichts weiter als ein Hirngespinst. Er hebt das Glas an, führt es zu seinem Mund, schließt seine Augen, und trinkt einen großen Schluck daraus. Sofort entfaltet sich in seinem Mund ein angenehm leichtes Anisaroma, das sich dann aber schnell mit einem zarten Fenchelgeschmack vermischt. Dieser gewinnt ganz kurz die Oberhand, vermischt sich dann aber mit einem deutlichen Wermutaroma, worin schließlich auch das leichte Anisaroma aufgeht. Als er die Flüssigkeit heruntergeschluckt, und das Glas wieder mit immer noch geschlossenen Augen abgesetzt hat, bleibt lediglich ein blasser Schimmer der genannten Aromen zurück, welcher daraufhin kontinuierlich abnimmt, während sich gleichzeitig von seinem Bauch ausgehend ein warmes und wohliges Gefühl in seinem gesamten Körper auszubreiten beginnt. Erst jetzt öffnet er wieder seine Augen.

Als das wohlige Gefühl dann auch in seinem Kopf ankommt, fühlt es sich für ihn so an, als ob sich langsam ein grüner Schleier um ihn herum legt der ihn wohlig einhüllt und vor den Gefahren der Welt, vor allem den Gefahren des Wissens, zu beschützen versucht. Er muss unweigerlich lächeln und die grüne Fee lächelt entzückt zurück. „Was würde ich wohl ohne dich tun, he?“, flüstert er ihr benommen zu.

Während er das Glas wieder zu seinem Mund führt, werden seine Gedanken zunehmend träger. Diesmal trinkt er das Glas vollends aus, wodurch der grüne Schleier um ihn herum dichter, ja geradezu undurchdringlich wird.

Plötzlich taucht der Begriff Absinthismus irgendwo ganz kurz zwischen seinen inzwischen etwas konfus gewordenen Gedankengängen auf, als er gerade seinen Arm schwerfällig hebt, um so dem Wirt zu signalisieren, dass er eine weitere grüne Fee genießen möchte. Daraufhin kommt dieser auch tatsächlich mit dem Gewünschten an seinen Tisch herangewuselt und führt das gleiche umständliche Ritual wie zuvor aus.
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Als der Wirt wieder verschwunden ist, setzt der feine Herr zum nächsten Schluck an. Er trinkt fast das gesamte zweite Glas aus, stellt es vor sich auf den Tisch hin und lässt die grüne Fee ungehindert ihre von ihm erwünschte Wirkung entfalten. Der Schleier um ihn herum wird jetzt so dicht, dass außer diesem nun nichts mehr für ihn zu sehen ist. Es wird kein Absinthismus mehr weit und breit gedacht. Die grüne Fee lächelt, und es gibt keine Sorgen mehr. Sie ist eben eine Hure, die ihr Handwerk versteht.

Ein letzter klarer Gedanke schießt ihm für diesen Tag durch den Kopf: Gibt es etwa nur noch in der bewussten Illusion eine Flucht vor der alles umgebenen Desillusion; vor dem uneingeschränkten Technikglauben seiner Zeit? Er trinkt einen letzten Schluck aus seinem Glas, zwinkert seiner grünen Fee noch ein letztes Mal zu, sinkt dann scheinbar wie in Zeitlupe und irgendwie willenlos mit seinem Oberkörper auf den Tisch herab und bleibt dort so regungslos liegen. Als dies der Wirt bemerkt, unternimmt er nichts dagegen. Denn er ahnt, wie sehr dieser feine Herr den Zauber seiner grünen Fee braucht. Er möchte ihn noch eine Weile in seiner Illusion verweilen lassen.
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Kommentare zur Story:

  Mit herrlich bildhaften Worten hast du uns diese grandiose Zeitreise in die Vergangenheit ermöglicht!
Schöner flüssiger Schreibstil, mit dem du diese Handlung auf sehr spannende Art rübergebracht hast!
LG. Michael  
   Michael Brushwood  -  27.09.13 11:16

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  Vielen Dank für die netten Kommentare. Freut mich,
dass euch diese Geschichte gefällt.
LG,  
   Siebensteins Traum  -  22.09.10 18:07

   Zustimmungen: 0     Zustimmen

  Ein sehr schöner, stimmungsvoller Text. Ganz ausgezeichnet.  
   Jochen  -  21.09.10 21:30

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  Da stimme ich zu. Dichte Athmosphäre und außerdem durchzieht deine Geschichte ein märchenhafter Hauch, obwohl sie durchaus realistisch geschrieben ist.  
   Petra  -  21.09.10 12:41

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  Eine kleine verträumte Reise in die Vergangenheit. Du entführst uns dabei in die große Zeit des beliebten Absinthtrinkens. Liest sich sehr schön. Man sieht alles vor sich. Du malst uns mit dieser Story prächtige Bilder und es klingt alles sehr gut.  
   doska  -  20.09.10 22:07

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  die zauberhafte grüne fee, van gogh, degas, toulouse-lautrec, gauguin und picasso waren ihr verfallen.
ich selber habe noch eine flasche zu hause rumstehen, irgendwann hat mann sie gekauft, wegen des mythos', aber keiner wollte so richtig ran. trotzdem steht sie verführerisch da.
genauso wie deine geschichte... ;)  
   Ingrid Alias I  -  20.09.10 15:49

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Interessante Kommentare

Kommentar von "Nausicaä" zu "frühling z2"

einfach toll, dieses frühlingsgedicht. du findest in deinen gedichten häufig ganz eigene, besondere bilder. wunderschön, ohne kitschig zu sein.

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