Amüsantes/Satirisches · Kurzgeschichten

Von:    Chrstian Hoja      Mehr vom Autor?

Erstveröffentlichung: 14. Februar 2009
Bei Webstories eingestellt: 14. Februar 2009
Anzahl gesehen: 4369
Seiten: 4

„ERWARTUNGSHALTUNGEN IM 21. JAHRHUNDERT“ stand draußen auf dem Schild und als Untertitel: „Lernen, Dinge vom Leben zu erwarten, um seine Zukunft zu definieren“.

Jeden zweiten Samstag im Monat traf sich unter dieser Überschrift eine Gruppe Jugendlicher von achtzehn bis einundzwanzig Jahren im gemütlichen Gemeinschaftsraum der Stadtbibliothek, der eingerichtet worden war um diskutier-freudigen Menschen einen Sammelpunkt zu bieten, an dem freudig diskutiert werden konnte. Der Erwartungshaltungen-Kurs wurde geleitet von einem enthusiastischen Mann in den frühen Sechzigern, Doktor Fasersand, der sein ganzes Leben damit verbrachte und verbracht hatte, irgend etwas zu erwarten und sich spitzbübisch über die Gelegenheit freute (nachdem er als Schulpsychologe versagt hatte), der nachfolgenden Generation beizubringen, wie man richtig erwartete. Die erste Stunde hatte er mit den Worten eingeleitet: "Von mir werden Sie lernen zu erwarten, sie werden warten zu erlernen und dank des Erlernten zu erwarten." Der Großteil der Gruppe hatte sich beeindruckt gezeigt, die wenigen Unwilligen waren in der nächsten Woche nicht wieder aufgetaucht. Was Doktor Fasersand erwartet hatte. Nichts war für ihn von größerer Bedeutung als Erwartungen. Vorbereitet sein, was auch passierte. Jeder Situation gewachsen sein. Was konnte es besseres geben? Intuition? Fasersands Meinung nach der Feind des klaren Verstandes. Nein, eine Autarkie der Gedanken von den vorgegeben Strukturen und Mustern des gesellschaftlichen Verhaltens kam für ihn nicht in Frage. ALLES hatte Erwartungen zu entsprechen.

Am heutigen Tag waren die üblichen vierzehn Gesichter männlicher und weiblicher Jugendlicher anwesend, die Fasersands Erwartungen bisher voll erfüllten. Aber auch ein neues Gesicht sah er am oberen Ende des ovalen Tisches sitzen, ein wenig abseits der anderen. Der Junge hatte einen schmalen Kopf, von strähnigem, schulterlangem Haar umrahmt und er saß neugierigen Blickes da, die Runde aus der Sicherheit seiner Distanz beobachtend.

Fasersand beschloß, die Stunde mit einem Paukenschlag zu eröffnen, denn der Neue, wie man kaum anders erwarten konnte, von der Propaganda der üblichen Mitglieder angelockt, erwartete sicher genau das. "Sinnesgenossen!" rief Faser-sand und alles Getuschel verstummte. "Die heutige Stunde soll uns lehren, wie wir unsere Erwartungen bündeln, um unser Vorwärtskommen zu gewährleisten, unserer Zukunft festen Schrittes zu begegnen.
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Denn nur wenn wir wissen, was wir zu erwarten haben, können wir für uns definieren, wie wir es anzupacken haben. Um unsere Rolle in der Gesellschaft einnehmen und zur Zufriedenheit aller ausfüllen zu können." Was für ein epochaler Einstieg! "Eure Aufgabe für heute ist es, euch Gedanken über Dinge zu machen, die ihr vom Leben erwarten müßt, sollt und könnt, um eure ganz persönliche Zukunft zu definieren. Folien vor und los geht’s!"

Folienschreiber und Folien wurden vorgeholt und Fasersand stellte den Tageslichtprojektor bereit. Anschließend setzte er sich hinter sein Pult und sah zu dem neuen Gesicht. Der Junge schrieb eifrig, wie zu erwarten. Er wollte sich ebenfalls mit einem Paukenschlag in die Gruppe einfügen. Fasersand grinste. Was für ein ausgezeichneter Analytiker er war! Gewisse Musterschüler präsentierten bereits nach zwei Minuten ihre Folien. "Sehr gut, sehr gut", lobte Fasersand. "Ihr wisst bereits ganz genau, was ihr vom Leben zu erwarten habt."

Nach zehn Minuten wurden die Ergebnisse präsentiert.

Fasersand schaltete den Projektor an, legte die erste Folie auf und las laut vor: "'Vom Leben erwarte ich folgende Dinge. Erstens, dass ich selbst und was ich tue anerkannt wird.'" Fasersand nickte eifrig. "Ein ganz wichtiger Punkt. Anerkennung sollte jeder von euch immer erwarten. 'Zweitens, dass meine Freunde und Verwandten mir gegenüber loyal sind'. Sehr richtig, Ehrlichkeit im privaten Kreise müsst ihr erwarten. 'Drittens, dass die alltäglichen Dinge so verlaufen, wie ich es gewohnt bin und ich entsprechend darauf reagieren kann'. Sehr gut, hierbei handelt es sich um die Struktur, von der ihr erwarten könnt, dass sie jederzeit konstant und zu beherrschen ist. Ausgezeichnete Arbeit, Konstanze."

Das Mädchen Konstanze lächelte geschmeichelt.

Fasersand legte weitere Folien auf und las Erwartungen vor wie: "'Ich erwarte die Profilierung meiner künstlerischen Ideen im zeichnerischen Bereich', 'ich erwarte mehr Beachtung im Beruf', 'ich erwarte von Verletzungen die meine Sportlerkarriere gefährden könnten verschont zu bleiben', 'ich erwarte ein ausgefülltes Sexualleben', 'ich erwarte die Erfüllung meiner Erwartungen'.
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"

Eine Stunde später zeigte sich Fasersand überaus zufrieden, verteilte Sonderlob und beste Wünsche für alle Vorhaben. "Schön, schön. Jeder von euch hat auf ganz eigene Weise erkannt, was man erwarten muss, kann und sollte", fasste er zusammen. "Nur einen jungen Herrn haben wir noch nicht gehört." Mit seinem strahlendsten, erwartungsvollsten Lächeln wandte er sich an den Neuen, der die ganze Zeit aufmerksam und mit kindlich-reinem Staunen zugehört hatte, so jedenfalls analysierte es Doktor Fasersand. "Lass mich einen Blick auf dein Namensschild werfen. Ah, Fortwanger. Fortwanger, bitte sehr, deine Folie."

Fortwanger erhob sich und legte seine Folie auf den Tageslichtprojektor. Kurzes Raunen erhob sich, denn der Neuling hatte vielmehr geschrieben, als alle anderen. Außerdem verwunderte seine verschnörkelte Handschrift.

"Möchtest du es selbst vorlesen, wo du neu in der Gruppe bist?" fragte Fasersand.

Fortwanger zog einen kleinen Zettel aus der Hosentasche und reichte ihn Fasersand. Verwirrt runzelte dieser die Stirn. "Hm, nun gut", meinte er dann. "Ich gebe zu, das hatte ich nicht erwartet. Also gut, setz dich ruhig, mein Junge, ich werde es für dich vorlesen." Fasersand legte den Zettel, der die Aufmerksamkeit von der Folie abgelenkt hatte, auf den Tisch und jeder beugte sich vor, um lesen zu können: "'Fortwanger spricht nicht mehr.'"

"Der ist das?" flüsterte ein Mädchen erstaunt. "Dieser Typ, der freiwillig stumm ist?"

"Genau", erwiderte ein Junge mit abfälliger Handbewegung. "Der wohnt bei mir in der Nachbarschaft. Der spricht seit zwei Jahren nicht mehr."

"Verrückt", resümierten zwei weitere, die dem Gespräch zugehört hatten.

"Herrschaften, bitte", unterbrach Fasersand, gleichwohl erst, nachdem auch er alles mitbekommen hatte. "Sehen wir uns Fortwangers Erwartungen an." Er räusperte sich wichtigtuerisch, um seinen Schülern die Zeit zu geben, sich der Projektion zuzuwenden. "'Fortwanger hat keine Erwartungen'", las Fasersand und stutzte sofort verdutzt. "'Er glaubt, dass Erwartungen uns zu Sklaven machen, unseren Verstand hemmen.
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Ihr lasst euch vorschreiben, was ihr zu erwarten habt und wenn es nicht eintrifft, wenn eure Erwartungen enttäuscht werden, seid ihr nicht fähig zu entscheiden, wie ihr euch verhalten sollt. Bereitet euch nicht auf das vor, was ihr erwartet. Bereitet euch auf gar nichts vor. Lebt. Lernt besonders das Unerwartete zu schätzen, das euch zum Lachen oder Weinen, zum Staunen oder Fürchten, vor allem aber, zum Denken und Sein bringt. Seit spontan, nicht sporadisch, flexibel, nicht fixiert.

Eines aber erwartet Fortwanger am allerwenigsten.'" Fasersand hielt inne, fassungslos darüber, was zuletzt dort stand. "'Eines aber erwartet Fortwanger am allerwenigsten'", wiederholte er konsterniert. "'Das irgend jemand hier ihn versteht.'"

Erschöpft wie nach einem Marathonlauf purzelte Fasersand in seinen Sessel. Betretenes Schweigen zermürbte den Raum. Niemand hatte so etwas erwartet und niemand wusste, wie man darauf reagieren sollte.

Und Fortwanger, in dessen unschuldiges Knabengesicht eine irritierende Weisheit einkehrte, dessen Augen in einer Wahrhaftigkeit strahlten, die ihm eine solch überlegene Präsenz verlieh, dass niemand ihn anschauen mochte, Fortwanger erhob sich gelassen und verließ den Gemeinschaftsraum.

Lange noch verweilten Fasersand und seine Schüler, eingekerkert in Trübsinn und Orientierungslosigkeit, sich plötzlich einer Unfähigkeit bewusst, die sie ihr ganzes Leben hemmen würde. Die Unfähigkeit, positiv überrascht zu werden. Wie sollte das schließlich möglich sein, sobald alles nur Erwartungen entsprach?

Sie verabschiedeten Doktor Fasersand nicht wie üblich mit überschwenglichen Worten, wie dankbar sie für seine Lehren waren, sondern gingen irgendwann einer nach dem anderen wortlos. Es war das letzte Mal, das der Erwartungshaltungen-Kurs zusammenkam. Das allerdings hatte Fasersand schon wieder erwartet.
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Kommentare zur Story:

  Eine wirklich gute Satire.  
   Jochen  -  07.03.09 12:01

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  Danke auch euch beiden für die netten Kommentare und Bewertungen!
Grüße, Christian  
   Chrstian Hoja  -  04.03.09 01:51

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  LOB - klasse geschrieben. LG Dublin  
   Pia Dublin  -  24.02.09 16:05

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  Ja, so ist es mit den Erwartungen. Gut auf den Punkt gebracht.  
   Petra  -  23.02.09 19:33

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  Danke euch beiden für die Kommentare und lobenden Worte!
Grüße,
Christian  
   Chrstian Hoja  -  15.02.09 22:41

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  Huhu Christian,
mein erster Gedanke nach den ersten Absätzen:
"Und ich lasse meinen Tramp sagen: Ich erwarte gar nichts und werde täglich tausendfach überrascht."
Doch erwartete ich die ganze Zeit eine Wendung, schließlich kenne ich dich ein klein wenig ;) Du hast meine Erwartung nicht enttäuscht, im Gegenteil, hast sie bestätigt :-D
Eine tolle Geschichte, die nachdenklích stimmt. Danke dafür,


Shan  
   Shannon O'Hara  -  15.02.09 10:23

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  Hallo Christian!
Da haben wir also noch eine kleine Geschichte über Fortwanger. Diese Satire ist dir so gut gelückt, wie ich sie von dir erwartet habe, hehe.  
   doska  -  14.02.09 21:52

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