Ich habe meinen Vater nie kennengelernt. Meine Mutter erzählte mir nur, dass er sie verlassen hatte als er erfuhr, dass sie ein Kind bekommt.
Ich war sauer auf ihn, weil er sich nicht auf mich freute, weil er meine Mutter einfach so alleine gelassen hatte, während sie mit mir schwanger war. Deswegen habe ich nie über meinen Vater gesprochen. Auch, weil es für meine Mutter offensichtlich unangenehm war darüber zu reden. So hielt ich mich, was meinen Vater betraf, immer im Hintergrund. Bis ich vor einiger Zeit Aufklärung bekommen habe...
Ich fuhr oft mit dem Autobus. Sei es in die Arbeit, oder irgendwo anders hin. Und seit ich denken kann, fuhr immer dieser Mann mit. Ganz gleich zu welcher Uhrzeit ich unterwegs war. Egal, ob ich erst spät in der Nacht nach Hause gefahren bin, oder einfach nur in der Gegend herumfuhr. Er war da.
Schon seit ich ein kleines Kind war und noch mit meiner Mutter unterwegs war, seit damals war er immer mit mir im gleichen Bus.
Er blieb mir deshalb so gut im Gedächtnis, weil er immer eine große, dunkelgrüne Tasche bei sich trug. Diese hatte er auch jedes mal bei sich. Manchmal machte ich mir Gedanken über diesen mittlerweile älter gewordenen, grauhaarigen Mann, der immer traurig zu sein schien. Doch ich versuchte ihn manchmal auch zu ignorieren, weil er mir zeitweise Angst machte, gerade so, als ob er mich verfolgen würde. Doch er stieg nie bei meiner Station ein, oder aus. Er war schon immer im Bus, wenn ich eingestiegen bin, und er fuhr auch immer weiter. Ich hatte keine Ahnung wo er genau wohnte, oder ob er überhaupt irgendwo gewohnt hat.
Sehr merkwürdig war auch der Blick, mit dem er mich von Zeit zu Zeit ansah.
Manchmal habe ich überlegt ob ich ihn einfach mal ansprechen sollte, aber ich entschied mich ihn einfach seine Runden mit dem Bus drehen zu lassen, er wird schon seine Gründe haben...
Ich habe bisher niemandem von dem alten Mann erzählt, weil ich es nicht erwähnenswert hielt, aber eines Tages geschah etwas, das mir sehr zu denken gab.
Es war ein heißer Freitag im Hochsommer und ich war gerade wieder auf dem Weg von der Arbeit nach Hause. Als ich bei meiner Bushaltestelle ankam und einsteigen wollte tauchte wieder dieser Mann auf und meinte mit tiefer, leiser und ziemlich heiserer Stimme: „Warte auf den nächsten Bus.
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Steig nicht hier ein.“
Ich wusste nicht was ich denken soll und wollte einsteigen, weil ich dachte, er wäre verrückt geworden. Doch er hielt mich am Arm zurück und sah mich wieder mit diesem merkwürdigen Blick an. „Was meinen Sie? Warum soll ich nicht einsteigen? Ich möchte nach Hause.“ Er hielt meinen Arm noch fester, doch ich versuchte mich nicht zu wehren. Er war alt und hätte mir nicht viel antun können. Dann fuhr der Bus los. Ich war leicht verärgert, weil ich jetzt wieder zehn Minuten warten musste bis der nächste kam, aber ich konnte es eh nicht ändern. Er ließ meinen Arm los und ging weg.
Wenige Minuten später hörte ich Sirenen eines Einsatzfahrzeuges, das ganz in der Nähe sein musste. Als ich mich umsah bemerkte ich, dass es irgendwo brennen musste. Am Himmel sah man eine riesige schwarze Rauchwolke. „Dort muss ein Unfall passiert sein“, dachte ich mir. Und da es nicht sehr weit von meiner Haltestelle entfernt war beschloss ich, mal nachschauen zu gehen, was dort los ist. Als ich an der Unfallstelle angekommen bin lief es mir eiskalt den Rücken hinunter. Ich stand mit weit offenem Mund da und konnte nicht glauben, was da vorsich ging. Mein Bus, der Bus mit dem ich nach Hause gefahren wäre, wenn mich dieser Mann nicht aufgehalten hätte, lag quer über der Fahrbahn, drei Autos waren in den Unfall verwickelt. Der Bus brannte lichterloh, die drei anderen Fahrzeuge waren komplett zerstört. Die Rettung und die Feuerwehr waren schon da und versuchten zu retten, was zu retten ist, doch es bestand nicht viel Hoffnung, noch jemand Lebenden aus dem Wrack zu bergen.
Ich war geschockt. Abgetrennte Körperteile lagen auf der Straße, einige Leichen wurden schon abtransportiert.
Per Handy rief ich meine Mutter an und ersuchte sie, mich abzuholen, weil etwas passiert war. Sie kam sofort und ich versuchte ihr zu berichten was ich gesehen habe.
So erzählte ich ihr auch von diesem alten Mann, der mir durch seine Warnung das Leben gerettet hat. Meine Mutter fing an zu weinen und erzählte mir die Geschichte von meinem Vater, der sie nicht wirklich verlassen hat. Mein Opa war Busfahrer und nahm meinen Vater nach Dienstschluss mit dem Autobus mit nach Hause. Doch sie hatten einen Unfall und verloren dadurch ihr Leben. Die Polizei vermutete, dass der Grund des Unfalles Ablenkung war.
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Diese Annahme ergab sich aus dem einzigen Anhaltspunkt, der geöffnet neben meinem Opa und meinem toten Vater lag; Eine große, dunkelgrüne Tasche.
Von diesem Tage an habe ich den alten Mann mit seiner Tasche nie wieder gesehen...
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