Spaziergang am Heiligabend   175

Trauriges · Kurzgeschichten · Winter/Weihnachten/Silvester

Von:    Heike Sanda      Mehr vom Autor?

Erstveröffentlichung: 19. Dezember 2002
Bei Webstories eingestellt: 19. Dezember 2002
Anzahl gesehen: 2907
Seiten: 3

Verdammt, ist das duster hier draußen. Gerade mal halb fünf, und es ist bereits tiefe Nacht. Alles still, fast schon gespenstisch. Nur meine Schritte hallen auf dem Pflaster, verursachen ein Echo.



Daheim wartet mein Mann darauf, dass ich meinen Spaziergang beende. Um sechs will ich zurück sein, dann hat er heißen Vanilletee und selbstgebackene Zimtsterne bereit. Anschließend halten wir unsere kleine „Bescherung“, und anschließend fahren wir zum großen Familienessen.



Wie oft nehme ich diesen Weg in jedem Jahr auf mich? Keine Ahnung. Nie gezählt. Heute muss ich ihn allerdings zu Fuß bewältigen. Es ist Heiligabend, und es fährt schon längst keine Bahn mehr.



Markt und Straßen stehen verlassen, still erleuchtet jedes Haus...



Klopf, poch... nichts zu hören außer meinen Schritten. Durch die Fenster der Parterrewohnungen kann ich sehen, dass die Bescherung bei vielen Familien bereits begonnen hat. Lachend und plaudernd stehen die Eltern Arm in Arm da und betrachten die Kinder, die unter lautstarkem Jubel Pakete aufreißen, sich schubsen, kreischen, des anderen Geschenke kommentieren.



Weihnachten ist ein Fest der Kinder.



Lasset die Kindlein zu mir kommen...



So ein Quatsch. Schwachsinn.



Wenn du Kinder willst, besorg dir doch selber welche... – Blödmann.



Upps. Spricht man so mit einem Geburtstagskind? Schnell an was anderes denken.



Ihr Kinderlein kommet...

Ob einer von den Drei Königen seine Pänz bei sich gehabt hat auf seinem belasteten Freudenmarsch. Hat der sein Kind auf den Arm genommen, zum Himmel gedeutet und gesagt: „Ihr Kinderlein, Komet?“



Jetzt werde ich aber wirklich albern.



Ich habe das Gefühl, dass mein linker Arm immer länger wird. Die kleine, mit goldenen Schleifchen und blauen Satinkugeln geschmückte Tanne ist nur sechzig Zentimeter hoch und wiegt vielleicht zwei Kilo, so mit Topf und allem. Aber wenn man sie so einen langen Weg schleppen muss, wird sie soch ziemlich schwer. Die Tanne wechselt raschelnd den Tragarm.



Freu dich lieber auf den Vanilletee, hmmm..... Ob Marlies diesmal die Backpflaumen- oder die Apfelfüllung für die Gans gewählt hat? Na, ich wird’s ja bald sehen.
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Lasst mich ein ihr Kinder, s’ist so kalt der Winter...



Oh ja, kalt ist es. Bitterkalt sogar. Wenn bloß der verdammte Wind nicht wäre. Ob meine Ohren wohl abfallen, wenn ich dagegenschnippse? Und Durst habe ich auch, durch das angestrengte Atmen bei halboffenem Mund. Soll ich nicht lieber langsamer gehen? – Nee, je schneller ich gehe, deste schneller bin ich wieder daheim. Nicht mal die Lippen befeuchten kann ich mir. Sie würden aufplatzen bei dem Wind.



Nur knochentrocken ist es wieder mal. Wie lange habe ich eigentlich keine weiße Weihnacht mehr erlebt?



I’m dreaming of a white christmas... aber wen scheren meine Träume?



Endlich erreiche ich das schmiedeeiserne Tor. Es steht noch offen, aber nur ein kleines Bißchen, so ganz verschämt, als wolle es sagen: Wer heute nacht hier durchgeht, der hat wohl nichts Besseres zu tun. Ein Schild aus weißem Emaille mit schwarzer Schrift belehrt mich, dass um sechs geschlossen wird.



Um sechs werde ich bereits zimtsterneknabbernd über meinem Vanilletee sitzen, mich aufwärmen und darauf warten, dass mein Schatz seine Rasur beendet, damit wir abhauen können.



Ich gehe die breite Eichenallee entlang; außer mir ist hier kein Mensch.



Also nix is mit „leise rieselt der Schnee“, nehme ich meinen Gedankenfaden wieder auf. Wie wär’s mit „leise schnieselt das Reh“? – Aber wissen Rehe überhaupt, wie man schnieselt? Außerdem gibt’s keine Rehe in der Großstadt. Aber Eichhörnchen, wie ich gerade sehe. Was macht dieses putzige kleine Viecherl denn bei der Eiseskälte hier draußen? Müssten die jetzt nicht schon lange tief und fest schlafen? Keine Ahnung. Was weiß ich schon von Eichhörnchen? Hätte ich das gewusst, hätte ich mir ein paar Nüsse in die Manteltasche gesteckt. Zu spät.



So, jetzt nur noch links den Weg hoch.



Gott, kann sich ein Weg ziehen, wenn man nichts zum Gucken hat. Die Straßen sind zwar auch wie ausgestorben, aber da kann man sich wenigstens die Schaufenster und die Lichtornamente an den Wohnungsfenstern anschauen, man kann Opel Astra Modelle zählen oder durch die Scheiben in die unten liegenden Wohnungen linsen.
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Aber hier, in diesem verlassenen parkähnlichen Gelände mit seinen starren, blattlosen Zweigen gibt es wirklich gar nichts zu sehen. Da dehnt sich der Weg wie Kaugummi, den man zwischen die Zähne klemmt und mit den Fingern langzieht...



Nochmal links. Ich bin fast da. Ein kleines weißes Kreuz markiert die Stelle, die ich suche.



Bis jetzt habe ich über so ziemlich alles nachgedacht, nur nicht an das Ziel, auf das ich zusteure. Das wird jetzt anders.



Ich sammle meine schweifenden Gedanken ein, plaziere den kleinen Baum, ziehe eine rote Glaskerze und mein Feuerzeug aus meiner Manteltasche, zünde die Kerze an und stelle sie neben den Baum.



„Frohe Weihnachten, Mäuschen. Ein glückliches Fest auch dir, mein Kind.“
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Punktestand der Geschichte:   175
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Kommentare zur Story:

  Im Memoriam

Ich komme jedes Jahr zur Weihnachtszeit gern her und
lese diese Geschichte. Es ist sehr traurig, daß du nicht
mehr unter uns bist, aber deine einzigartigen Worte
überdauern die Zeit und erinnern uns an dich.  
Trainspotterin  -  07.12.06 15:49

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  *träne zur seite wisch* mir fehlen die worte...
Es sehr bewegender Text, der nachdenklich macht... erst albernd anfängt und dann zu Tränen rührt... ich wünsche dir alles Liebe und viel Kraft, auch für heute abend... *an dich denk*  
*Becci*  -  24.12.02 11:56

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  Dass ist traurig!Furchbar traurig!Wenn das echt ist tut mir dass leid.Schlimm!diese Geshcichte!Und traurig  
H. Wallner  -  22.12.02 02:10

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  Obwohl ich den Hintergrund dieser Geschichte sofort durchschaute (steht ja in deiner Christmas Carol), nahm sie mich gefangen.
Selten hat mich etwas Geschriebenes so gepackt und so tief berührt.
Hast du klasse hinbekommen, Heike! Ganz ohne Zuckerguß und trotzdem mit mächtig Gefühl. Einfach gut.
Und (leider) wahr.
Ich wollte, du müsstest diesen Gang nicht Jahr für Jahr machen...
Fünf Punkte für die ehrlichen Gefühle, die diese Geschichte in mir weckte.  
Stefan Steinmetz  -  21.12.02 22:19

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  Liebe Heike,

dein bewegender Text ist wieder mal perfekt.
Ich wünsche dir schöne Weihnachten - trotz deines schweren Spazierganges und obwohl kein Tee wartet.  
Heidi  -  21.12.02 09:34

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  Ich finde deine geschichte sehr gut weil sie nicht einfach zu verstehen ist sondern weil man wirklich nachdenken muss  
mimi456  -  20.12.02 18:09

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  Ja, vielen Dank, geht allmählich wieder...
*taschentuchwiedereinsteck*, aber ich werde diese
Geschichte nicht vergessen können. Weihnachten ist
halt für mich immer die Zeit im Jahr, in der man
möglichst seine Lieben um sich sammelt, und mir
fehlt da auch jemand in dieser Runde.  
Trainspotterin  -  20.12.02 09:39

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  @Wolzenburg & Trainspotterin

Vielen Dank für die lieben Kommentare, ihr zwei.
- Ja, Wolzi, Du hast es richtig erkannt. Es handelt sich auch diesmal wieder um eine wahre Begebenheit, die sich an jedem Heiligabend wiederholt. Auch dieses Jahr. Nur wird, da ich momentan alleine bin, die Vanilletee-Geschichte wegfallen. Leider. Stattdessen werde ich gleich zur Verwandtschaft durchfahren.
Ach ja, Wolzi: Hast Du Dir schon mal ein Kindergräberfeld angeschaut? Nein? Das ist eine sehr bereichernde Erfahrung, denn Du wirst nicht nur Tannenbäumchen finden, sondern auch Figürchen, Schaukelpferde und zahllose Windmühlen... - Letztes Jahr lag ein Äpfelchen auf einem frischen Grab. Frag' mich mal, warum, aber gerade dieser Apfel hat mich fast komplett fertiggemacht. Ich weiß, dass ich laut gestöhnt habe und am liebsten wie ein Tier geschrien hätte.
Trainspotterin: Ich wollte Dir um Himmels Willy den Tag nicht versauen. Da sei Gott vor.
- Heile, heile... *pust*.... so, wieder gut?!  
Heike Sanda  -  20.12.02 09:09

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  Ich würde zwar keinen Tannenbaum auf den Friedhof bringen, aber trotzdem gefällt mir die letzte Zeile Deiner Geschichte am besten.
Diese Zeile Zeile drückt Liebe aus, diese Zeile lässt aber auch Deine Sehnsucht erkennen.
Sehnsucht nach dem Kind was nicht mehr ist.
Trotz aller Sehnsucht ist die gesamte Storie aber keine mit Tränen überladene Geschichte, und das ist gut so.
5 Punkte  
Wolzenburg  -  20.12.02 00:08

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  *schluck* Das hast du aber wieder mal prima hingekriegt.. erst ein wenig herumalbern, und dann den Lesern die Tränen kommen lassen. Hat jedenfalls geklappt.. mir fehlen grade irgendwie die Worte, und ich kann dir versichern, das kommt nicht allzu oft vor.  
Trainspotterin  -  19.12.02 23:28

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Hallo, ein schöner text, du stellst deine gedanken gut dar, trifft genau meinen geschmack. lg Holger

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