Die Geschichte vom Hai und vom Forscher   73

Nachdenkliches · Kurzgeschichten

Von:    Christian Savoy      Mehr vom Autor?

Erstveröffentlichung: 26. Oktober 2002
Bei Webstories eingestellt: 26. Oktober 2002
Anzahl gesehen: 1979
Seiten: 5

So tief ist das Wasser nicht mehr blau oder grün, wie es dicht unter der Oberfläche zu schimmern scheint, sondern schwarz wie die Nacht oder jene Ewigkeit, die sich um die Sterne am Himmel schlingt. Ist der Grund fern oder nah? Kräuselt sich der Sand bereits zum Greifen nahe, bevölkert von absonderlichen Kreaturen, hartschaligen Muscheln, bizarren Fischen, die ihre verblüffende Farbenpracht an ewiges Dunkel verschwenden? Träge bewegt sich ein Körper, der weder die Sterne noch das Firmament je gesehen hat, durch die unendlichen Wasser. Gemächlich treiben ihn die Bewegungen der gewaltigen Flosse vorwärts, und kleine Wesen, die seine Gegenwart mit Sinnen erspüren, die ihnen ein unverständlicher Gott in ihre winzigen Leiber gepflanzt hat, stieben auseinander. Noch nie ist er so tief gewesen, nie zuvor hat er, der er keinen Tag und keine Nacht kennt, die Dämmerung hinter sich gelassen und ist hinabgestiegen in die Regionen, in denen er ein Fremder ist in seinem eigenen Reich. Und doch hat der Geist, der diesem Körper innewohnt, keine Angst, denn er kennt keine Feinde und keine Gefahr und nichts stört ihn, während er ruhig dahingleitet, umhüllt von Schwärze und stillem, pulsierenden Leben.



Der Motor heulte auf, kreischte schrill, aber der Jeep bewegte sich keinen Millimeter. Ärgerlich legte der Fahrer den Rückwärtsgang ein, aber die Reifen fanden keinen Halt und drehten durch, schlingerten zwar, aber er saß fest. Der Fahrer wischte sich mit der Hand über die schweißbedeckte Stirn und fluchte auf englisch, deutsch und arabisch. Dann drückte er dreimal die Hupe. Einmal hätte gereicht, um den Lenker eines anderen Fahrzeugs auf sich aufmerksam zu machen, aber der Ton war so grauenhaft, daß es der Fahrer in seinem Zorn genoß, ihn öfter als nötig erschallen zu lassen. Der LKW vor ihm, der bereits einige hundert Meter voraus auf der kaum erkennbaren Straße fuhr, kam zum Halt. Einige Leute sprangen von der Ladefläche, über die eine Plane spannte und zeigten wild gestikulierend auf den Jeep, in dem sich der Fahrer nun zurücklehnte und einen Kaugummi in den Mund schob, während er wartete. Schier endlose Minuten später kam ein zweiter Jeep herangebraust und eine Frau sprang heraus, vierzig Jahre alt, aber die Sonne hatte tiefe Schluchten in ihre Haut gegraben, wie auch der Fahrer selbst älter wirkte, als er eigentlich war.

„Na, in den Sand gesetzt?“

„Ach weißt du, die Fahrbahn war eben spiegelglatt.
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..“

Die Frau lachte, gleich aber blickte sie besorgt auf die Räder, die sich tief in den Sand gegraben hatten. Ihre faltige Stirn war in tiefe Furchen gelegt, als sie sich wieder an den Fahrer wandte, der in seinem verschwitzten Hemd scheinbar gleichgültig hinter dem Steuer saß.

„Himmel, du hättest wirklich vorsichtiger sein müssen!“ Sie wies auf ein mit einem Tuch bedecktes Gerät, das auf dem Jeep festgezurrt war.

„Du weißt, was dieser Analysespektograph gekostet hat!“

Er wollte aufbegehren, ließ sich aber zurücksinken, da er wußte, daß seine Chefin recht hatte. Seine Unachtsamkeit trug Schuld daran, daß er den Jeep neben die Straße gesetzt hatte.

„Nützt alles nichts. Wir fahren weiter zur Station und schicken einen Wagen, der dich wieder flottmacht. Du hältst uns doch ein paar Stunden durch, oder?“

Hochmütig winkte der Fahrer ab, und bald verschwand der Konvoi am Horizont. Er war allein.

Die Sonne stach, und wenn der Fahrer die Hand auf die grüne Kühlerhaube des Jeeps legte, schreckte er sogleich zurück, sonst hätte er sich eine Verbrennung zugezogen. Sein Blick wanderte über die Dünen, goldgelbe Hügel, die sich aus der Landschaft erhoben wie Fingerknöchel einer gewaltigen Hand. Die Luft flirrte vor Hitze und aus seinen Poren dampfte Schweiß, wertvolle Flüssigkeit, die er hier nutzlos vergeudete. War es in Europa unmöglich, direkt in die Sonne zu sehen, so konnte man hier inmitten der Sahara noch nicht einmal das Haupt in Richtung des Gestirns wenden, ohne daß Licht und Feuer gräßlichen Schmerz ausgelöst hätten. Schweigend saß der Fahrer in seinem dunkelgrünen Jeep, von dem der Lack abblätterte, die Augen hinter getönten Sonnenbrillen verborgen, während er wartete.



Weshalb ist er so tief herabgekommen? Welche Laune hat ihm geboten, seine Gründe so weit hinter sich zurückzulassen? Fäden treiben im Wasser, unmöglich zu sagen, ob es sich um Algen oder phantastisch geformte Flossen von Fischen handelt. Der Druck der über ihm flutenden Wassermassen wird stärker und jeder Nerv an seiner Seite vibriert, aber er widersteht der Regung hochzutauchen. Hunger regt sich in ihm, der immerwährende, allgegenwärtige Hunger. Es ist unsinnig, in diesen Tiefen zu bleiben, in denen ihm seine Sinne widersprüchliche Reize liefern, in denen ihn unbekannte Gerüche täuschen und jede Wahrnehmung im Kreis läuft, ja, in denen er sich noch nicht einmal zu orientieren vermag.
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Der Hunger ruft klagend zu ihm, aber hier in schwarzer Nacht gibt es keine Beute, die sein Schlund verschlingen kann. Hier gibt es nichts außer Einsamkeit, und genau diese Stille ist es, die ihn hierhergerufen hat.



Die Stunden hatten sich endlos aneinander gereiht, waren so zäh verstrichen, daß er bereits gedacht hatte, die Sonne hätte angehalten wie einst in Gibeon, wo sie auf Gottes Geheiß unbeweglich den Israeliten geleuchtet hatte, bis diese die Rache an ihren Feinden vollzogen hatten. Nun endlich neigte sie sich dem Horizont entgegen, und wo ihre Flammen nicht mehr hinreichten, da zogen die frühen Schatten der Nacht auf. So gleißend der eine Teil des Himmels noch strahlte, so samten war die andere Hälfte des Firmaments, auf der bereits Sterne blinkten.

Der Forscher saß neben dem Jeep. Einigemale hatte er sich die Zeit vertrieben, indem er fruchtlose Versuche gestartet hatte, sein Auto aus eigener Kraft zu bergen, aber schließlich hatte er diese Bemühungen aufgegeben. Nun saß er im Schatten des Geländewagens, nahm einen Schluck aus seiner versiegenden Feldflasche und wartete. Nichts regte sich ringsumher, nur der Sand umgab ihm, drang in seine Kleidung, Hautritzen und seinen Geist. Bald würde Hilfe kommen, aber nicht, ehe die Nacht der Wüste ihn umfing. Er wollte fluchen, aber es schien nicht der Mühe wert. Eine Handvoll Sand rieselte durch seine Finger und sobald das letzte Korn verronnen war, füllte der Forscher die Höhlung seiner bloßen Faust erneut, als sei seine Hand eine Sanduhr. Schweiß tropfte von seinem Körper und fiel schwer auf den Grund der Wüste. Sehnsucht überfiel ihn, der gestrandet war, und er kletterte in den Jeep, holte sein Handy und setzte sich wieder in den Staub, den Äonen hinterlassen hatten.



Der gewaltige Leib gleitet immer noch scheinbar mühelos durch das stumme Dunkel, nach wie vor pulsiert ungeheure Kraft durch den Körper, vor dem sich das Wasser zu teilen scheint, aber neben dem unbändigen Gefühl des Hungers steigt eine weitere Empfindung empor, wie er sie erst seit kurzem kennt: Müdigkeit. Nicht die Erschöpfung der langen Jagd oder des schwierigen Rituals der Paarung, sondern ein Zustand, der ihm neu ist. Die unzähligen Narben auf seinem langen, weißen Körper scheinen zu erwachen, und seit dieses Gefühl aufgekommen ist, erlischt der Hunger zu einer klammen Erinnerung, ungewohnt, beängstigend, hätte er die Fähigkeit, Furcht zu empfinden.
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Der Hunger ist sein Begleiter gewesen, seit er zum ersten Mal die Gründe des unerschöpflichen Wassers durchmessen hat, ist so allgegenwärtig, daß er ihn so intensiv zu empfinden vermag wie den Geruch von Blut und Angst. Nun scheint dieses Gefühl bedeutungslos zu werden, so bedeutungslos wie Dunkelheit ringsum, die ihn umgibt, und für die er keine Erklärung hat. Zum ersten Mal in seiner Existenz schwimmt er, ohne zu jagen, zum ersten Mal achtet er nicht auf die vibrierenden Reize des Lebens ringsum. Von seiner Geburt bis zu diesem Augenblick ist es ein weiter Weg gewesen, und doch ist es eine Einheit, ein einziger Moment. Er schwimmt, doch während sich der riesige, schlanke Leib sanft vorbewegt, fühlt er, wie das Leben aus seinem Körper fließt wie aus einer klaffenden Wunde und er reagiert auf die einzige Weise, die in Frage kommt, mit Angriff. Weit reißt er das Maul auf, entblößt die Reihen scharfer Zähne, die im Dunkel gnädig verborgen bleiben und schießt auf den unsichtbaren und ungreifbaren Feind zu, mit aller Kraft, derer er fähig ist, schnell wie die Zeit, die er nicht kennt, ein letztes Mal im Rausch der Jagd, dann erstarren die mächtigen Kiefer und der empfindungslose Leib sinkt sachte dem dunklen Grund entgegen.



Ein Telephonat mit Europa war teuer, aber die vertraute Stimme seiner Frau hatte ihm die Zeit vertrieben. Langsam kühlten die Temperaturen ab, waren beinahe schon erträglich, und das Warten neigte sich dem Ende entgegen. Anfangs war seine Frau besorgt gewesen, als sie von der Panne gehört hatte, aber sie hatte sich beruhigt oder gab sich zumindest fröhlich. Den Kindern ging es gut, und inmitten der Einsamkeit der Sahara die vertraute Stimme zu hören, war mehr Trost, als er ursprünglich gedacht hatte. Es würde noch Monate dauern, ehe sie einander wieder im Arm hielten, aber ihr Gespräch hatte die Sehnsucht gestärkt, die ihm stets Gesellschaft leistete. Nun war es an der Zeit, das Gespräch zu beenden, aber beide schreckten davor zurück. Sie mußte den Kindern das Abendessen bereiten, er wieder seinen Gedanken nachhängen und nach dem Wagen, der ihn aus der Grube ziehen würde, Ausschau halten. Dennoch wollte niemand den Abschied sprechen.

„Also dann...“

„Meld dich bald wieder!“

„Mach ich.
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„Sobald du wieder im Lager bist!“

„Sicher.“

„Versprochen?“

„Versprochen.“

Eine Pause. Gegenseitige Liebesbeteuerungen. Schließlich übernahm sie die Abschiedsworte.

„Ich liebe dich, und ich werde dich immer lieben!“ Dann war die Verbindung unterbrochen. Gedankenverloren ließ er Sand durch seine Finger rieseln. Ein Gegenstand verfing sich in seiner Hand. Verwundert starrte er auf den bleichen, spitzen Stift, betrachtete ihn im schwindenden Licht von allen Seiten, ein Haifischzahn. Der Forscher saß neben seinem Jeep, den Haifischzahn in der Hand, und schauderte.

Er dachte an die Worte seiner Frau, „Ich werde dich immer lieben!“, spürte den Zahn in seiner Faust und fühlte eine Ahnung von Ewigkeit nach seiner Seele greifen.

„Nichts ist mächtiger als die Zeit“, flüsterte er und schloß die Augen, während der Mond sein fahles Licht über die Wüste warf, die vor Jahrmillionen ein Ozean gewesen war.
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Punktestand der Geschichte:   73
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Kommentare zur Story:

  Diese Geschichte hat mir total gut gefallen - gratuliere!!!  
Sibylle  -  27.01.03 17:32

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  Ey! Quiiiieck! Habe gerade gesehen, dass unter meinem Kommentar vom 28. 11. 02 mein Name nicht steht. Hole ich hiermit nach...  
Stefan Steinmetz  -  12.01.03 17:20

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  mhh... eine story mit dieser idee hab ich bisher noch nicht gelesen... beeindruckend und nah geschildert... da bekommt einer in der wüste eine unendliche gewaltige ahnung von zeit... und dass er stirbt ist ja nicht gesagt... oder? den hai hast du sehr schön in die story eingebracht, der perspektivenwechsel und die unterschiedliche zeit sind dir gelungen, kompliment... die beschreibung aus der sicht des haies gefällt mir.  
*Becci*  -  01.12.02 11:45

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  Beider Weg endete an derselben Stelle, beide kamen nicht weiter, beide schickten einen letzten Gruß (einer per Handy, der andere per Zahn).
Interessant wird die Sache durch die unterschiedliche Perspektive und die Zeitverschiebung. Wer denkt schon daran, dass er am Grunde eines ehemaligen Meeres steht, wenn er in der Wüste ist?  
Unbekannt  -  28.11.02 19:22

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  Toll.
*Schnüff*
Ganz toll.

Gruß,
dlfa  
dlfa  -  04.11.02 19:07

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Interessante Kommentare

Kommentar von "Homo Faber" zu "Der Zug"

Hallo, ein schöner text, du stellst deine gedanken gut dar, trifft genau meinen geschmack. lg Holger

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