Amüsantes/Satirisches · Kurzgeschichten

Von:    Rolf-Peter Wille      Mehr vom Autor?

Erstveröffentlichung: 6. März 2002
Bei Webstories eingestellt: 6. März 2002
Anzahl gesehen: 3994
Seiten: 3

Jia Ai-Kuo war ein echter Patriot, noch dazu ein Opernliebhaber; was nun allerdings kein Widerspruch zu sein braucht. Er pflegte alle Opernaufführungen des Nationaltheaters mit großer Regelmäßigkeit zu besuchen, und seine besondere Freude war es, jedesmal beim gemeinsamen öffentlichen Singen der Nationalhymne sowohl seine eigene Stimme als auch sein großes patriotisches Gefühl zur Geltung zu bringen. Er besaß einen wunderbaren hellen Contratenor, weshalb sich seine Frau bereits vorsorglich ein paar Stühle weiter links oder rechts zu platzieren pflegte. Man muß nämlich wissen, daß die meisten Opernbesucher beim Absingen der Nationalhymne ihren Mund, teils aus mangelndem Patriotismus, oder fehlender Musikalität, oder allgemeiner Indifferenz, oder einer Mischung dieser drei Eigenschaften, keinen Millimeter weit öffnen, wodurch Jia sozusagen ?a cappella? fungierte.

Die Vorsorglichkeit der guten Frau Jia sollte sich auch im übrigen als nicht ganz unbegründet erweisen. Denn nachdem ihr Gemahl vor einer Aufführung des Don Giovanni die Nationalhymne wieder einmal mit besonderer Inbrunst hervorgeschmettert hatte, geschah das Unglaubliche: Jia versteinerte festgefroren in patriotisch opernhafter Pose mit offenem Munde und weigerte sich trotz mehrfacher Aufforderungen, Platz zu nehmen. So stand er - ein Opfer des nationalen Magnetismus - als Marmorstatue ehern im Raum, zum Entsetzen der Anwesenden, welche kaum zu atmen wagten. Sämtliche Bemühungen, den Jia hinwegzutragen oder überhaupt nur etwas von der Stelle zu bewegen, scheiterten an der steinernen Schwere des Objekts, die Aufführung mußte verschoben werden, und erst der Autoabschleppdienst konnte Jia nach vielem Geschrei und Hau-ruck in der Vorhalle abstellen, wo er zunächst mit einem großen Garbage Bag dezent verdeckt wurde.

Überhaupt hätte man den ganzen Vorfall gern verdeckt. Doch war er bereits derart ins Bewußtsein der Öffentlichkeit gedrungen, daß eine allgemeine Vertuschung nur die phantastischsten Gerüchte erzeugt hätte, welche ohnehin schon zirkulierten - schließlich versteinert man nicht alle Tage. Auch konnte man den Jia nicht unbefristet als Denkmal des Patriotismus mit einem Garbage Bag geschmückt in der Vorhalle des Nationaltheaters stehenlassen, ohne den Sarkasmus der Oppositionspartei heraufzubeschwören.
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Natürlich erschienen Sensationsberichte in allen Tageszeitungen, und der Fall Jia wurde in nur wenigen Tagen zu einem großen Skandal aufgebläht. Im Li-Fa Yuan (Senat) kam es fast zu Prügeleien, da ein Oppositionsmitglied die Regierungspolitiker beschuldigte, bereits ebenso versteinert zu sein wie Jia, was nur durch die maßgeschneiderten Anzüge verdeckt würde. Hierauf entkleidete sich ein Politiker öffentlich, um zu beweisen, daß er noch aus Fleisch und Blut sei. Der Wirtschaftsminister wies darauf hin, daß Jia nicht nur in irgendeinen Stein verwandelt sei, sondern in wertvollen italienischen Marmor, den man nicht vergeuden solle, sondern vielleicht beim Häuserbau verwerten könne. Manche Musiker munkelten, daß vielleicht bestimmte harmonische Wendungen in der Nationalhymne an der Versteinerung schuld seien. Vielleicht könne man eine ganz neue Instrumentierung vornehmen. Überhaupt - ließen sich die Physiker vernehmen - sollten sich bei leichter Manipulation der Hymne noch ganz andere Resultate erzielen lassen. Sicherlich könne man auch Personen in Gold oder sogar Platin verwandeln, wodurch eine moderne Alchemie von ungeahnter wirtschaftlicher Bedeutung ins Leben gerufen sei. Der sinnvollste Vorschlag - den Opernenthusiasten Jia in der nächsten Aufführung des Don Giovanni als steinernen Gast zu verwenden - kam vom Operndirektor persönlich, scheiterte jedoch an der Unbeweglichkeit des Standbildes.

Der Direktor des Kunstmuseums bat, Jia vor dem Museum als Kunstwerk aufzustellen. Natürlich müsse er zuvor erst neu angestrichen werden. Der Vorschlag, Jia in kleine Steinchen zu zerhacken und als magnetische Souvenirs New Age Fanatikern anzudrehen, scheiterte am heftigen Widerstand der Frau Jia, welche steif und fest behauptete, Jia habe sicherlich nur etwas Schweres gegessen und werde sich nach einiger Zeit schon von selbst wieder lockern.

Man entschied sich endlich, Jia als Denkmal im Zentrum der Stadt aufzustellen, und die Statue durch eine würdige Zeremonie als nationales Denkmal und Touristenattraktion gleichermaßen einzuweihen. Astrologen hatten das Datum auf den 10. Oktober festgelegt, und Geomantiker hatten sich darauf geeinigt, daß der offene Mund Jias dem Regierungspalast zugewandt sein solle. Endlich war der Tag gekommen, an dem die Statue, die im Volksmund schon als ?Chinesische Sphynx? bekannt war, von ihrem Garbage Bag befreit werden sollte.
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Eine gewaltige Menschenmenge hatte sich bereits Stunden zuvor auf dem ...platz versammelt. Doch schon beim Absingen der Nationalhymne kam es zu einem unerwarteten Zwischenfall. Die Statue verlor ihre Haltung und sackte allmählich in sich zusammen, begleitet von einem entsetzlichen steinernen Knirschen. Jia, der offensichtlich nur in einen besonders schweren Schlaf gefallen war, wurde durch das Absingen der Nationalhymne wieder geweckt, gähnte herzhaft - und setzte sich.



(Jia, der zum Glück eine Green Card besaß, konnte sich nach diesem peinlichen Vorfall in die Staaten absetzen, wo er als großer Amerikanischer Patriot zu Ansehen gelangt ist.)
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Punktestand der Geschichte:   60
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Kommentare zur Story:

  Eine herrliche Satire und zwar vom Anfang bis zum Ende. Ich habe den "Patrioten" in einem Rutsch gelesen und muß jetzt noch lachen. Es gibt weiter nichts zu tun, als dir dafür die wohlverdienten 5 Punkte zu geben.   
Majissa  -  31.03.02 13:23

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Interessante Kommentare

Kommentar von "Sabine Müller" zu "Die Lebenswippe"

Hallo, sehr schöne, wahre Gedankengänge! 5 Punkte von mir. lg Sabine

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Kommentar von "axel" zu "Die Belfast Mission - Kapitel 08"

Toll recherchiert oder boxt du selber? Jedenfalls war das Ganze wieder sehr spannend und lebensnah. Ich staune immer wieder über deinen lebendigen Schreibstil. Ein mitreißender Roman.

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