Kapitel 46 – Die Akte John F. Kennedy
Mittlerweile hatte sich der Regen wieder gelegt. Die dunklen Wolken lösten sich langsam auf, man sah stellenweise wieder den hellblauen Himmel und die Sonnenstrahlen kamen zum Vorschein.
Ike preschte sein Pferdegespann über den Feldweg nach Hause, als würde er ein Pferderennen bestreiten. Er hatte Angst um Eloise, dass Anne sie eventuell gefangen hielt und ihn nun zu erpressen versuchte. Oder gar schlimmer, dass sie ihr etwas angetan hätte.
Als er endlich seinen Hof erreichte, sprang er sofort vom Fuhrwagen runter und riss die Haustüre auf. Die Wohnküche war wie immer ordentlich aufgeräumt. Anne und Justin hockten am Tisch. Nichts deutete darauf hin, dass sie die erschreckende Nachricht bereits erfahren hatten. Der Junge war gerade dabei beschäftigt, seine Hausaufgaben zu erledigen, während Anne stapelweise Klassenarbeiten auswertete. Beide blickten ihn verwundert an. Dermaßen aufgebracht hatten sie Ike bisher noch nie erlebt. Er grüßte nicht einmal.
„Wo ist Eloise?!“, brüllte er sogleich.
Anne zuckte mit ihrer Schulter.
„Was weiß ich? Sie ist ausgeritten“, antwortete sie arglos. „Frag mich aber bitte nicht, wohin. Du kennst sie doch. Kaum hörte es zu regnen auf, hatte sie ihr Pferd gesattelt und weg war sie.“
Anne lächelte unsicher und es wirkte auf Ike zunächst scheinheilig. Anne spürte, dass irgendetwas nicht in Ordnung war.
„Was ist denn los? Warum bist du denn so aufgebracht?“
Eloise war also außer Haus und vorerst in Sicherheit. Aber vielleicht war Anne über die Aktivitäten ihres Ehemanns tatsächlich unwissend, schließlich würde sie niemals ihren geliebten Sohn in Gefahr bringen. Die Gelegenheit für eine Aussprache war jetzt günstig, zudem war der Satellit zurzeit hinter der Erdkrümmung verschwunden und empfing keinerlei Signale, somit gelang es der Sicherheitszentrale unmöglich ihre Gespräche abzuhören und aufzuzeichnen. Dies war ihm nur recht. Er beruhigte sich etwas.
Ike stützte seine Hände auf die Tischplatte ab, senkte seinen Kopf und hielt einen Augenblick inne. Dann beichtete er ihnen behutsam, dass ihr Ehemann und Familienvater am Vormittag tödlich verunglückt war. Beide sahen ihn nur verblüfft an. Anne dachte zuerst, dies sei ein makabrer Scherz, welchen sich beide ausgedacht hatten und Charles würde im nächsten Moment lachend hineinkommen und sagen: „Ha, jetzt haben wir euch aber beide reingelegt.
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“
Aber sie sah es ihm schließlich an, dass er keineswegs scherzte. Zwar wirkten Mutter und Sohn etwas geschockt, trotzdem schienen sie diese Nachricht nüchtern aufzunehmen. Justin konzentrierte sich sogar wieder auf seine Hausaufgaben, als würde ihn diese Angelegenheit nichts angehen. Erst als Ike ihr verständlich machte, dass Charles versuchte ihn umzubringen und er daraufhin von einem anderen Schleuser niedergestreckt wurde, hielt Anne sich entsetzt die Hand vor dem Mund.
„Das ist ja schrecklich! Aber wieso wollte Charles dir etwas antun? Ihr habt euch doch in letzter Zeit richtig gut verstanden. Viel besser als am Anfang. Ike, ich verstehe das alles nicht!“
Ike schaute sie erneut warnend an. Diese Gleichgültigkeit von beiden ließ ihn wieder misstrauisch werden. Sie sollte ihm jetzt augenblicklich die ganze Wahrheit sagen oder er müsste sie dazu zwingen. Immerhin war Justin ein wirkungsvolles Druckmittel. Er schlug mit der Faust kräftig auf den Tisch.
„Anne, das Spiel ist aus! Sag mir sofort die Wahrheit! Zwing mich nicht etwas zu tun, was mir absolut widerstrebt!“, forderte er mahnend. „Dein Mann gehörte einer Organisation an, die einen Eingriff auf die Weltgeschichte auszuüben versuchen. Ich spreche hier nicht von einem harmlosen Kavaliersdelikt, sondern von einem gewaltigen Verbrechen, welches die zukünftigen Ereignisse des 20. Jahrhundert zu verändern droht. Es wird sogar das 21. Jahrhundert maßgebend verändern und darüber hinaus Konsequenzen für unser 25. Jahrhundert mit sich ziehen. Charles war ein verfluchter TT, der mich praktisch ausspioniert hatte. Erzähle mir jetzt bloß nicht, dass du von alldem nichts wusstest. Sei jetzt geständig, ansonsten wird man dich verurteilen und außerhalb der Citys verbannen. Dein Sohn wird im Jugendheim enden und du wirst ihn nie wiedersehen. Aber wenn du mit mir kooperierst und mir behilflich bist, die anderen Handlanger aufzuspüren, dann kann ich für euch beide …“
„Er war nicht wirklich mein Ehemann“, unterbrach Anne ihn monoton, „und Justins Vater war dieser Widerling erst recht nicht!“
„Na endlich ist es raus“, stöhnte Justin erleichtert, während er weiter seine Mathematikaufgaben löste.
Etwa ein halbes Jahr zuvor, bevor die Owens in der Time Travel Agentur eingecheckt und sich auf ihre Reise in das 20.
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Jahrhundert begeben hatten, hatte Anne im Internet auf eine Kontaktanzeige geantwortet. Gesucht wurde eine unverheiratete Frau im Alter bis höchstens vierzig Jahren mit mindestens einem Kind, zwecks Auswanderung in die vergangene Welt. Die einzige Voraussetzung dabei war, dass diese Frau eine Lizenz für eine Zeitreise für das Zwanzigste Jahrhundert vorweisen konnte.
Nachdem Anne im Centrum für ein Vorstellungsgespräch eingeladen wurde und man ihr versichert hatte, dass sämtliche Kosten übernommen werden, wurde ihr zugleich die zweite Bedingung auferlegt. Anne musste dazu bereit sein, einen fremden Mann zu heiraten aber ihr wurde im gleichen Atemzug versichert, dass sie keine sexuellen Bedürfnisse nachgehen müsse und nachdem das gesetzliche Probejahr in der vergangenen Welt verstrichen wäre, ohne weiteres die Scheidung einreichen dürfte. Schließlich willigte Anne diese Scheinehe ein, um ihren Sohn eine Zukunft in der vergangenen Welt zu ermöglichen.
Zudem verlangte diese mysteriöse Agentur von ihr, dass sie ihren zugeteilten Schleuser niemals von dieser Vereinbarung unterrichten dürfte, sondern stets die Mrs. Owen vorgaukeln sollte. Und lästige Fragen an Charles Owen waren ebenso nicht erwünscht, andernfalls würde man sie und ihren Jungen sofort wieder zurückholen, zurück in das 25. Jahrhundert. Anne war nie vermögend gewesen sondern lediglich eine Schullehrerin, die sogar zusätzlich bis spät in die Nacht nebenbei als Bedienung in einer Bar arbeiten musste, um sich wenigstens eine Zeitreiselizenz zu erwerben. Nur ihres Sohnes wegen wollte sie unbedingt in das frühe 20. Jahrhundert auswandern, weil sie befürchtete, Justin würde sich ansonsten aufgrund seiner Spielsucht in einer Computerwelt verlieren, beteuerte sie.
Justin hatte sich damals beängstigend in diese digitale Computerwelt abgekapselt. Anne hatte verzweifelt nach einen Ausweg gesucht, ihren Sohn von dieser teuflischen Zockerei zu befreien, aber ihr fehlten die finanziellen Möglichkeiten dazu. Nur ein endgültiger Cut aus seinem bisherigen Leben, davon war sie überzeugt, würde ihren Sohn seine Kindheit wiedergeben. Ike schüttelte mit dem Kopf, denn er glaubte ihre Version nicht auf Anhieb.
„Erzähle mir keinen Scheiß. Das sind doch alles nur billige Ausreden! Die Titanic vor dem Untergang zu bewahren, ist ein massiver Eingriff in die Weltgeschichte.
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Du musst eingeweiht sein ansonsten bist du völlig naiv! Welche Aufgaben wurden dir zugeteilt?!“, brüllte Ike.
„Hast du jemals gesehen, dass ich mit diesem Widerling irgendwelche Zärtlichkeiten ausgetauscht oder überhaupt intensiv mit dem geredet hatte? Hatte Justin ihn jemals seinen Papa genannt?“
Anne brach in Tränen aus denn sie glaubte, dass ihr Lebenstraum nun zu Ende war und Ike sie und ihren Sohn wieder in das 25. Jahrhundert zurückbeordern würde. Dies auch seine Pflicht wäre, egal ob sie in dieses Verbrechen involviert war oder nicht. Eine Scheinehe einzugehen um eine Auswanderung zu ermöglichen, war Betrug und verstieß gegen das UE-Gesetz.
„Ike, du musst mir glauben. Ich sage dir die Wahrheit! Ja, ich gebe es zu, mir war bewusst, dass es bei diesem Arrangement nicht mit rechten Dingen zugeht. Ich musste diese einmalige Gelegenheit aber unbedingt nutzen, um mit Justin aus dem 25. Jahrhundert zu flüchten. Raus aus den Citys und weg von all der Technik. Eine Auswanderung hätte ich mir niemals leisten können. Ich möchte nur mit meinem Sohn in Freiheit, in der Natur leben und eine vernünftige Zukunft haben, mehr nicht. Bitte schick uns nicht wieder zurück. Du kennst Justin und hast es selbst eingesehen, dass ein Leben hier in der vergangenen Welt die Rettung für ihn ist. Tue es wenigstens ihm zuliebe uns beiden nicht an, uns wieder zurück nach United Europe zu beordern!“, flehte sie mit Tränen im Gesicht.
Ike wanderte langsam um den Tisch herum und beobachtete dabei Justin. Zwar schien er nur auf seine Hausaufgaben konzentriert zu sein, aber er schnieft ständig und Tränentropfen hatten die Tinte auf seinem Rechenheftchen verwaschen lassen. Der Junge hatte sich ausgezeichnet integriert und auch er wollte sein neues Leben nicht mehr missen. Justin wollte unbedingt im anfänglichen Zwanzigsten Jahrhundert aufwachsen, gestand er, und nie wieder in die Zukunft zurückkehren. Nie wieder wollte er mit einem Computer etwas zu tun haben, hatte er Ike letztens erst gesagt.
„Verdammt, Anne! Was hast du dir dabei nur gedacht?!“, brüllte Ike in europäischer Sprache. „Das ist hochgradiger Betrug und überdies hast du Beihilfe für eine Zeitmanipulation geleistet! Deine Unwissenheit schützt dich nicht vor Konsequenzen!“
Ike kannte Anne mittlerweile gut genug, um mit Gewissheit abschätzen zu können, dass sie letztendlich die Wahrheit sagte.
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Die Saboteure hatten Anne und Justin nur benutzt, damit Charles ungehindert in das 20. Jahrhundert eingeschleust werden konnte. Für die Befugnis eine Zeitreise zu unternehmen reichte es völlig aus, wenn nur ein Ehepartner die dementsprechende Lizenz absolviert hatte.
„Na schön, ich werde dir jetzt glauben, aber was mit euch geschehen wird, das habe ich nicht zu entscheiden. Ab sofort bleibt ihr beide von der Schule erst mal fern. Es wäre für euch ohnehin zu gefährlich. Hier werden die TT euch niemals aufsuchen, weil sie genau wissen, dass dieses Haus von der Sicherheitszentrale überwacht wird und jederzeit augenblicklich Agenten auftauchen könnten, um sie niederzustrecken. Es gibt eine Lehrerin, die dich als Schuldirektorin vertreten kann?“
Anne nickte niedergeschlagen.
„Okay. Ab sofort seid ihr beide vorerst krankgeschrieben. Mal sehen, was die nächsten Tage so bringen.“
Anne blickte ihn mit großen Augen an und schniefte.
„Du-du schickst uns jetzt nicht zurück nach United Europe?“
Ike blickte sie wütend an und schlug nochmal kräftig auf den Tisch.
„Verdammt, Anne! Warum hast du mir nicht vertraut? Du hättest mich darüber informieren müssen!“
Plötzlich hörten sie Pferdehufen im Hof herumtraben und ein Wiehern und Schnaufen erklangen. Eloise öffnete hektisch die Haustür und strahlte wie der Sonnenschein persönlich. Sie war vorbildlich gekleidet, genauso wie es Ike gerne sah. Sie war mit einer Reiterhose bekleidet und hatte ihre Reiterstiefel angezogen. Ihr kupferroter geflochtener Zopf hing ihr seitlich über die Brust.
Eloise war äußerst aufgeregt und etwas außer Atem, denn sie hielt ein Rehkitz in ihren Armen. Laika hockte daneben, blickte zu ihrem Frauchen hoch und wedelte mit dem Schwanz.
„Schön brav sein, Laika. Du wirst dem kleinen Rehkitz ja nix machen!“, ermahnte Eloise den Schäferhund. „Schaut nur alle her, was ich im Wald gefunden habe. Es war ganz alleine. Bestimmt hat es sich verlaufen und findet nun seine Mutter nicht mehr.“ Sie legte ihre Wange auf das zarte Wesen und schunkelte es sanft, als wäre das Rehkitz ein Baby. „Ich werde es mit warmer Milch aufpäppeln und wenn es groß ist, lass ich es wieder frei.“
Ihr Lächeln entschwand allmählich aus ihrem fröhlichen Sommersprossengesicht, als sie die bedrückte Stimmung in der Küchenstube bemerkte und all die betrübten Gesichter sah.
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Ike sah sie nur ernst an und obwohl Anne ihre Tränen bereits getrocknet hatte, war es ihr anzusehen, dass sie eben noch geweint haben musste. Selbst Justin zeigte beim Anblick dieses Rehkitz wenig Begeisterung, obwohl er in jedes Tier vernarrt war und dieses kleine Reh ihn eigentlich hätte entzücken müssen.
„Was habt ihr denn alle? Ihr macht ja Gesichter wie drei Tage Regenwetter“, bemerkte Eloise verwundert. „Es hat doch aber endlich aufgehört zu regnen“, sagte sie, wobei ihr ein kurzer Lacher entwich.
„Liebes“, sprach Ike besonnen. „Onkel Charles … Onkel Charles ist tot. Es war ein Arbeitsunfall. Heute Vormittag ist er von uns gegangen“, erklärte er ihr gespielt niedergeschlagen.
Einen Augenblick erstarrte Eloise. Sie und Charles waren zwar nie die besten Freunde gewesen, trotzdem erschütterte sie diese Neuigkeit. Eloise bekreuzigte sich, dann umarmte sie schluchzend die vermeintliche Witwe, weinte bitterlich und sprach ihr Beileid aus, während das Rehkitz unbeholfen in der Stube herumtapste und mit der schwanzwedelnden Laika Freundschaft schloss, indem sich beide Tiere ausgiebig beschnupperten.
Am nächsten Tag, am Samstag, fuhr Ike mit seinem Pferdegespann alleine in die Stadt. Carl Clark wohnte mitten in Belfast, fern ab vom Arbeiterviertel, in einem schlichten Reihenhaus. Auf dem Weg dorthin war Ike in Gedanken versunken und dachte darüber nach, wie es nun weitergehen sollte. Alleine würde er es niemals bewältigen können, abertausende Mikrowanzen auf dem Schiff zu installieren.
Plötzlich wurde er von der schrillen Schellenklingel einer Straßenbahn aufgeschreckt, zugleich kreischte der Stahl, als die Straßenbahn abbremste. „Pass doch auf, du dämlicher Hornochse! Du trampelst mit deinen verfluchten Gäulen auf den Bahngleisen rum!“, brüllte der Straßenbahnführer.
Ike zupfte an seiner Schirmmütze, hob seine Hand als Zeichen seines Bedauerns und führte seine Pferde auf die Fahrbahn. Sogleich trötete energisch eine Hupe, weil ein Automobil angefahren kam.
„Hast du keine Augen im Kopf, du Bauerntölpel?!“, brüllte der Fahrer erbost.
Dies waren jene Momente, wo Ike das ruhige Landleben zu schätzen wusste und wenn er sich daran erinnerte, dass es im entfernten Centrum unbeschreiblich stressiger zuging, war dies bereits allein ein Grund, niemals wieder in das 25.
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Jahrhundert zurückzukehren. Er überlegte kurz, ob er Anne und Justin dies antun sollte, obwohl es nichtsdestotrotz seine Pflicht wäre. Seine Entscheidung war maßgebend, ob Mutter und Sohn trotzdem in der vergangenen Welt bleiben durften.
Nachdem Ike beherzt an der Tür der Familie Clark, beziehungsweise Familie Barnes klopfte, öffnete eine Frau mit kurzgelockten, schneeweißem Haar. Ihr faltiges, trotzdem anmutiges Gesicht ließ erahnen, welch wunderschöne Frau sie einst in ihren jungen Jahren gewesen war. Misses Barnes lächelte und blickte ihn gütig an.
„Sie müssen Ike sein. Ich freue mich so sehr, Sie endlich kennen lernen zu dürfen. Ich habe schon so viel von Ihnen gehört. Kommen Sie doch herein. Simon erwartet Sie bereits.“
Die betagte Dame blickte plötzlich ernst drein, griff blitzschnell hinten an seinem Hosenbund und entnahm ihm seine Waffe, woraufhin Ike sie nur verdutzt anschaute. Ein paar Handgriffe genügten, und schon hatte sie das Magazin aus der EM23 gezogen und die Schusswaffe deaktiviert.
„Ihre Waffe war doch gar nicht nötig, Sie sind doch unter Freunden“, lächelte sie wieder und gab ihm seine zerlegte Pistole zurück. Die bejahrte Dame stolzierte voran, führte Ike direkt in die Wohnstube und bat ihn dort zu warten.
„Darf ich Ihnen einen Tee anbieten, Ike?“ Er nahm seine Schirmmütze ab und nickte.
Ike schaute sich um. Er konnte keinen anderen Geruch wahrnehmen, als vom alten Stoff- und Holzmöbeln, ohne das es dabei weder neuwertig oder moderig roch. Bei ihm Zuhause roch es täglich nach dem, was Eloise gekocht hatte oder eben insbesondere an Samstagen, intensiv nach Schmierseife.
Die Wohnung der Barnes sowie die Einrichtung waren im Stil der 1950er Jahre ausgestattet. Auf einem Schränkchen in der Ecke stand sogar ein Fernseher. Abgedeckt und absolut funktionsuntätig, selbstverständlich.
Ike betrachtete eine eingerahmte Fotografie, darauf eine Großfamilie zu sehen war. Schleuser Simon Barnes war schon mehrfacher Großvater und auf diesem Bild hatte er mit Carl Clark absolut nichts gemeinsam, weil er ungewohnt sympathisch und fröhlich wirkte. Er hielt zwei seiner jüngsten Enkeln jeweils in seinen Armen und lächelte dabei vergnügt in die Kamera. Die Barnes waren ein regelrechter Clan und Simon war das stolze Familienoberhaupt, neben ihm seine Gattin und die ältesten Töchter und Söhne standen.
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„Die Zeitreise war das größte Übel, was die Menschheit je angestrebt und erfunden hatte. Aber im Nachhinein ist man bekanntlich schlauer.“
Plötzlich stand Simon Barnes in der Türschwelle, alias Carl Clark. Bekleidet war er nur mit seiner schwarzen Buntfaltenhose und einem ärmellosen Unterhemd. Ike schluckte. Er hatte Mr. Clark noch nie ohne Jackett und Bowler auf dem Haupt gesehen. Er hatte einen Kahlkopf und sein fransiges, schulterlanges Haar hatte er am Hinterkopf zu einem schmalen Zopf gebunden. Auf seinem rechten Unterarm war ein feuerspeiender Drache tätowiert, der eine Sanduhr in seinen Klauen hielt. Der Wächter über die Zeit, fuhr es Ike bei diesem Anblick sofort durch die Gedanken. Das Geräusch der antiken, tickenden Standuhr im Wohnzimmer drang deutlich hervor.
„Darf ich vorstellen“, sagte er, als die Frau mit dem schneeweißen Haar wieder hereintrat und seinen Tee servierte. „Das ist die entzückende Agentin Frederike Barnes, meine ehrenwerte Gattin. Ebenfalls längst pensioniert. Wir sind nun über fünfzig Jahre verheiratet und leben offiziell im Jahre 1955 und genießen das Leben ohne großen technischen Firlefanz. Nun ja, lediglich stören manchmal die Unruhen draußen in der Stadt. Trotzdem lieben wir Belfast und wollen es nicht missen, weil es die Heimat unserer Vorfahren ist und wir uns in Irland wohl fühlen. Ist es nicht so, mein Herz?“
Mrs. Frederike Barnes lächelte nur wortlos und verschwand in die Küchenstube.
„Meine Frau und ich haben beinahe unser halbes Leben damit verbracht, die Geschichtsbücher von vorne bis hinten zu durchqueren. Irgendwann gewöhnt man sich daran, nur mit einem schlichten Schnurtelefon, einer alten Waschmaschine und einem Fernsehapparat ausgestattet zu sein. Das ist schon komfortabel genug, mehr braucht der Mensch doch eigentlich gar nicht. Und jetzt hier im Jahre 1911 hat man nicht einmal das, was wir sogar auch nicht vermissen. Ike, ich gebe dir einen gutgemeinten Tipp. Höre auf einen Pionier der Zeitreisen. Wenn du in Rente gehst, versorge dich ausreichend mit Medizin und wandere irgendwo in die Highlands von Schottland in das 13. Jahrhundert aus. Die Landschaft dort ist einmalig und absolut fantastisch, es gibt keinen schöneren Ort auf der Welt wie die Highlands. Wenn du die Schafscheiße riechst weißt du, dass du in Freiheit lebst.
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Du würdest es lieben“, lächelte er.
Ex-Agentin Frederike griff nach seinem Arm und stach ihm eine Kanüle in die Vene. Der Schleuser Simon Barnes grinste mit gekniffenen Augen Ike verschmitzt an, genauso wie Carl Clark es immer tat, wenn er ihm eins auswischte.
„Nur von biologischer Nahrung halten wir weiterhin nichts. Fredericke und ich bevorzugen immer noch synthetische Nahrung“, meinte er.
„Simon, du wolltest mich über die Zeitreisen aufklären, ansonsten würde ich diese Mission nicht überleben, behauptest du“, sagte Ike und nippte an seiner Teetasse.
„Nun ja, Ike, du bist in einer Zeit aufgewachsen, in der Zeitreisen völlig selbstverständlich und normal sind. Damals vor dreißig Jahren, kurz bevor das Archiv und der Checkpoint in der TTA aktiviert wurden, gehörte ich unter den zehn Auserwählten, die als Erster das Zeitfenster überschreiten sollten. Wir hatten uns damals alle freiwillig als Versuchskaninchen zur Verfügung gestellt. Zahlreiche Experimente wurden mit den ersten Geheimagenten durchgeführt. Zum Glück war ich erst als Siebter an der Reihe, denn die anderen vor mir, außer Henry, waren danach entweder verschollen oder endeten als Müsli an ihrem Landungsort. Henry war schließlich der erste Mensch gewesen, der eine Zeitreise erfolgreich überstanden hatte, also lebendig. Zudem stellte es sich heraus, das eine lebensbedrohliche Gefahr besteht, wenn man in die gleiche Zeitepoche zurückreist, dort wo man schon einmal gewesen war und seinem Pendant, seinem eigenen Ich begegnet. Es ist sogar allen Medizinern bislang ein Geheimnis geblieben, weshalb das andere Ich bei seiner eigenen Begegnung sofort ohnmächtig wird und in ein Koma verfällt. Geschieht dies, fällt das andere Ich logischerweise ebenfalls in ein Koma. Sogar heute noch, dreißig Jahre später, liegen einige Versuchspersonen, doppelt wohlbemerkt, als wären sie Klone, auf einigen Krankenstationen des Centrums im Wachkoma.“
Ike nickte während er seinen Tee trank.
„Barnes, das ist mir bereits bekannt. Bitte komme zur Sache“, erwiderte er im respektvollen Ton. Simon lächelte wieder, wie Mr. Clark, und während er einen Laptop aus dem Wohnzimmerschrank herausholte, fuhr er fort.
„Daraufhin wurde ein Sicherheitssystem in jedem Beamer und auch in dem Archiv installiert, damit solche Unfälle niemals wieder geschehen. Versucht man also heutzutage in eine Zeitepoche zu reisen, wobei die Wahrscheinlichkeit sich selbst zu begegnen gegeben ist, erkennt dies das Archiv und die Zeitreise wird blockiert.
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Aber unserem Schlitzohr Seniore Vincenzo Falcone gelang es damals bei der Hindenburg Affäre, dieses Sicherheitssystem zu umgehen. Dieser Halunke kennt dieses Geheimnis und ich verwette sogar meine heißgeliebte Frederike darauf, dass er es ist, der deinen Funkpeilsender deaktiviert hat, beziehungsweise es noch tun wird, weshalb du eigentlich aus der Belfast Mission vorzeitig hättest ausscheiden sollen.“
Der pensionierte Schleuser tippte etliche Zahlencodes in seinen Laptop ein und eröffnete somit die Website des UE-Geheimdienstes. Der Satellit überflog grad Europa und die Internetverbindung war demnach optimal. Ike war erstaunt. Barnes war zwar ein pensionierter Rentner und trotzdem verfügte er immer noch Zugriff auf strenggeheime Daten, die sonst nur UE-Topagenten vorbehalten waren. Aber Simon Barnes war ein Pionier der Zeitreisen und galt unter den Schleusern als eine lebende Legende. Genauso wie Henry.
„Ich rate dir, lasse dich auf nichts ein! Lasse es nicht zu, dass Vincenzo deinen Funkpeilsender deaktiviert. Egal welchen Grund er dir auch vorgeben wird!“, ermahnte Simon Barnes mit erhobenem Zeigefinger. „Du begibst dich ansonsten auf einem schmalen Grat. Aber da nun dein implantierter Mikrochip offenbar bald deaktiviert wird, kann ich nur auf deinen gesunden Menschenverstand appellieren. Noch kannst du dies verhindern“, erklärte Simon Barnes. „Wisse, Vincenzo war ein Gauner und wird es im Grunde immer bleiben, selbst wenn er als Undercoveragent tätig ist und offiziell der Regierung dient. Nur ihm haben wir diesen Schlamassel zu verdanken. Mit seinem törichten Versuch, damals die Hindenburg vor der Katastrophe zu bewahren, hatte er eine Pforte zu einer neuen Welt eröffnet. Eine Welt, in der die Hindenburgkatastrophe im Jahre 1937 niemals geschah.“
„Du redest von einem parallelen Universum?“, fragte Ike interessiert. „Bislang gilt es nur als eine Theorie. Ich persönlich glaube nicht daran, sondern nur das die Gegenwart existiert. Verändert man die Vergangenheit, wird es einfach in die Gegenwart integriert. Aber eine parallele Welt wird dadurch nicht erschaffen.“
Simon grinste.
„Albert Einsteins Relativitätstheorie ist nach unserer Gegenwart hier und jetzt seit sechs Jahren auch bloß eine Theorie, aber in unserem Jahrhundert, in United Europe, längst real und bewiesen.
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Geh doch mal raus und erzähle den Akteuren, dass Zeitreisen so natürlich sind, wie ihre Kreuzfahrten über die Meere. Vor Columbus galt sogar dies für unmöglich. Gewiss werden sie ähnlich antworten, wie du jetzt. Lichtgeschwindigkeit, Mondlandung, Gravitation des gesamten Universums, schwarze Löcher im Weltall, dahinter sich möglicherweise weitere unendliche Universen befinden … All das würde ihre Vorstellungskraft sicherlich sprengen. Du meinst also, parallele Welten seien Utopie, aber die Zeitreisen empfindest du als normal. Begreife endlich, dass die Zeitreisen die parallelen Universen erst zustande brachten!“
Ikes schmunzelnde Mundwinkel sanken, während der alte Hase einfach fortfuhr.
„Aber diese parallele Welt hatten Henry und ich damals wieder geschlossen, indem wir Vincenzo, nachdem er das Luftschiff Hindenburg unbeschadet in Lakehurst New Jersey landete, nach einer langen Hetzjagd bis zum Central Park in New York einfach erschossen hatten. Dann reisten wir wieder zurück nach Nazideutschland, nach Frankfurt am Main und verhafteten Vincenzo noch bevor er an Bord des Zeppelins Hindenburg eincheckte. Somit blieb unsere Weltgeschichte erhalten und der Spuk von einem parallelen Universum schien vorbei zu sein, eher gesagt, hatte sich ein paralleles Universum erst gar nicht ereignet. Hätten wir Vincenzo nicht liquidiert, würde er in einer Welt leben, in der das Luftschiff Hindenburg noch existierte. In dieser Welt würden die geschichtlichen Ereignisse etwas verändert ihren Lauf nehmen.“
Simon Barnes öffnete im Laptop einen Link, woraufhin die uralte Geheimakte des Attentates auf John F. Kennedy zum Vorschein kam. Ike winkte sofort ab, denn die Akte JFK war längst nicht mehr unter Verschluss und wurde bereits seit Urzeiten sogar in Grundschulen ausdiskutiert. Und es wurde weiterhin gerätselt und spekuliert, wer die wahren Attentäter gewesen waren. Letztendlich interessierte sich im 25. Jahrhundert niemand mehr dafür, wer John F. Kennedy erschossen hatte.
„Das ist doch ein ziemlich alter Hut, welchen du mir präsentieren willst, Barnes“, entgegnete ihm Ike spöttisch. „In der Akte wird zwar vom damaligen FBI und CIA eingeräumt, dass Lee Harvey Oswald nicht der alleinige Schütze war, der damals den Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika erschossen hatte, jedoch bestreitet der US-Secret Service in dieser Akte weiterhin, sie wüssten nicht, wer die anderen Schützen waren.
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Lächerlich, wiedermal eine Lüge! Die Russen steckten damals dahinter, Fidel Castro vielleicht oder sogar der eigene Geheimdienst. Wer auch immer, es blieb und bleibt ein Mysterium, denn Oswald konnte dieses Attentat unmöglich alleine durchgeführt haben. “
„Das mein Freund, das ist nicht die ganze Wahrheit. Ike …“, sprach Barnes im ruhigen Ton weiter. „Die US-Regierung hatte damals in dieser Akte nicht gelogen, denn sie wussten es tatsächlich nicht, wer die Mittäter von Lee Harvey Oswald waren.“
Simon Barnes nippte an seiner Teetasse, bevor er weitersprach.
„Zwei unserer Agenten hatten die tödlichen Schüsse auf Kennedy verübt und sind danach spurlos verschwunden.“ Er seufzte kurz auf. „Ich wurde damals in das Jahr 1960 nach Dallas eingeschleust, hatte drei Jahre lang observiert und schließlich ohne Oswalds Ahnung sein Attentat tatkräftig unterstützt und in die Wege geleitet. Übrigens war es Henry, der diese undankbare Aufgabe übernahm. Ihm gelang schließlich dieser glückliche Treffer in die Stirn des damaligen Präsidenten, während Lee Harvey Oswald von hinten aus dem Hinterhalt des Hochhauses attackiert hatte. Hunderte Augenzeugen und Millionen Fernsehzuschauer waren schockiert und Oswald musste vermutlich perplex gewesen sein als er realisierte, dass Kennedys Kopf plötzlich nach hinten geschleudert wurde, weil der Todesschuss von vorne und nicht von hinten knallte, obwohl er gerade dabei war, sein Repetiergewehr erneut durchzuladen. Er behauptete damals, er sei nur der Sündenbock gewesen. In gewisser Weise behielt er damit sogar recht.“
Einen Moment wirkte Simon Barnes andächtig.
„John Fitzgerald Kennedy wurde genauso wie Gaius Julius Cäsar ermordet. Inmitten der Öffentlichkeit; jeder hatte es gesehen und trotzdem wusste niemand genau, wer der eigentliche Attentäter gewesen war. Ja, Ike. Wir haben Kennedy erschossen. Wir … Der UE-Geheimdienst aus der fernen Zukunft. Das ist der Grund, weshalb die Menschheit in der vergangenen Welt niemals die Wahrheit erfahren hatte … Weil eigentlich Zeitreisende Kennedy erschossen hatten.“
Ike schaute diesmal genauer hin, als Simon ihm den berühmten Zabruder-Film auf dem Laptop unzensiert abspielte. Als dann die tödlichen Schüsse krachten, das Chaos ausbrach und etliche Menschen durcheinander rannten, stoppte er den Film an einer bestimmten Stelle, dort, wo eine Hecke angelegt war.
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Er ließ diesen Film langsam und bildweise ablaufen. Ike sah deutlich, wie ein Mann mit Hut und Gewehr aus dem Gebüsch flüchtete und im nächsten Moment in der Menschenmenge spurlos verschwand. Simon Barnes lächelte.
„Und schwupp, weg war er. Durch ein Zeitfenster geschlüpft. Sehr gewagt, aber Henry war schon immer draufgängerisch veranlagt und diese Generalprobe war zugleich die Hauptvorstellung gewesen. Hierbei durfte kein Fehler passieren, denn diese Gelegenheit war einmalig. Hätte Henry danebengeschossen, wäre diese Mission auf ewig gescheitert gewesen. Es gibt Ereignisse, die man nur ein einziges Mal berichtigen kann.“
„Was? Henry hatte JFK getötet? Aber wieso?“, fragte Ike aufgebracht. „Um Himmels willen, weshalb haben unsere Leute John F. Kennedy, einen Hauptakteur des Zwanzigsten Jahrhunderts, einfach abgeknallt?“, fragte Ike völlig überrascht.
„Ganz einfach, weil plötzlich der Masteralarm in der Sicherheitszentrale ertönte und die Meldung hereinkam, dass Kennedy zwar angeschossen wurde, aber überlebt hatte. Oswald hatte ihn nur lebensbedrohlich verletzt, mehr nicht.“
Ike holte vor Aufregung seinen Tabaksäckchen heraus und war gerade dabei sich eine Zigarette zu drehen, aber Agentin Frederike Barnes wankte mit dem Zeigefinger und meinte, dass in ihrem Haus nicht geraucht wird. Egal in welcher Zeitepoche sie sich aufhalten würde. Ike gehorchte und packte seinen Tabakteufel wieder weg.
„Die geschichtlichen Ereignisse in dem parallelen Universum gleichen zwar die, wie sie in unserer Welt geschahen, aber manchmal weichen sie dennoch ab. Das beruht deswegen, weil Vincenzo die Hindenburg Katastrophe verhindert hatte. Insbesondere ist das 20. und 21. Jahrhundert davon betroffen. Zu Beginn des 22. Jahrhundert zweigen sich beide Welten drastisch voneinander ab und zwei unterschiedliche Welten entstanden. Nun versucht jedes Universum beharrlich, seine Weltgeschichte in der Vergangenheit zu berichtigen. Wir genauso wie die Anderen. Genauso wie jetzt.“
„Wie … Jetzt?“, hakte Ike irritiert nach.
„Möglich ist, dass dieses parallele Universum doch nicht von uns geschlossen wurde. Es muss irgendwo in einem Jahrhundert eine Lücke geben, ein Ereignis was sich ereignet oder nicht ereignet hatte, etwas was wir übersehen und nicht berichtigen konnten.
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Ein verdammtes Zeitparadox war geschehen und nun existieren wahrscheinlich zwei Universen … Zwei verschiedene Welten mit ein und derselben Vergangenheit.“
„Du meinst also, die Anderen können einfach in unsere Welt eingreifen und unsere Geschichte verändern? Und wir könnten auch ihre Weltgeschichte verändern?“
„Nein, nein, nein, … Nein. So einfach ist das auch wieder nicht. In ihrer veränderten Gegenwart können wir ebenso nicht reisen, wie sie in unsere. Aber wir haben alle eine gemeinsame Vergangenheit, wie jetzt. Wir befinden uns zurzeit VOR dem Untergang der Titanic und diese Vergangenheit gleicht der ihrer. Noch können wir dieses Desaster verhindern, noch können wir die Weltgeschichte so deichseln, wie sie ursprünglich war. Jetzt haben wir die Gelegenheit, das parallele Universum endgültig zu schließen. Wir müssen die Anderen besiegen und die Titanic zum Sinken bringen. Das ist unsere Mission.“
„Wer sind die Anderen?“, fragte Ike.
„Na wer wohl? Die Vereinigten Staaten von Amerika natürlich. Scheinbar existiert in der anderen Welt, in dem parallelen Universum, nur die USA und Europa ist stattdessen vernichtet worden. Dort ist es sozusagen spiegelverkehrt, verstehst du? Der ganze Bockmist fing nur an, weil Vincenzo eine Welt erschaffen hatte, in der die Hindenburgkatastrophe nicht geschah. In dieser Welt muss sich die damalige Weltherrschaft USA durchgesetzt haben. Dort auf eigenem Land hatte sich scheinbar nur wenig atomare Zerstörung ereignet, stattdessen wurde Europa komplett vernichtet.“
„Aber du sagtest doch, du und Henry hatten Vincenzo eliminiert und somit diese parallele Welt wieder verschlossen. Außerdem, wie sollten die Amerikaner an diese Technologie gelangt sein? Es waren französische und niederländische Wissenschaftler, die mithilfe des außerirdischen Gesteins die Zeitreisen erst ermöglichten. Die Außerirdischen hatten Europa belagert, nicht die damalige USA“, argumentierte Ike.
„Ein guter Aspekt, mein Freund. Wie gelang es der anderen Seite aus dem parallelen Universum, die Zeitreisen zu ermöglichen?“, grinste Simon wie Carl Clark.
Simon Barnes öffnete einen weiteren Link. Er präsentierte Ike eine weitere Akte, die vor der gesamten Menschheit auf dem Planet Erde ebenfalls jahrhundertelang verborgen wurde. Das Geheimnis der Area 51.
„Sieh nur her, das ist die Wahrheit.
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1947 stürzte in Roswell New Mexico angeblich ein UFO ab. Ein UFO ist lediglich das Kürzel für: Unbekanntes Flugobjekt, mehr nicht und hat erstmal mit außerirdischen Kontakt nichts zu tun. Die erste offizielle Meldung lautete, es handele sich dabei um eine fliegende Untertasse, ein außerirdisches Raumschiff. Es wurden sogar tote Aliens geborgen, hieß es später in den frühen Neunzigern. Angeblich wurde das außerirdische Wrack mitsamt den Herrschaften in das Militärsperrgebiet Area 51 verfrachtet. Doch dann wurde dies dementiert und plötzlich behauptete die US-Regierung, es handelte sich dabei nur um einen harmlosen, zerstörten Wetterballon.“
Simon Barnes hielt einen Moment inne und Ike blickte ihn weiterhin wissbegierig an.
„Ja … und? Es waren doch auch nur Wrackteile eines Wetterballons gefunden worden. Die Menschen damals hatten sich zuerst geirrt, weil damals in den 1940ern eine regelrechte UFO-Manie herrschte. Man kam damals zum allerersten Mal zur Erkenntnis, dass wir möglicherweise nicht die einzigen Lebewesen im unendlichen Universum sein könnten. Aber es war kein außerirdisches Raumschiff gewesen. Früher war die Menschheit von Science-Fiction fasziniert. Sie glaubten fest an grüne Marsmännchen und als die silbernen Folien von heimischen Farmern gefunden wurden, waren sie überzeugt gewesen: Ein außerirdisches UFO sei abgestürzt.“
Simon Barnes nickte.
„Richtig, aber es war kein Wetterballon gewesen sondern tatsächlich ein UFO. Aber wären es Außerirdische gewesen, hätte die Menschheit diese sensationelle Entdeckung doch niemals verheimlicht. Weshalb auch? Der Welt, eine außerirdische Kultur zu präsentieren, wäre für die USA von unermesslichem Wert gewesen. Schon alleine deswegen, ihren Konkurrenten, den Russen zu zeigen, schaut mal her, was wir hier sensationelles gefunden haben.“
Barnes seufzte bevor er fortfuhr.
„Die Wissenschaftler hätten sich mit den begehrtesten Preisen brüsten können, dies hätte gar ihre Mondlandung in den Schatten gestellt. Aber die US-Regierung dementierte und versuchte ihren unglaublichen Fund zu vertuschen, weil das abgestürzte Flugobjekt nach späteren Erkenntnissen kein Raumschiff war, sondern eine fliegende Zeitmaschine. Es hat scheinbar fünf Jahrhunderte gedauert, bis die Amis das abgestürzte Wrack rekonstruiert und zum Laufen gebracht haben.“
Der pensionierte Schleuser öffnete einen weiteren Link und zeigte ihm Beweisfotos von großen, silbernen Wrackteilen, die einem Flugzeugabsturz glichen aber niemals von einen Wetterballon sein konnten.
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Ike erinnerte sich, als er ein Jahr zuvor den zerstörten Felsen vorfand. Das war des Rätsels Lösung. Ein Flugobjekt dieser Größenordnung hätte bei der Landung diesen Felsen ohne weiteres zermalmen können. War dieses abgestürzte Flugobjekt vielleicht dasselbe, was in Roswell New Mexico verunglückt war?
„Kennedy unterstützte damals zwar die Raumfahrt und kündigte die Mondlandung innerhalb der sechziger Jahre an, aber insgeheim war er besessen davon, die Zeitreisen mithilfe des abgestürzten Wracks und der Raumfahrttechnik zu entwickeln. Was damals 1947 in Roswell tatsächlich abgestürzt war, war weder ein Wetterballon und erst recht kein außerirdisches UFO gewesen, sondern eine fliegende Zeitmaschine, mit Besatzung an Bord. Und sie waren normale Menschen gewesen“, sagte Simon Barnes. „Aber sein Nachfolger, der damalige Vizepräsident Lyndon B. Johnson, hielt Kennedys und dessen Secret Service Erkenntnisse nur für albernen Science-Fiction. Die Kubakrise, der Vietnamkrieg und das Säbelrasseln mit Russland, all das war eigentlich nur nebensächlich. Der Präsident JFK strebte nach der wahren Macht: Die Zeitreise. Nicht die Atombombe, erkannte Kennedy, sondern die Zeitreise ist die wahre Macht. Aber damals wusste noch niemand genau, dass es sich dabei tatsächlich um eine Zeitmaschine handelte. Es war damals nur eine Vermutung gewesen. Nur deswegen wurde auf John Fitzgerald Kennedy ein Attentat verübt worden, weil man ihn für verrückt hielt, weil die Regierung sich eher auf den Vietnam Krieg konzentrieren wollte. Und Oswald, der ohnehin ein Kommunist war und eine lange Zeit in der damaligen Sowjetunion gelebt hatte, war der perfekte Laufbursche gewesen, zumal er zum russischen KGB Kontakte pflegte und Kennedy abgründig hasste. In der anderen Welt überlebte JFK und fünfhundert Jahre später, war die USA Herr über die Zeitreise und der Weltgeschichte.“
Plötzlich rief es aus der Küchenstube: „Simon, komm doch bitte mal zu mir!“
Der alte Hase der Schleuser lächelte und erhob sich aus dem Sofa.
„Entschuldige mich, meine bessere Hälfte verlangt nach mir. Da muss ich doch aber geschwind Folge leisten“, lächelte er, sodass sein gezwirbelter Schnauzbart sich bewegte.
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„Aber lass dir eins gesagt sein … Die Titanic ist ein großes Problem, denn die Anderen versuchen diese Katastrophe zu verhindern und wir haben es mit aller Wahrscheinlichkeit mit den Amis zu tun. Weshalb, das wissen wir noch nicht. Unangenehme Sache das, weil hierbei niemand der Gute oder der Böse ist. Jeder versucht nur, seine Weltgeschichte und somit seine Zukunft zu erhalten. Wir müssen einen Kompromiss finden, zwischen der parallelen Welt und unserer. Deswegen ist die Belfast Mission so wichtig, denn dann klappt es auch mit dem Nachbarn“, zwinkerte er ihm zu.
„Simon!“, rief Agentin Fredericke erneut, woraufhin er einfach die Wohnstube verließ.
Ike starrte einen Augenblick apathisch vor sich hin, dann blickte er auf den Laptop. Simon Barnes war unvorsichtig gewesen und hatte seinen Account nicht abgemeldet. Sein Herz pochte wild, dies könnte seine Lösung sein. Mission hin oder her, letztendlich zählte für ihn seit beinahe drei Jahren nur wie er es anstellen könnte, mit Eloise für immer zusammenzubleiben, ohne dabei verfolgt zu werden. Die Website des UE-Geheimdienstes war noch geöffnet und Ike konnte darin unbekümmert stöbern, während Simon Barnes abwesend war.
In Windeseile fotografierte er mit seiner Nickelbrille sämtliche Passwörter aller aktiven Personen, die aktuell durch Zeit und Raum reisten. Sogar Henrys Passwort speicherte er und auch diese, aus den vergangenen Missionen. Ike zuckte kurz mit dem Mund, als ihm sogar sämtliche Codes für die Auflösung des Gemeinschaftskontos aus der vergangenen Welt präsentiert wurden.
Warum nicht? Man weiß ja nie, wofür man es einmal gebrauch könnte, dachte er sich und speicherte die Daten in den Mikrospeicher seiner Nickelbrille. Als er schließlich Schritte hörte, nahm er die Brille hastig ab und setzte sich wieder brav auf das Sofa zurück. Scheinheilig tat er so, als wäre er in Gedanken versunken.
„Ike, hüte dich vor Vincenzo! Er lauert nur nach einer Gelegenheit, dieses parallele Universum zu erhalten. Er beabsichtigt nur dort wieder hineinzugelangen, um seine Liebe, Helene Schneider, wieder zu begegnen. Noch können wir die andere Welt problemlos schließen. Ihm geht es nur darum, diese deutsche junge Frau, Helene Schneider, zu retten. Sei gewiss, diese Person ist für die Geschichte absolut unbedeutend. Lasse dich darauf niemals ein, egal, was er dir versprechen wird, ansonsten eröffnest du die Pforte eines parallelem Universum und dann garantiere ich dir, wird United Europe in spätestens zehn Jahren nicht mehr existieren“, sprach er besonnen.
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Ike blinzelte verlegen und spielte weiterhin den unwissenden Jungen.
„Nicht mehr existieren? Was wird denn deiner Meinung nach geschehen?“
„Sieh dir doch United Europe nur an, welch Chaos dort herrscht. Die Atmosphäre ist verseucht, Trümmerteile vom Mars stürzen regelmäßig auf die Erde und der Jupiter leuchtet nachts heller, als einst der Mond. Das ist der Vorbote eines totalen Weltuntergangs, das musst du doch erkennen. Verstehe doch, die Zeitreisen haben den gesamten Kosmos auf den Kopf gestellt und wenn das so weiter geht, dann …“
„Was dann?“, hakte Ike sogleich nach.
Der Schleuser Simon Barnes klatschte seine Hände zusammen, rieb sie und grinste ihn an.
„Dann Bumm-Peng, mein Freund. Dann bricht das Zeitkontinuum endgültig zusammen. Dieses ständige Hin und Her hält das Universum nicht weiter stand. Ein Urknall wird möglicherweise die Folge sein und alles beginnt wieder von vorne. Deshalb haben meine Frau und ich uns entschieden, für immer in den Fünfzigern zu verbringen. Schließlich haben wir genügend Katastrophen leibhaftig gesehen und miterlebt aber einen totalen Weltuntergang zu erleben, darauf verzichten wir auf unsere alten Tage. In den Fünfzigern wollen wir gerne unseren Ruhestand genießen und dann letztendlich irgendwann in den Siebzigern davon scheiden, wie ich es gerne bezeichne. Möge der allmächtige Gott uns diesen Lebenswunsch erfüllen. Amen“, lächelte er.
Ike bedankte sich für die Einladung und als er gerade durch die Haustüre gehen wollte, erinnerte ihn Simon daran, dass er am Mittwoch unbedingt um 18.15 Uhr im Arbeiterviertel erscheinen müsste. Es war von der Sicherheitszentrale beschlossen worden, dass nicht Ike sondern Simon Barnes, alias Carl Clark, die Belfast Mission verlassen sollte. Ike soll unbedingt Zeuge sein, wie Simon Barnes durch das Zeitfenster verschwinden und somit Carl Clark offiziell einen Heldentod sterben wird. Ike musste unbedingt während seines Exits anwesend sein, damit er später den Tod des Vorarbeiters der Elektriker, Mr. Clark, glaubwürdig bezeugen könnte.
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