Kurzgeschichten · Schauriges

Von:    Christian Dolle      Mehr vom Autor?

Erstveröffentlichung: 9. Januar 2024
Bei Webstories eingestellt: 9. Januar 2024
Anzahl gesehen: 1050
Seiten: 6

Der andere setzte zum Sprung an. Alex stemmte seinen rechten Fuß quergestellt nach hinten, den linken ein wenig nach vorne. Er verlagerte sein Gewicht ebenfalls nach vorn, streckte die Arme zum Schutz aus. All seine Muskeln waren angespannt, sein Atem ging stoßweise, sein Blick fing jede Regung seines Gegners ein.

Noch nie in seinem Leben war er derart angespannt gewesen. Ja, er hatte immer Sport gemacht, früher Fußball, dann eine Weile Judo, inzwischen ging er noch einmal in der Woche ins Studio. Nicht, um übermäßig Muskeln aufzubauen, aber um fit zu bleiben, weil er sonst die meiste Zeit am Schreibtisch saß.

Jedenfalls hielt er sich für einigermaßen durchtrainiert, vertraute seinem Körper. Jetzt aber wusste er nicht, was gleich passieren würde. Er konnte wegrutschen, er konnte den anderen nicht zu greifen bekommen, der könnte so viel Wucht in seinen Sprung legen, dass Alex dem nichts entgegenzusetzen hatte. Dann würde er von dieser Säule abrutschen oder auch sie beide.

In einigen Sekunden konnte er in die Tiefe stürzen und unten auf diesen widerlichen Metallspitzen aufkommen. Würde es wehtun? Würde er überhaupt noch etwas spüren? Oder schaltete das Bewusstsein vorher ab, so dass er seinen Tod schon nicht mehr miterlebte? Noch nie war er in einer solchen Situation, noch nie hatte er Todesangst gehabt.

Sicher, er war Horroryoutuber, spielte immer wieder mit der Angst. Seinen Zuschauern hatte er einmal weisgemacht, er habe eine verfluchte Puppe zugeschickt bekommen, die sich jetzt nachts von selbst bewege und dann morgens an immer anderen Orten auftauchte. Das war natürlich alles Show. Ebenso die meisten Jumpscares bei Spielen, die er zockte. Sicher, er erschreckte sich, doch oft übertrieb er es, weil er wusste, dass seine Zuschauer es sehen wollten.

Wirklich Angst hatte er selten. Als Kind vielleicht, wenn er nach dem Fußballtraining durch einen dunklen Park nach Hause laufen musste und in jedem Baumstamm, jeder knorrigen Wurzel eine seltsame Gestalt gesehen hatte. Vor Matheklausuren in der Schule hatte er Angst gehabt, vor dem Finanzamt vielleicht.

Oder einmal als er nachts mit dem Auto von einer Party nach Hause gefahren war und plötzlich dicht vor ihm ein Reh die Straße überquert hatte. Das war ein Schockmoment und während er noch gebremst hatte und sich nicht sicher sein konnte, ob er das Tier traf, hatte er wirkliche Angst gehabt. Aber auch da eben keine Todesangst.
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Das hier war etwas ganz anderes. Er sah es kommen und zudem sah er den Abgrund und dort unten die Stacheln, auf die er stürzen konnte. So absurd die Situation auch war, so real war ihm der eigene Tod vor Augen. Dem war er noch nie so nahe gewesen, hatte zum Glück nie spüren müssen, wie kostbar das Leben auf einmal wird, wenn es zu enden droht, und wie sehr man sich daran klammerte.

Dann passierte es. Der andere sprang ab. Alex Herz und Atmung setzten für einen Augenblick aus. Er sah seinen Gegner auf sich zufliegen, stemmte sich nach vorne. Allerdings kam es anders als erwartet, denn der andere Spieler hatte wohl selbst Angst und diese Unsicherheit blockierte ihn. Auf jeden Fall sprang er viel zu kurz, berührte gerade einmal Alex zu Fäusten geballte Hände, bevor sein Schwung nicht mehr ausreichte und er mit den Füßen nicht bis auf die Plattform kam.

Für den Bruchteil einer Sekunde sah Alex in die vor Schreck weit aufgerissenen Augen seines Kontrahenten, versuchte aus einem Instinkt heraus dessen Hände zu greifen. Doch es war zu spät. Mit einem verzweifelten Schrei stürzte der vor ihm in die tiefe, einen kurzen Moment später gab es das hässliche Geräusch des Aufpralls, begleitet von einem erstickten Röcheln.

Gegen seinen Willen beugte Ales sich über die Kante und sah nach unten. Der andere hatte den Boden nicht einmal erreicht, so sah es aus, die metallenen Spitzen hatten seine Brust und seinen Bauch durchbohrt, ragten wie rotgefärbte Speere daraus hervor. Der Körper zockte noch, während Blut auf den Boden tropfte und jeder Tropfen einen viel zu lauten, einen anklagenden Hall erzeigte.

Die Augen des Spielers waren noch geöffnet, schienen Alex anzustarren. Seine Arme suchten verzweifelt nach etwas, was sie greifen konnten, nach einem letzten Halt, bevor sie schließlich schlaff herunterfielen.

Erst jetzt wandte Alex sich ab, sog Luft in seine Lungen, auch wenn sein Brustkorb von etwas zusammengedrückt zu werden schien. Es war nicht seine Schuld, formierte sich ein Gedanke in seinem Kopf, der andere war abgestürzt, er hatte ihn nicht gestoßen. Dabei war es im Grunde egal, fiel ihm anschließend ein, schließlich konnten sie alle nicht aus dieser Situation heraus, mussten sich dem Spiel fügen.

Und dennoch klammerte Alex‘ Unterbewusstsein sich an diesen Strohhalm, dass nicht er den anderen in den Tod gestoßen hatte, sondern er die Plattform schlicht verfehlt hatte.
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Vermutlich ein natürlicher Schutzmechanismus, was auch immer, auf jeden Fall half es ein bisschen, um angesichts dieses Wahnsinns, in den sie geraten waren, nicht vollkommen den Verstand zu verlieren.

Am liebsten hätte er sich in diesem Moment einfach auf den Boden geworfen und geheult, es war alles so schwer zu ertragen. Jederzeit konnte ihm selbst der Sturz in die Tiefe drohen, sie mussten andere aus dem Weg räumen, um selbst leben zu können.

Das Schlimmste aber war diese Ausweglosigkeit. Dass sie keine Chance hatten, all dem hier zu entkommen oder es wenigstens zu versuchen. Sie waren den Regeln des Spiels ausgeliefert und es gab absolut gar keine Option, sich irgendwie dagegen zu wehren. Gerade diese Hilflosigkeit machte Alex am meisten zu schaffen.

Sie kämpften ja nicht, um hier rauszukommen, zumindest hatte ihnen die Stimme nicht einmal in Aussicht gestellt, dass das passieren könnte. Sie spielten das Spiel, ohne zu wissen warum, ohne zu ahnen, was sie danach erwartete. Wenn sie wenigstens um ihre Freiheit spielen würden, um ihr Leben.

Aber da gab es eine Stimme in Alex‘ Kopf, die ihm einflüsterte, dass die sie ja nicht überleben lassen konnten, weil sie dann sofort zur Polizei gehen würden. Das Risiko dürften die, die hierfür verantwortlich waren, wohl kaum eingehen. Andererseits... wer würde ihnen eine solche Geschichte denn glauben?



In den folgenden Runden passierte zweierlei. Zum einen gab es eine Situation zwischen Team Blau und Team Rot, die Alex und wohl auch niemand sonst so erwartet hätte. Eine Spielerin aus dem blauen Team würfelte eine Fünf und hätte damit einen der Roten rausschmeißen müssen. Sie sprang ein Feld vor, dann noch eines und ein weiteres.

Dabei beobachtete der Spieler des roten Teams sie natürlich genau. Es war ein kräftiger junger Mann, die blaue Spielerin eine eher zierliche Frau. Gut, das musste nichts heißen, doch alle Wahrscheinlichkeiten sprachen auf jeden Fall gegen sie. Wenn sie im Spiel bisher eines erkannt hatten, dann, dass Kraft und eben auch Gewicht die entscheidenden Vorteile bringen konnten. Selbstverständlich ging es auch um Geschicklichkeit, vor allem aber brachte mehr Gewicht Gegner nun mal eher aus dem Gleichgewicht und damit zu Fall.

Das wussten auch alle anderen und so zögerte die blaue Spielerin nach drei Feldern und rief ihrem Kontrahenten dann zu: „Fühl dich nicht zu sicher! Dich schaff ich schon!“ Ihre Stimme klang ängstlich, ganz offensichtlich versuchte sie sich selbst Mut zu machen.
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Das merkte auch ihr Gegenüber und so ging er auf die Provokation ein. „Das glaubst auch nur du!“, rief er zurück.

Ihre Taktik aber war eine ganz andere. Auf dem Feld hinter dem roten Spieler nämlich stand ein weiterer blauer. Während die beiden sich jetzt also anbrüllten, sprang dieser plötzlich aufs benachbarte Feld und versetzte dem Roten einen Schubs, der ihn in die Tiefe beförderte. Dessen Teamkollegen hatten ihm noch Warnungen zugerufen, allerdings war es da schon zu spät und der andere versetzte ihm den tödlichen Stoß.

Seine Mitspielerin wiederum sprang nun zu ihm aufs Feld, auf das sie ja vorrücken musste, er hingegen sprang auf sein Feld zurück, so dass beide dort standen, wo sie nach den Regeln stehen mussten. Der Gegner war nicht mehr da, also fühlten sie sich siegessicher und glaubten, das Spiel ausgetrickst zu haben.

Alex und auch alle anderen hatten fasziniert zugesehen. Auch in ihnen keimte durch diese Aktion ein Funken Hoffnung auf, dass sie vielleicht doch Möglichkeiten hatten, eigene Entscheidungen zu treffen. Wenn sie klug handelten, konnten sie eben doch mehr sein als Spielfiguren, sagte sich Alex. Allein dieser Gedanke baute ihn auf, gab ihm ein Stück weit Kraft, denn immerhin musste er jetzt nicht mehr vollkommen passiv oder willenlos tun, was von ihm verlangt wurde.

Jedes Spiel hatte Schwächen, sprach er sich selbst Mut zu, in jedem System gab es Lücken. Die mussten sie eben nur finden und für sich nutzen. Vielleicht gab es weitere Gelegenheiten, in denen sie klug zusammenarbeiten und die Spielregeln damit umgehen konnten. Vielleicht war das die Chance, die sie brauchten, um letztlich einen Ausweg aus all dem hier zu finden.

Er suchte den Blickkontakt zu Xenia und Felix, nickte ihnen zu und wusste sofort, dass sie ähnlich dachten wie er. Immerhin waren sie ein eingespieltes Team, ein Squad, durch etliche Videospiele aufeinander eingespielt. Das musste sie für sich nutzen, denn war sich sicher, dass die anderen Teams mehr oder weniger zufällig zusammengewürfelt waren und sich meist untereinander kaum oder gar nicht kannten.

Noch während er abfing, sich auszumalen, was sie tun konnten, um ihren Vorteil richtig auszuschöpfen, öffnete sich über den Säulen, auf denen die blauen Spieler standen jeweils eine Luke und wie schon zuvor schwang eine an einem Stahlseil hängende doppelseitige Axt hinunter.
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Sie wurde in Pendelbewegungen versetzt und sauste knapp an den Köpfen der beiden Spieler vorbei. Beim ersten Mal wichen sie noch aus, doch das Pendel schwang weiter, das Tempo wurde kontinuierlich erhöht, immer wieder mussten sie der scharfen, blitzenden Klinge auf der kleinen Plattform ausweichen.

Zuerst erwischte es die Spielerin. Die Axt traf sie am Arm, Blut spritzte, sie heulte schrill auf. Instinktiv presste sie die andere Hand auf die Wunde, war dadurch aber kurzzeitig abgelenkt und die Klinge traf sie genau in den Rücken. Luft entwich ihren Lungen, sie verlor den Halt, fiel. Dabei gab sie keinen Laut mehr von sich, war entweder zu überrascht oder zu ihrem Glück schon bewusstlos, als sie unten aufkam.

Kurz darauf traf es den anderen Spieler. Zwar wurde er nicht von der Klinge getroffen, rutschte aber beim Ausweichen von seiner Plattform und fand so ebenfalls sein gnadenloses und blutiges Ende. Alle anderen starrten fassungslos auf die nun leeren Spielfelder, über denen die Pendel wieder nach oben gezogen wurden. Sie hatten ihre Arbeit getan und es ertönte wieder das boshafte Lachen der Stimme, das sie zu verhöhnen schien und ihnen all die Hoffnung, die sie vielleicht geschöpft hatten, umgehend wieder nahm.

Das Spiel ließ sich nicht betrügen. Es forderte seine Opfer und es bekam sie.

Die zweite Situation, die Alex den Atem anhalten ließ, war ein Zug, bei dem ein Spieler des grünen Teams würfelte und bis auf Felix‘ Feld vorrücken durfte. Auch er war groß und kräftig und vor allem hatte er in den vergangenen Runden schon drei andere Gegner in den Abgrund befördert.

Xenia und Alex sprachen Felix Mut zu, verstummten dann aber, als der andere näher kam. Bei dessen letztem Sprung hielten sie den Atem an. Felix stemmte sich mit einem Fuß ab, streckte die Arme nach vorne aus, um den anderen abzuwehren, der hatte allerdings genug Kraft in seinen Sprung gelegt, um Felix das Gleichgewicht zu rauben.

Einen Augenblick lang befanden sie sich beide mit je einem Fuß auf der Plattform, suchten hilflos Halt und versuchten sogar, sich aneinander festzuhalten. Zwar wussten sie, dass nur einer überleben konnte, doch ihr Instinkt war stärker, so dass sie aus einem tiefen Impuls heraus zunächst einander zu helfen versuchten, weil ein Absturz des anderen auch den eigenen Tod bedeutet hätte.
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So kamen beide wieder zum Stehen. Sobald sie ihr Gleichgewicht zurückerlangt hatten, überstieg der Wille aber wieder den Überlebensinstinkt und der Grüne versetzte Felix einen Stoß, der ihn in die Tiefe beförderte.

Allerdings waren auch dessen Reflexe gut, er klammerte sich an der Jacke seines Gegners fest und zog ihn so mit sich. Der grüne Spieler versuchte, sich an der Kante festzuhalten, Felix wiederum an ihm. So hingen sie eine Weile, in der die Zeit stillzustehen schien und alle anderen den Atem anhielten, an der Säule oder vielmehr zwischen zwei Säulen.

Die standen ja nicht so weit auseinander, was Felix mit unglaublicher Geschicklichkeit nutzte, um sich mit den Füßen an der einen, mit den Händen an der anderen Säule abzustützen. Seinen Gegner beachtete er dabei nicht mehr, der hatte auch genug mit sich selbst zu tun und klammerte sich an die Kante.

Felix hingegen stemmte sich zwischen die zwei Säulen, konnte sich so in dieser Position halten. Die Frage war nur, wie lange er die Kraft dazu hatte. Nicht lange genug fürchtete Alex und überlegte, ob er es wagen sollte, seinem Freund zur Hilfe zu eilen, um ihn wieder nach oben zu ziehen. Oder würde das Spiel das nicht dulden und es bedeutete ihrer beider Tod?
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Kommentare zur Story:

  Du hältst die Spannung. Ich bin gespannt, was am Ende herauskommen wird.  
   Irmgard Blech  -  11.01.24 10:21

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Kommentar von "SCvLzH" zu "Am Meer"

... melancholisch aber schön ...

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Kommentar von "Evi Apfel" zu "Die Belfast Mission - Kapitel 06"

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