Memoiren eines Schriftstellers - 25. Kapitel   380

Romane/Serien · Fantastisches

Von:    Francis Dille      Mehr vom Autor?

Erstveröffentlichung: 24. April 2017
Bei Webstories eingestellt: 24. April 2017
Anzahl gesehen: 3004
Seiten: 11

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Kapitel 25



William Carter wurde im selben Jahr wiedermal nach Deutschland als Ehrengast zur Frankfurter Buchmesse eingeladen, um einen Literaturpreis entgegen zu nehmen und seinen neusten, sechsundneunzigsten Roman zu publizieren. Sein Terminkalender für dieses besagte Event war komplett ausgebucht. Unter anderem sollte William Carter endlich den deutschen Journalist sowie Ghostwriter kennen lernen, der seit über dreißig Jahren seine Bücher übersetzte. Ebenso stand ein Besuch im berühmten Frankfurter Römer auf dem Programm, dort auch die deutsche Nationalelf nach jeder Weltmeister- und Europameisterschaft stets empfangen wurde, um sich im goldenen Buch des Rathauses einzutragen. Und als krönender Abschluss seines Deutschlandbesuches war für seine treuen Fans eine Lesung im Kaufhaus Karstadt, welches sich auf der Einkaufsmeile Zeil befand, mit anschließender Autogrammstunde geplant. Was aber weder Adam Hopkins noch seine Fans weltweit ahnten war, dass der neuste Carter Roman – Kaltes Blut – sein letztes Buch sein sollte. William Carter hatte definitiv beschlossen, seine beispielslose Schriftstellerkarriere zu beenden.



Chapter 136 -141 aus meinen Memoiren: Das Autogramm



Die Tage in Frankfurt am Main empfand ich besonders anstrengend und stressig, obwohl ich Shirley diesmal nicht mitgenommen hatte. Es war mir längst überdrüssig geworden, ständig um die Welt zu reisen, Vorlesungen zu halten, Literaturpreise entgegen zu nehmen und meine neusten Bücher zu präsentieren. Für mich gab es ohnehin nichts mehr erstrebenwertes, was ich hätte noch erreichen können. Eventuell wäre die Möglichkeit frischen Ruhm zu ernten, um mein Ego weiterhin zu füttern, mit meinem Pseudonym Richard Springfield erfolgreich zu werden. Aber nachdem ich erfuhr was es bedeutet, selbstständig aus eigener Kraft ein Buch zu kreieren und mich anschließend von den Buchkritikern gnadenlos fertig machen zu lassen, verwarf ich diese Schnapsidee. Denn das Letzte was ich am Ende meiner Karriere brauchte war, dass mir irgendwelche Leute vorhalten, ich sei im Grunde nur ein Hobbyautor ohne ernstzunehmende Zukunftsaussicht. Und überhaupt, seitdem meine geliebte Penélope nicht mehr lebte, war ich sowieso ziemlich ziellos unterwegs und mir war bewusst geworden, dass das Einzige und Wichtigste was für mich noch zählen sollte, das Wohlbefinden meiner Tochter war.
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Shirley brauchte mich ab sofort mehr denn je, dass hatte Penélope bei meinem letzten Besuch im Staatsgefängnis San Quentin mir eingetrichtert.

Während meines Aufenthaltes in Frankfurt wurde ich zwar wie Napoleon behandelt und bedient, man erfüllte mir jeden erdenklichen Wunsch, trotzdem verbrachte ich meine magere Freizeit, die mir während der Tage auf der Buchmesse vergönnt waren, ausschließlich in meiner Suite im Marriott Hotel, schaute fern und ging frühzeitig zu Bett (alleine wohlbemerkt, obwohl das Rotlichtmilieu und zahlreiche Bars gleich um die Ecke waren).

Aber eines Abends – ich lag bereits im Bett und war fast eingeschlafen – während der Fernseher lief wurde ich plötzlich hellwach. Eine Dokumentation des Fernsehsenders CNN machte mich währendem ich einschlummerte hellhörig, weil von drei Schriftstellern berichtet wurde, die gewaltsam gestorben waren. Ich erinnerte mich noch sehr gut an diese Herren, weil sie für mich damals in meiner Jugend Idole waren.

Diese Doku berichtete über die Schriftsteller Chester Winstor, der zur Zeit des Wilden Westens gelebt und sich erhängt hatte, über Jacob L. Stanwick, der im Jahre 1923 in Manhattan aus dem 53. Stockwerk des Woolworth Buildings in den Tod gesprungen war und von Howard Robinson, der 1964 in New York angeblich während eines bizarren autoerotischen Erstickungsspiel ums Leben kam. Howard Robinson war damals für mich das absolute Vorbild gewesen. Robinsons Bücher hatte ich allesamt verschlungen, er hatte mich zum Schreiben inspiriert und mich dazu bewogen, ihm nachzueifern und berühmt zu werden.



Damals in den Sechzigern, als ich noch ein jugendlicher Schreiberling und völlig unbekannt war, wurden wahre Horrorstorys über diese Schriftsteller im Fernsehen berichtet. Verschwörungstheoretiker behaupteten damals, dass diese Männer einen Pakt mit dem Teufel geschlossen hätten, weil sie zu Lebzeiten einen ungewöhnlichen Erfolg erzielten und allesamt genau an ihrem 59. Geburtstag dahin geschieden waren. Satan persönlich hätte sie zu sich geholt, hieß es. Nun wurde diese Dokumentation über die legendären Schriftsteller des Teufels, wie sie sogar heute noch mancher bezeichnete, lediglich nüchtern und nur mit vorhandenen Fakten über sie berichtet.
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Zu bedauern waren diese Mistkerle weiß Gott nicht, denn zu Lebzeiten verbargen sie dunkle Schandtaten, diese erst nach ihrem Tod publik wurden. Trotzdem, selbst heute noch blieben ihre genauen Todesumstände sowie deren Beweggründe für ihren Suizid ungeklärt, und dass diese Leute zugleich exakt an ihrem 59. Geburtstag ums Leben kamen, hinterließ all die lange Zeit, bis zum heutigen Tag, einen mystischen und unheimlichen Touch.

Ich erinnere mich noch ganz genau an dem Tag, als dieser Scheißkerl Robinson mich sexuell missbrauchte und dann getötet wurde. Ich war der einzige Zeuge gewesen und hatte trotzdem praktisch nichts gesehen. Es war ein grausamer, unheimlicher sowie unerklärlicher Mord, ohne dass der Täter dabei irgendwelche Spuren hinterlassen hatte. Bis auf ein paar Fingerabdrücke und Fußspuren, die jedoch ausschließlich von mir stammten, weshalb ich bis zum heutigen Tage von einer Zeugenaussage absah.

Nachdem diese Sendung vorbei war, schaltete ich den Fernseher aus und öffnete das Fenster, um eine Zigarette zu rauchen und beobachtete dabei aus der vierzigsten Etage das emsige Treiben des Frankfurter Nachtlebens. Ich schmunzelte, weil man Frankfurt am Main aufgrund seiner beeindruckenden Hochhäuser auch Mainhattan nennt. Nun ja, es klingt sympathisch und man kann diese Großstadt aufgrund ihrer Skyline beruhigt als kleinen Bruder von New York durchgehen lassen.

Überall leuchteten Lichter und man hörte Motorengeräusche und das Hupen der Autos. Wie in jeder Metropole. Ich schaute mit ernster Miene in die Nacht hinaus, rauchte und rieb zugleich meine Arme, weil es mich fröstelte. Es war eine äußerst kühle Oktobernacht, erheblich kühler als bei uns in Kalifornien. Die Erinnerungen an früher sprudelten in meinem Kopf und ich entsann mich vage, dass auch mein damaliges Idol, Howard Robinson, eine Schreibfeder besessen hatte. In diesem Moment fragte ich mich zum ersten Mal, ob es eine ähnliche oder gar dieselbe Schreibfeder war? Und schrieben Winstor und Stanwick etwa auch mit solch einer Schreibfeder ihre Bücher? Diesen schaurigen Gedanken verdrängte ich aber sogleich und kam zu dem Entschluss, dass das alles purer Zufall wäre. Meine Schreibfeder ist einzigartig. Es gibt keine Gemeinsamkeit zwischen den teuflischen Schriftstellern und mir, redete ich mir ein.
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Ich schnickte die Kippe einfach fort, schloss das Hotelfenster und legte mich ins Bett. Nur noch zwei Wochen, dann würde auch ich neunundfünfzig Jahre alt werden.



Aufgrund der Zeitverschiebung zwischen Deutschland und Kalifornien klingelte mein Handy ab nachmittags jede zweite Stunde, und meistens auch ausgerechnet dann, wenn ich auf der Buchmesse eine Rede hielt, in einer Besprechung war oder Autogramme gab. Selbst als ich am Samstag im Kaufhaus Karstadt vor einem beachtlichen Publikum eine Lesung aus meinem neusten Roman hielt, rief mich Thelma an und verkündete mir seufzend, dass mich Shirley wiedermal unbedingt sprechen wollte. Dann unterbrach ich die Vorlesung, entschuldigte mich vor allen Leuten, die allesamt verständnisvoll waren und schmunzelten, schließlich wusste jedermann, dass ich Zuhause eine behinderte Tochter habe, die mich sehnsüchtig vermisste.

Ich ließ das Publikum an unserem Telefongespräch teilhaben, indem ich mit kräftiger Stimme antwortete und mein Handy gegen das Mikrophone hielt, wenn Shirley sprach (ihre brabbelnden Worte ich meinen Fans selbstverständlich übersetzte und mein deutsches Sprachrohr, der mich stets begleitete, übersetzte wiederum das, was ich sagte).

Und obwohl Shirley mir ständig nur dieselben Fragen stellte – Daddy, was machst du denn grad? Daddy, gefällt dir das Hotel? Gibt es da auch einen Fernseher? Schmeckt dir das Essen und Daddy, bringst du mir aus Deutschland was mit? –, freute ich mich ungemein, ihre Stimme zu hören. Ich behielt die kalifornische Uhrzeit sowieso stets im Auge und hatte meine Armbanduhr erst gar nicht umgestellt, als ich Tage zuvor in Germany landete, weil ich Shirley jeden Abend, kurz bevor Thelma sie ins Bett brachte, anrief, um ihr eine gute Nacht zu wünschen. Ich wusste ganz genau, meine Tochter wird das Funktelefon auf ihrem Schoss behalten und nur darauf warten, bis ich mich bei ihr melde. Vorher würde sie sich strikt weigern, schlafen zu gehen.



Endlich, als ich mich nach vier anstrengenden Tagen von Deutschland verabschiedete und im Flieger saß, atmete ich erleichtert auf. Mein Entschluss stand fest. Dies war definitiv die letzte Buchmesse sowie Lesung, die ich beehrt habe. Ich beabsichtigte nicht einmal nur als Gast auf irgendeinem Literaturevent zu erscheinen, denn meine Schriftstellerkarriere sah ich hiermit unwiderruflich für beendet.
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Nie wieder wollte ich meine Schreibfeder zücken, sondern nur noch von meinem Schreibtisch auf das Regal blicken, meine sechsundneunzig Bücher anlächeln und stolz auf mein Lebenswerk sein. Selbst hundert Jahre später, insofern sich die Menschheit bis dahin nicht selbst vernichtet hat, würde man meine Romane lesen, sich an mich erinnern und ich würde weiterhin treue Fans gewinnen, obwohl meine Knochen bis dahin längst verrottet sind.

Eventuelle lästige Diskussionen mit Adam befürchtete ich schon lange nicht mehr, denn er würde meinen Entschluss ohne Murren akzeptieren. Gewiss, denn sein mittlerweile dreißigjähriger Sohn Kevin arbeitete in dem erfolgreichen Familienbetrieb hauptberuflich als Lektor, und nebenbei schrieb er Romane. Kevin hatte bereits fünf Science-Fiction und drei Krimi Romane veröffentlicht, und hatte mich sogar einmal vom sechsten auf den siebten Platz der Bestsellerliste verwiesen. Kevin Hopkins legte zwar nicht eine annähernd vergleichbar herausragende sowie rasante Schriftstellerkarriere hin, wie ich damals in meinen jungen Jahren, dennoch hatte er sich mittlerweile einen Namen erarbeitet, und das ohne irgendwelchen Hokuspokus. Selbst unsere äußerst erfolgreichen Kollegen Richard Laymon, Stephen King, Jack Ketchum sowie Dean Koontz lobten ihn auf den Rückcovern seiner Büchern mit aussagekräftigen, kurzen Sätzen (ich signierte sogar einmal, dass ich ein großer Hopkins Fan sei).

Kevin war nun das beste Pferd und der Goldesel für die Zukunft im Stall des Jack Hopkins Books Publishing Verlages, darauf Adam baute. Adam war schon immer zukunftsorientiert gewesen, ein Geschäftsmann mit Köpfchen, damit hatte ich absolut kein Problem. Jetzt war Kevin sein Starautor und ich begrüßte und unterstützte Adams insgeheimen Entschluss, indem ich weiterhin für seinen Junior warb. Es war sowieso absehbar, dass Kevin Hopkins eines Tages den Familienverlag übernehmen und leiten würde, wobei ich dies kritisch einschätzte. Ich kannte Kevin, als wäre er mein eigener Sohn und wusste, dass der Hopkins Junior nicht annähernd so ein knallharter Geschäftsmann wie sein Vater oder Großvater, sondern durch und durch ein waschechter Schriftsteller ist, der das Potenzial seiner Fantasie jederzeit ausschöpfen und verarbeiten will.
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Dann hat man einfach keinen Kopf dafür, ein erfolgreiches Unternehmen mit etlichen Angestellten zu leiten. Geld war dem Jungen nie wichtig gewesen, sondern nur, dass man seine Bücher liest. Außerdem wäre der Bursche meiner Meinung aufgrund seiner Großherzigkeit gar nicht fähig, einen Angestellten seiner Firma hinauszuwerfen, selbst wenn dieser großen Bockmist fabriziert hätte. Letztendlich würde er sich belabern lassen und anstatt einen hochkantigen Rausschmiss, würde Kevin demjenigen eher eine Lohnerhöhung gewähren.



Die Klimaanlage zischte dezent und als es mich fröstelte, schaltete ich schlaftrunken das Gebläse über mir aus. Dann ertönte plötzlich ein Gong und die Anzeige: Fasten Seat Belt leuchtete auf, woraufhin das Großraumflugzeug leicht ruckelte. Ich ignorierte die Aufforderung, dass man sich aufgrund leichter Turbolenzen anschnallen sollte, strich meine Hände über das Gesicht und gähnte dabei ausgiebig.

Wenn ich über den Ozean flog, dann ausschließlich mit einer Boeing 747 in der First Class. In der oberen Etage eines Jumbojets, dort wo sich auch das Cockpit befand, hatte man immer einen speziellen Komfort. Eine Wendeltreppe führt nach Oben, wie in einem Doppeldeckerbus, und ein breiter Monitor über der Luke zum Cockpit zeigte die neusten Kinofilme. Als ich von Frankfurt nach Los Angeles mit der Lufthansa flog, lief grad der Hollywoodfilm The Beach, mit Leonardo DiCaprio. Und im hinteren, abgeschotteten Bereich befand sich meistens ein Aufenthaltsraum mit Sesseln und Tischen, dort man wie in einer Bar bedient wurde.

Ich blickte einen Moment gedankenlos aus dem Bullauge des Flugzeuges, hinunter auf den endlosen Ozean. Ein paar schneeweiße Wolken zogen knapp unter uns vorbei; sie waren gigantisch und sahen wie riesige Zuckerwatte aus, die einfach vorüber schwebten. Wenn man genau auf das endlose, blaue Element hinunterschaute, sah man wie das Meer stetig in Bewegung blieb. So winzig klein, wie ein Flugzeug hoch oben durch den Himmel flog, sah ich unten ein Schiff entlang fahren, das einen meilenweiten weißen Wasserschweif hinter sich herzog.



Ich schaute mich kurz verschlafen um, zog die dünne Decke über meine Beine und als ich wieder einschlummern wollte, entdeckte ich in der vordersten Reihe eine ältere Dame.
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Sie war mir als wir an Bord gingen gar nicht aufgefallen. Ich konnte ihr Antlitz nur ganz kurz sehen, ihr Gesicht lediglich für einen Augenblick nur seitlich, dann widmete sie sich wieder ihrer Lektüre zu. Völlig verblüfft starrte ich sie an, aber sah über dem Sitz nur noch ihren Hinterkopf. Jetzt war ich hellwach.

Ich schaute auf ihre rotbraune, ordentliche frisierte Haarpracht. Aber ich hatte ganz kurz ihr Gesicht erhascht, hatte die Form ihrer Stupsnase, ihren Mund sowie ihren unverkennbaren Blick erkannt und glaubte zu wissen, wer sie war.

Das Rauschen der Turbinen war permanent zu hören, sowie leises Gemurmel und ein Hüsteln und ein Lachen hier und dort. Eine Stewardess schlenderte mit einem rollbaren Behälter den Gang entlang; freundlich lächelnd vergewisserte sie sich um das Wohlbefinden der Passagiere, servierte Getränke und hielt mit einigen einen Smalltalk.

Ich legte die Decke beiseite und schnalzte aufdringlich mit den Fingern, winkte die Stewardess herbei und fragte sie etwas flüsternd ins Ohr. Als sie sich wieder aufrichtete und mir nickend zulächelte, meine Vermutung also bestätigte, blickte ich mit erstaunten Augen völlig entgeistert nach vorne, genau auf die rotbraune Haarpracht, als hätte die Stewardess mir soeben verkündet, dass dort in der ersten Reihe die heilige Maria Magdalena sitzen würde. Leicht stotternd bestellte ich mir einen Scotch mit Eiswürfel, um diesen kleinen Schock erstmal zu verdauen, aber die Stewardess war schon vorbei gegangen. Meine Bestellung hatte sie also gar nicht wahrgenommen.

Wie ferngesteuert stand ich von meinem Sitzplatz auf und ging langsam nach vorne. Ganz sachte, ganz langsam, schritt ich mit leicht zittrigen Knien nach vorne zu der Dame. Mein Herz pochte etwas schneller als gewöhnlich. Als ich direkt vor ihr stand, verschlug es mir die Sprache. Ich sah sie jetzt direkt vor mir. Sie war zwar schon Mitte Siebzig, das wusste ich, und sie war ein klein wenig pummelig, trotzdem wirkte sie überraschend attraktiv auf mich. Eine Lesebrille lag auf ihrer Nase. Die betagte Dame war völlig in ihrer Lektüre vertieft und bemerkte mich gar nicht.

Sie war es. Ja, sie war es tatsächlich.

Einen Moment lang stand ich direkt neben ihr und sah sie nur mit erstaunten Augen fasziniert an, bevor ich sie endlich ansprach.
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„Misses Temple … darf ich Sie einen Augenblick stören?“, fragte ich vorsichtig.

Misses Shirley Temple riss sich ihre Lesebrille herunter, blickte mich entsetzt an und hielt sich dabei die Hand vor ihrem Mund.

„Huch … Haben Sie mich jetzt aber erschrocken!“

Dann atmete sie erleichtert auf und lächelte.

„Entschuldigen Sie, Mister, aber das Buch ist so spannend. Ich habe mich scheinbar darin total verirrt“, giggelte sie herzhaft.



Das war sie. Meine Traumfrau aus meiner Jugend. Ich stand direkt vor ihr. Ich konnte es selbst kaum glauben, aber sie war es tatsächlich. Misses Shirley Temple. Aber ich besann mich sogleich, schließlich wollte ich mich keinesfalls wie ein dämlicher Fan benehmen, der vor Euphorie außer sich ist.

„Das-das war gewiss nicht meine Absicht, Misses Temple. Sie-Sie müssen sich nicht entschuldigen, sondern ich“, stammelte ich.

Misses Shirley Temple runzelte ihre Stirn.

„Sagen Sie mal, kenne ich Sie nicht von irgendwoher?“, fragte sie.

„Ja … Bestimmt! Ganz bestimmt sogar. Schauen Sie doch auf das Rückcover Ihres Buches“, antwortete ich schmunzelnd.

Mrs. Temple klappte das Buch zusammen und schaute auf ein schwarz/weißes Porträt von mir, darauf ich mit einem schwarzen Rollkragenpulli seitlich abgelichtet war und aus dem Augenwinkel grimmig in die Kamera lugte. Dieses Porträt von mir war mittlerweile auf all meinen Büchern gedruckt worden. Der Fotograf meinte, da ich der Meister des Psychothrillers wäre, wäre es angebracht, dass ich auch gefährlich und mystisch aussehen sollte.

Misses Temple las grade eine Neuauflage meines ersten erschienen Romans, dieses Werk mir damals über Nacht einen Namen in der Schriftstellerszene beschert und mich dann auch weltberühmt gemacht hatte: Die Nachtigall.

„Sie sind also der berühmte Mister Carter?“ Sie hielt sich prustend die Hand vor dem Mund. „Ich habe Sie jetzt gar nicht erkannt.“ Dann rückte sie zum Fensterplatz rüber, tätschelte auf ihren Nachbarsitz und schaute mich erwartungsvoll an.

„Worauf warten Sie denn noch? Nun machen Sie schon. Setzen Sie sich endlich neben mich, und lassen Sie uns ein wenig plaudern“, meinte sie schließlich bestimmend und lächelte dabei, als ich sie immer noch mit großen Augen erstaunt anglotzte.
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Es war fantastisch. Ich durfte mich neben meine Traumfrau aus der Jugend setzen. Der Sitz war noch ganz warm und ich genoss es, weil ich so ihre Nähe unmittelbar spürte. Selbst mit ihren fünfundsiebzig Jahren wirkte sie attraktiv auf mich, ich hätte sie glattweg geheiratet, wenn sie mich darum gebeten hätte. Diese Frau hätte ich tagtäglich mit Rosen beschenkt. Sie war schon immer ein Göttin für mich gewesen, nun saß ich direkt neben ihr und musste feststellen, dass meine Shirley Temple eine überaus nette und bodenständige Frau war. In ihrer Gegenwart fühlte ich mich sofort wohl und völlig unbefangen und als sie sich einen schwarzen Tee mit ein Stück Zitrone aber ohne Zucker bestellte, sagte ich zu der Stewardess automatisch, dass ich ebenfalls dasselbe trinken möchte, obwohl ich jetzt eher einen hochprozentigen doppelten Irgendwas hätte vertragen können.

Wir plauderten und lachten gemeinsam. Irgendwann zückte ich mein dickes Portemonnaie (es war nicht mit Dollarnoten prallgefüllt, sondern mit Fotos von Shirley) und zeigte ihr stolz die Fotografien meiner Tochter. Ich besaß ein Lieblingsfoto von Shirley, dieses ich Mrs. Temple zuerst zeigte. Es war kein aktuelles Foto, aber allerhöchstens nur vier, fünf Jahre alt. Darauf war zu sehen, wie sie in ihrem Rollstuhl saß, ihre geliebte Topfpalme auf ihrem Schoß festhielt und fröhlich in die Kamera lächelte.

Shirley lächeln zu sehen, war äußerst selten. Meistens blickte sie nur ausdruckslos drein, was jedoch keineswegs bedeutete, dass sie unglücklich oder missgestimmt war. Aber auf diesem Foto sah sie wie eine ganz normale junge Frau aus, die eben nur im Rollstuhl gefesselt war und sich über ihre Topfpflanze freute.

Mrs. Temple lächelte mich warmherzig an, während sie das Foto in ihrer Hand hielt.

„Oh, Mister Carter, Sie haben aber eine wirklich hübsche, bezaubernde Tochter.“

„Ja, das ist sie. Ich muss Ihnen erklären, Misses Temple, dass meine Tochter Blumen über alles liebt. Jeden Abend, bevor sie von ihrer Nanny ins Bett gebracht wird, fährt sie eine Runde durch ihr Gewächshaus und wünscht all ihren Blumen eine gute Nacht.
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Aber diese Topfpalme ist ihre Lieblingspflanze. Diese hatte sie selbst großgezogen. Sie hatte den Samen eigenständig in die Blumenerde eingepflanzt und täglich gegossen. Shirley hat ihre Topfpalme täglich monatelang auf ihrem Schoss herumgetragen und sie jedem stolz gezeigt. Jetzt steht das Bäumchen in ihrem Zimmer, weil sie zu groß und zu schwer geworden ist. Blumen gießen ist ihre große Leidenschaft und diese gießt sie seitdem jeden Tag als erste, sobald sie erwacht.“

Ich schmunzelte, denn die hinreißende Lady schien anscheinend wenig fernzusehen und wusste scheinbar nicht, dass Shirley nicht nur körperlich, sondern zudem auch geistig behindert war. Also zeigte ich ihr noch weiter Fotos, darauf man dies eher erkannte.

„Ich muss Ihnen überdies noch erklären, Misses Temple, dass meine Tochter schon einunddreißig Jahre alt ist, aber ihr Verstand gleicht leider nur dem Niveau einer Vierjährigen. Zuhause wartet also ein ewiges Kind auf mich.“

Mrs. Temple war genauso, wie ich sie mir mein lebelang vorgestellt hatte. Nett, einfühlsam und ohne irgendwelche Starallüren. Sie neigte ihren Kopf leicht seitlich und lächelte mich an.

„Aha, soso …“, entwich es ihr. „Wissen Sie, ich kenne Sie eigentlich gar nicht und wusste auch nicht, dass Sie eine behinderte Tochter haben. Nur allein Ihr Namen ist mir ein Begriff, dass Sie ein bekannter Schriftsteller sind und Horrorgeschichten schreiben. In meinem Alter ist man nicht immer up to date, wie man es heutzutage gerne bezeichnet. Normalerweise lese ich derartige Lektüren nicht, ohne Sie jetzt damit beleidigen zu beabsichtigen. Dieses Buch hier wurde mir von einer sehr guten Freundin empfohlen“, erklärte sie mir sympathisch.

Ich grinste.

„Ach, das macht doch nix“, winkte ich ab, weil ich es dieser betagten Dame schlichtweg abnahm, dass sie mich wirklich nicht kannte.

„Ich dafür, kenne Sie sehr gut. Ich habe alle ihre Filme gesehen, diese haben mich in meiner Kindheit völlig begeistert. Sie waren als kleines Mädchen so unbeschreiblich hinreißend gewesen, Sie haben damals mit ihrem unbefangenen Wesen die Welt verzaubert. Selbst der damalige Präsident Franklin D. Roosevelt war von Ihnen angetan, hatte sich mit Ihnen gemeinsam ablichten lassen und gemeint, dass Ihr kindliches Lächeln Amerika durch die Depression führen würde.
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“ Ich zwinkerte ihr zu. „Politik schien scheinbar schon damals Ihr Ding gewesen zu sein und …“

Ich stockte, griff mir an die Stirn und wankte schmunzelnd mit dem Kopf.

„Verzeihen Sie mir, Misses Temple. Das hat man Ihnen sicherlich schon unzählige Male erzählt. Genauso wie mir, wenn mir die Leute begeistert ins Gesicht sagen, dass sie all meine Romane gelesen haben und dass ich ja ach so toll wäre.“

Misses Shirley Temple lachte herzhaft auf. Als ich sie darum bat, auf der Rückseite meines Lieblingsfoto von Shirley ein Autogramm zu unterzeichnen, blickte mich die betagte Dame verwundert an.

„Wie bitte? Ist das etwa Ihr Ernst? Sie wollen tatsächlich ein Autogramm von mir? Das ehrt mich jetzt aber.“

Die Art, wie sie mich anlächelte, entzückte mich und machte mich schlichtweg sprachlos.

„Also, mich hat schon lange keiner mehr um ein Autogramm gebeten, Mister Carter. Erst recht kein Prominenter von Heute, wie Sie es sind“, sagte sie, setzte sogleich ihre Lesebrille auf und unterschrieb mit einem Kugelschreiber schmunzelnd die Rückseite des Fotos.

Ich sah wortlos zu, wie sie auf der Rückseite meines Lieblingsfotos von Shirley signierte. Für mich persönlich zählte sie immer noch zu den größten Hollywoodstars aller Zeiten, auch wenn sie damals nur ein Kinderstar gewesen war. Aber eines verschwieg ich ihr und zwar, dass ich meine Tochter nur ihretwegen Shirley benannte. Ich wollte schließlich keinesfalls dass sie glaubte, ich sei einer dieser idiotischen Stalker. Schließlich wusste ich selbst wie das ist, wenn man ständig und überall bedrängt wird.

Ich bedankte mich höflich für dieses Autogramm und wir unterhielten uns prächtig, bis wir in Los Angeles landeten. Aber innerlich freute ich mich wie ein kleiner Bub, der zum Geburtstag eine Carrera Rennbahn geschenkt bekam.



Shirley Temple war in den 1930er Jahren, während der amerikanischen Wirtschaftskrise, der erfolgreichste Hollywoodstar seiner Zeit, obwohl sie damals nur ein kleines Mädchen war. Bereits im zarten Alter von vier Jahren lockte sie Millionen Menschen weltweit in die Kinos und verzauberte sie mit ihrem unbefangenen Wesen. Sie war äußerst talentiert; sie konnte zauberhaft tanzen, meisterhaft steppen, ausgezeichnet singen und hervorragend schauspielern.
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Shirley Temple ist bisher die jüngste Schauspielerin, die jemals einen goldenen Oscar für ihre herausragende schauspielerische Leistung erhielt. Mit zunehmendem Alter verlor sie jedoch an Popularität und zog sich aus dem Showgeschäft zurück. Mitte der sechziger Jahre engagierte sie sich in der Politik und wurde 1969 von Präsident Nixon zur US-Delegierten bei der UN-Vollversammlung ernannt. Shirley Temple war zweimal verheiratet und gebar drei Kinder. Sie überstand 1971 den Brustkrebs und wandte sich nach ihrer Genesung wieder beharrlich der Politik zu. Mitunter war sie von 1989-1992 Botschafterin in Prag. Misses Shirley Temple starb 2014 im Alter von 85 Jahren an einer Lungenerkrankung.
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Kommentare zur Story:

  Ein spannender, geheimnisvoller und auch irgendwie gruseliger Roman und jetzt hast du mich auch noch auf Shirley Temple neugierig gemacht. Woraufhin ich im Internet stöbern musste. Schöner Schreibstil. Es lohnt sich deine Texte zu lesen.  
   Gerald W.  -  25.04.17 18:33

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