Kurzgeschichten · Spannendes

Von:    Frank Bao Carter      Mehr vom Autor?

Erstveröffentlichung: 8. März 2017
Bei Webstories eingestellt: 8. März 2017
Anzahl gesehen: 2723
Seiten: 9

„Die buddeln ja den ganzen Berg weg!“ Abrupt bleibt Julia stehen, nachdem die beiden die Serpentine vor dem Kamm erreicht haben. Marcus stellt sich neben dem roten Rucksack, der auf einem blauen Wolfskin-Anorak leicht wackelt, als könnte er das Entsetzen seiner Trägerin für alle Welt sichtbar machen.

„Nicht den ganzen, nur zweiundachtzig Prozent.“

Marwin zuckt zusammen, als habe man ihm einen Elektroschock verpasst. Weich sind seine Knie, als er sich zu dem älteren Mann umdreht, der leise hinter sie getreten ist.

Dieser zeigt mit seinem hölzernen Wanderstab, den viele bunte Epauletten schmücken, Andenken seiner hundertjährigen Wanderschaft, auf das grausame Spiel ihnen zu Füßen. „Nur den braunen Bergteil werden sie abbauen, der Kamm aus Granit bleibt bestehen.“



Julia hat Tränen in den Augen, als sie sich vom Steinbruch und den geschäftigen Baggern und Kippern abwendet, die schon viele hundert Meter des einstigen großen Bergrückens gefressen hatten. Gut sichtbar streckt sich die rotbraune, mit Kiefern bewaldete Flanke noch einen Kilometer weiter. „Das alles werden sie wegbaggern? Wie konnte man dieses erlauben?“

Ohne eine Antwort abzuwarten, dreht sie wieder ihren Kopf, um das Unfassbare erneut wie die Salve eines Maschinengewehrs auf sich einwirken zu lassen.

Die wachsamen Augen des älteren Wanderers ruhen mit Wärme und Verständnis an Julias Hinterkopf. Die junge Frau hat ihr blondes Haar mit einem seitlichen französischen Zopf verziert. Von oberhalb ihres rechten Ohrs geht er leicht schräg bis zu ihrem linken Ohrläppchen, bevor er auf ihrer Vorderseite in die Tiefe fällt.



„Ist der Berg weg, werden neue Wälder entstehen und kleine Seen übrig bleiben“, versucht der Mann, die Schmerzen des verletzten Herzens zu lindern. Dabei kratzt die eisenbeschlagene Spitze seines Wanderstocks im Schotter des Waldwegs.

Bei diesen Worten wendet sich die junge Frau zu dem Mann. Ihr Gesicht liegt nun voll in der Sonne. Hinter den Brillengläsern glimmen zwei hellgrüne Augen, die im Licht des Fixsterns fast gelb funkeln. Zudem ist dem Wanderer so, als habe sich die blasse Haut des Mädchens mit einem lindgrünen Schimmer überzogen.

„Seen?“, fragt Julia nur dieses eine Wort, und dennoch scheint es sie auf eine geheimnisvolle Art zu besänftigen.
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„So ist es, mein Mädchen. Die Welt ist im steten Wandel. Früher durch Naturgewalten, heute durch den Menschen. Aber runterkriegen lässt sie sich nie. Es gibt immer eine Zukunft, nur kennen wir sie nicht.“



Julia zwirbelt mit ihren Händen ihren Zopf.

Warm ruht ihr Blick auf Marwin, als der letzte Satz des Wandermanns in ihrem Gehirn tropft wie Wasser an einem Stalaktit. Gibt es eine Zukunft für den jungen Mann und sie?

Dieses wünscht sie sich von ganzem Herzen. Seit dem Augenblick, als Marwin sie nach Feierabend gefragt hat, ob sie am Wochenende einen Ausflug mit ihm ins Erzgebirge machen wolle.

Ihr Arbeitskollege ist neunzehn, im dritten Lehrjahr und hat sich auf den technischen Einkauf spezialisiert. Er hat sogar schon eine eigene Wohnung, wenn auch im Dorf seiner Eltern, südlich von Leipzig. Wie die blonde Frau dieses denkt, liegt in ihren Augen ein schwärmerischer Glanz.

Julia selber hingegen ist mit ihren siebzehn Jahren noch nicht flügge geworden. Ihr Jugendzimmer schmücken Fotos von Stars und Sternchen, zwischen den Kissen ihres Bettes aalt sich eine große grüne Stoffschlange. Erst in diesem Sommer hat sie ihre Lehre als Kauffrau in einem Unternehmen der Mess- und Regeltechnik für Umweltanalytik begonnen und von Mittagspause zu Mittagspause zusehen müssen, wie das gewinnbringende Lächeln Marwins ihr klammheimlich das Herz gestohlen hat.

Eben dieser Kerl lässt sie wie eine zusammengepresste Stahlfeder hochschnellen, als er ihre Hand ergreift, um sie zum Weitergehen zu bewegen. Mit einem wohligen Gefühl im Bauch spürt das blonde Mädchen mit dem hübschen Zopf der Berührung seiner Finger nach, als es hinter den beiden Männern zum Kamm hoch stiefelt.



Marwin klettert auf ein paar Felsen und blickt durch das Fernglas des Mannes. Er zeigt diesem, woher sie gekommen sind und wohin ihre kleine Wanderung noch gehen soll. Der alte Wanderer lobt Marwins Entscheidung, für die Rückreise eine andere Kleinstadt ausgesucht zu haben. Denn bei ihrem Startpunkt fährt nur drei Mal am Tag ein Zug, ihr Zielort ist im Unterschied dazu mit einer Verbindung im Stundentakt ausgestattet. „Größere Mobilität kann Freiheit bedeuten“, sagt der Mann mit einer beschwichtigenden Handbewegung aber mahnenden Augen, kurz bevor er sich von dem jungen Wanderpaar verabschiedet.
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Auf dem weiteren Weg kreisen die Gedanken des jungen Mannes nur um eine Person: Julia. Wie kann er ihr zeigen, dass er sie mag, ohne sich lächerlich zu machen? Soll er sie heute Abend schon in den Arm nehmen? Oder lieber erst morgen Nachmittag bei der Rückfahrt? Im letzteren Fall würde eine Abweisung den Ausflug nicht gar zu peinlich werden lassen.



Unterdessen der junge Verliebte hierüber grübelt haben die beiden Naturfreunde den Kern einer kleinen Stadt erreicht. Es ist zwei Uhr mittags. Die Sonne heizt noch mächtig ein, da kommt die schattige Allee alter Platanen gerade recht für eine Pause auf einer Parkbank.

Vor ihren Füßen rauscht ein zehn Meter breiter Bergbach. Viele Stromschnellen geben ihm eine Erscheinung, als sei er ein Spielfeld kleiner Wichte, die aus dem Moos hochhüpfen würden.

Aber mehr als dieses Naturschauspiel irritiert Marwin, dass es keine Brücke über diesen reißenden Bach gibt. Dabei beginnt genau Vis à Vis die Fußgängerzone.



Julia bekümmert dieses anscheinend gar nicht. Mit einem ängstlichen Gefühl verfolgt Marwin, wie sich seine Gefährtin die Wanderschuhe und Socken auszieht, die Hosenbeine hochkrempelt und stracks in das Wasser steigt.

Ihrer Aufforderung, ihn zu begleiten, folgt er nicht.

Der wilde Bergbach würde mir die Füße wegreißen, elend müsste ich ertrinken, fürchtet Marwin. Innerlich fleht er Julia an, zurückzukommen. Ihr Lebensmut ist für ihn Übermut. Die Zunge der Beklemmung leckt an seinen Gedanken. Das Mädchen soll ihn nicht zu waghalsigen Unternehmungen verführen.



Deshalb kann er ihrem Patschen im Bergbach keine Freude abgewinnen. Mit zusammengerollter Stirn verfolgt er jeden ihrer Schritte.

Wie sie in einen Sonnenfleck watet, fällt er fast von der Bank. Julias von Natur aus schwach grünliche Haut bekommt durch die Lichtbrechung eine smaragdgrüne Farbe. Dazu schicken die Wellen ihr Kränze aus gelbem Licht auf die im Wasser eingetauchten Unterschenkel. Als wäre es eine Schlangenhaut, gruselt es Marwin.

Fünf Minuten lang lässt sich Julia die Füße kühlen.
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Fünf Ewigkeiten lang lockt sie den Angsthasen. Mit gerümpfter Nase und nachdenklichem Blick steigt sie zurück ans Ufer.



Schweigend sitzen sie nebeneinander auf der Bank.

Da hören sie in ihren Rücken Stimmen von Männern und Frauen.

Unbekümmert schreiten sie durch die Furt.

Ein kleiner dicker Mann geht sogar durch die hohe Stromschnelle rechts.

Bis auf die Oberschenkel ist seine Jeans nass.

Indessen sorgt ihn das nicht einen Augenblick.

Fröhlich mit seinem Nachbarn plaudernd stiefelt er die Fußgängerzone entlang.

Auf dem Kopfsteinpflaster dampfen die nassen Fußspuren - und verflüchtigen sich schnell.

Marwin fühlt sich befreit. Als sei seine Angst ebenfalls verdampft. Mutig schreitet er in den Bach und ist erstaunt, wie wenig reißerische Kraft das Wasser hat.

Julia beschenkt ihn mit liebevollen Augen.



Eine Stunde und einem dicken Erdbeereisbecher später erreicht das junge Wanderpärchen das andere Ende der Fußgängerzone. Hier fließt der Bach ganz ruhig, ist nur noch drei Meter breit, aber sehr tief.

Den in der Sonne liegenden Weg zwischen Felswand und Wasser nehmen sie nicht. Stattdessen erklimmen sie die vielen steinernen Stufen zu einem Hochplateau.

Aber die Schönheit der Aussicht können die beiden nicht genießen.

Hinten, links von der zehn Meter hohen Felsnase, erheben sich mehrere junge Männer. Die Oberkörper frei, dass ihre Tätowierungen in der Sonne bunt schillern. Ein Kontrast zu den kahlgeschorenen Schädeln und den hassfunkelnden Augen.

Geistesgegenwärtig zieht Marwin seine Begleiterin in den Schatten der Felsnase, aus dem Blickwinkel der Halbstarken. Rettung ist das indes nicht.

Auch diese Seite wird beherrscht von Männern gleichen Schlages.

Einer zeigt auf Julia, beschimpft sie wegen ihrer Hautfarbe.

Panisch rennen die beiden zurück zur Treppe.

Hinter sich hören sie schwere Stiefel auf Stein klackern.

Sie nähern sich schnell.

Zu schnell.

Und das gehässige Grölen lässt das Blut in den Körpern der Flüchtenden zu einem dickflüssigen Brei sich wandeln.
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Genau in diesem Moment kommt die Spitze einer langen Menschenschlange über den Rand der Treppe gestiegen.

Gehetzt blickt Marwin sich um.

Furcht geht über in Todesangst.

Julia fasst sich als erstes ein Herz und rempelt die Treppe runter.

Marwin schlägt in die Bresche.

Die Jäger, die von Schlampenklatschen sprechen, ebenfalls.

Am Fuß des Felsens will der junge Mann nach links fliehen, die große, helle Straße entlang.

Julia besteht auf die kleine, dunkle Gasse.

Marwin hadert mit sich selber, dem Mädchen nachgegeben zu haben. Ihm ist, als wäre er freiwillig in eine Mausefalle gegangen. Weit vor ihm leuchtet gelb der Speck.

Taxi steht darauf geschrieben.

Die beiden reißen die Türen auf.

Sie fallen hart in die Sitze, da der Fahrer sofort durchstartet.

Hupend fährt er an den Männern vorbei, die Baseballschläger in der Hand halten. Ein Junge, gerade mal dreizehn, schlägt mit einer Axt auf das Taxi ein.

Gottseidank gelingt die Flucht. Zum Bahnhof. Und auch heimwärts. „Mobilität kann Freiheit bedeuten“, hört Marwin noch einmal die Worte des älteren Wanderers.



Stunden später sitzen die dem Grauen Entkommenen in der Küche von Marwins Wohngemeinschaft. Joshua rührt mit einem Löffel den Zucker in seiner Teetasse und lauscht den Schreckensberichten der beiden.

„Was für ein grausames Land ist das da im Süden“, plustert Marwin sich auf, während seine Hände den Zuckerstreuer kreiseln lassen.

„Ihr seid noch immer in demselben Land“, warnt Joshua.

Mit einem dumpfen Klack stellt Julia ihren Becher ab.

Sie ist viel zu aufgewühlt, als in einem Zimmer sitzen zu können.

Wohnungen kommen ihr jetzt wie Gefängnisse vor, nicht wie ein sicheres Asyl.

In ihren Augen liest Marwin eine Entschlossenheit, die er bisher an dem Mädchen noch nie wahrgenommen hat. Gleichzeitig fühlt er eine eiserne Presse sein Herz zerdrücken.



Nichts Gutes ahnend folgt er Julia ins Treppenhaus.

Vor ihm tänzelt das Flechtmuster ihres Zopfes die Stufen hinunter.
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Eine Freude vorgaukelnd, die in dem Wesen dahinter verschwunden war.

Wie ein unwilliges Zirkuspferd begleitet er den Blondschopf.

Zielsicher steuert sie auf ein Ausflugscafé zu, das an einem kleinen Bach liegt.

Als würde sie vom Wasser angezogen, schießt es Marwin durch den Kopf.



Auf der Terrasse des Lokals schweigen sie sich zu einer Cola an. Julia knetet ihre Lippen. Immer wieder stupst sie ihre Brille hoch, die auf der vom vielen Schwitzen fettig gewordenen Nase nicht mehr sitzen will.

Das Grummeln in Marwins Bauch will nicht vergehen.

Er geht zur Toilette.

Wie er zurückkommt, ist Julia weg.

Der Schrecken überrennt ihn wie eine Wikingerhorde.

Sein Mund klappt auf und zu.

Ein Schrei bricht nicht hervor.

Zu groß ist der Schmerz.



Die Kellnerin, eine alte, füllige Dame mit hellroten Locken gesellt sich zu dem Verzweifelten.

Ihre besorgten und mitleidsvollen Augen bringen Marwins Welt ins Schwanken. Ihm ist, als würde er auf einem Jahrmarkt durch ein überdimensionales, rollendes Holzfass gehen.

Beim Tröstungsversuch der Kellnerin stürzt er zu Boden.

„Sie ist wieder eine Schlange geworden“, hört er die gut gemeinten Worte wie Donner seine Ohren betäuben.



Willenlos lässt der junge Mann sich von der reifen Frau an den mäanderförmigen Fluss geleiten.

Unter einem Felsen lugt der Kopf einer kleinen, grünen Wasserschlange hervor. Hellgrün die Augen, fasst gelb im Abendlicht der Sonne.

„Du musst mich vergessen, Marwin“, übersetzt die Kellnerin die Gedanken der Schlange. „Niemals kehre ich zurück in die Welt der Menschen. Es tut mir leid.“

Das letzte Wort schmerzt noch in Marwins Ohren, als würde ein Zahnarzt seinen Bohrer ihm in die Ohrmuschel drücken, da schwimmt die Schlange schnell zwischen den Felsen davon.



Marwins Herz wird zu Stein.

Stunden später kann er nicht sagen, wie er nach Hause gekommen ist.

Das Wolkenschloss, das er gebaut hat, ist eingestürzt an nur einem Tag.

Wie konnte Julia ihm dieses antun?

Du siehst mich nimmermehr, haben ihm ihre leidgeplagten Augen gesagt.
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Oh, was hat sie Unrecht gehabt.

Jede Sekunde sieht er ihr Bild vor sich.

An der Zimmerdecke ebenso wie draußen am Himmel, als er das Fenster geöffnet hat, in der Hoffnung, die Schlangenfrau würde wie eine Minnesängerin vor seinem Fenster stehen.

Ihre Augen hinter ihrer Brille. Ihr sinnlicher Mund. Der Zopf, der sich wie eine Schlange über ihre Brust ringelt. Das Zucken in ihrer Hand, als er sie vom Steinbruch weggezogen hat. So viele Gesten der Zuneigung vernichtet mit einem allein getroffenen Entschluss.

Niemals.

Nimmermehr.

Von wegen!



Die nächsten sechs Tage geht Marwin jedes Mal nach Feierabend sofort zum Terrassencafé. Viele Schlangen tummeln sich im Bachlauf. Schwarze, dunkelgrüne, hellgrüne.

Irgendwann entdeckt er unter einem Felsen Julia.

In seiner Fischerhose und einem T-Shirt mit einer Schlangenabbildung kniet der Verlorene sich ins Wasser, streichelt mit seinen Fingern über den schuppigen Panzer des Reptils, versucht es, mit den Erinnerungen an die gemeinsamen Tage zu einem Zurückkommen zu bewegen.

Vergebens.

Julia bleibt hart.

Und je größer sein Flehen wird, desto stärker rollt sich die Wasserschlange ein.

Kann sie sein Bedrängen nicht mehr ertragen, schiebt sie ihren Kopf unter ihren Körper.

Dann muss Marwin schnell von anderen Dingen sprechen, damit sie wieder an die Wasseroberfläche kommt und weiter atmet.



Am siebten Tag ist die Wasserschlange nicht mehr auffindbar.

Die Kellnerin berichtet, illegale Fischer hätten sich über den Artenschutz hinweg gesetzt, weil es immer sehr betuchte Männer gibt, die für zartes Schlangenfleisch viel Geld bezahlen würden. Weißes Fleisch der Wasserschlangen würde dabei am besten auf die Potenz wirken, rechtfertigen diese Menschen ihr Überschreiten des Verbots.

Auf dem Caddy hat die Reklame einer ortsansässigen Wäscherei gestanden, kann die füllige Frau mit den hellroten Locken noch einen Tipp geben.



Julia findet sich in einem Kochtopf wieder.

Die Temperatur des Wassers steigt schnell an.

Immer wieder zieht sie all ihre Muskeln zusammen, indem sie sich wie eine Spirale aufspannt.
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Mit einem Schrei lässt sie alle Anspannung los und ihr Körper fliegt hoch. Doch die Kraft reicht nicht aus, den Rand des Topfes zu erreichen.

Und je heißer das Wasser wird, desto schwieriger wird es ihr, ihre Munkeln in Spannung zu versetzen.

Wie hat sie sich nur so täuschen lassen können?

Die Fischerhose im Wasser, die hat doch nur Marwin gehören können. Marwin, dessen abendliche Besuche sie so sehnlichst erwartet hat. Weil, allen Unkenrufen zum Trotz - oder sollte sie lieber sagen, allen kindlich gekränkten Schlangengedanken zum Trotz, ihr Herz noch immer für diesen Menschensohn schlägt.

In Kürze würde es nicht mehr schlagen.

Julia weiß, sie wird sterben.

So hat sie sich das Hinausstehlen aus Marwins Leben nicht vorgestellt.

Jetzt stiehlt sie sich gar aus ihrem eigenen Leben davon.

Verschwindet auf Nimmerwiedersehen im Bauch eines gierigen Menschen.

Oh Marwin, was hab ich uns angetan, sind die letzten Gedanken, bevor Julia ohnmächtig wird.





Laut knallt die Küchentür gegen die Wand.

Mit einem Schrei stürzt Marwin zum Herd.

An der Wand hängt eine Grillzange.

Noch.

Sekunden später liegt die leblose Schlange auf der Anrichte.

Marwin springt zum Wasserhahn.

Füllt einen großen Eimer mit eiskaltem Wasser.

Wirft das leblose Reptil hinein.

Der Kälteschock lässt die Schlangenfrau wieder in ihre menschliche Gestalt fallen.

Reglos liegt Julia auf dem Küchenboden.

Marwin ruft den Notarzt.

Im Anschluss daran dreht er den blonden Kopf auf die Seite und beginnt mit der Herzrhythmusmassage.

Ein Schwall Wasser blubbt aus Julias Mund.

Pumpen. Mund zu Nase Beatmung. Pumpen. Wasserschwall.

So verrinnen die Sekunden, bis die Notärzte eintreffen.

Sie lösen den erschöpften jungen Mann ab.

Julia will partout nicht zurückkommen.

Wie durch einen Schleier sieht Marwin sie auf einer Trage davon schweben.

Der junge Mann will hinterher, die Polizei hält ihn zurück.

Die Gesetzeshüter sind nur ein paar Minuten nach den Ärzten eingetroffen.
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Die Letztgenannten haben den Notruf weiter geleitet. Nun musste Marwin erklären.

Fragen wurden gestellt, die er nicht beantworten kann oder will. Unmöglich darf er offenbaren, dass Julia eine Schlangenfrau ist.

So verstrickt er sich in Widersprüche und raubt den Beamten alle Wohlgesonnenheit.



Auf dem Weg ins Präsidium nach Leipzig dann der Anruf des Arztes. Das Mädchen lebt!

Nach dem Protokoll flitzt Marwin zum nächsten Taxistand, eine halbe Stunde später die Treppen im Krankenhaus hoch.

Julias Bett ist leer.

Die Bettnachbarin kann selber nicht verstehen, wie sich das junge Ding in Luft aufgelöst hat.

Marwin ist einem Nervenzusammenbruch nah.

Weinend geht er ans Fenster.

„Dort, am Fallrohr der Dachrinne, habe ich vorhin eine Schlange runter kriechen sehen“, bekundet die Bettnachbarin und schaut den verzagten Mann mit vielsagendem Augenaufschlag an.

Ein neues Taxi.

Sein Monatslohn zerrinnt zwischen seinen Fingern wie eine Handvoll Sand.

Vergebliche Suche an den Mäandern des Terrassencafés.

Julia ist nicht da.

Jeglicher Griff unter einen Felsen ist ein neuer Tiefschlag der Verzweiflung. Warum flieht das hübsche Schlangenmädchen vor ihm, vor den Menschen? Kaum meint Marwin, sie für sich gewonnen zu haben, windet sie sich aus seinen Fingern. Wo soll das enden? In der Irrenanstalt? Vor einem Zug?

Dann aber morgen, wenn er ausgeschlafen ist.



Wie er durch die Nacht nachhause geht, meint er, in frischen Teer zu staksen. Als wollte der Asphalt ihn daran hindern, heimzukommen, werden dem jungen Mann die Beine immer schwerer. Er hat Angst vor dem leeren Zuhause, vor der schlaflosen Nacht, vor den nicht auszuhaltenden Schmerzen seines Herzens.

Seine Hände zittern so sehr, dass er den Schlüssel nicht ins Sicherheitsschloss bekommt.

Joshua öffnet die Tür.

„Wo warst du denn, Mann“, schimpft er alsogleich.

Am Küchentisch erhebt sich etwas Blondes.

Bloße Füße patschen über den Flur.

Dann hängt Julia an Marwins Hals.

„Ich habe mich für dich entschieden“, flutschen ihr die Worte zwischen den Lippen hervor, während sie die geröteten Wangen des jungen Mannes küsst.
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Kommentare zur Story:

  Herzlichen Dank, Gerald. Über dein Lob freue ich mich sehr.  
   Frank Bao Carter  -  25.03.17 14:16

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  Das hat mir Freude bereitet. Ein wunderschönes Märchen. Es lohnt sich es zu lesen.  
   Gerald W.  -  24.03.17 11:14

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