Kurzgeschichten · Nachdenkliches

Von:    Hans Müller      Mehr vom Autor?

Erstveröffentlichung: 26. Juni 2016
Bei Webstories eingestellt: 26. Juni 2016
Anzahl gesehen: 2620
Seiten: 4

'In dunkelster Einsamkeit keimt die Hoffnung am stärksten – sie ist das Licht, welches Wärme und Geborgenheit bringt, in einer Zeit voller Verzweiflung und Aussichtslosigkeit. Ein ständiger Begleiter auf dem Weg in die Freiheit. Ein guter Freund. Ein starker Wächter. Sie lässt dich nicht im Stich und seien die Mauern noch so dick.'

Die Einzelzelle eines alten Todestraktes, die für viele die letzte Station in ihrem Leben gewesen war, stand seit Jahrzehnten leer. Nur die wenigen Zeilen an der Wand bezeugten bittere Stunden; die letzten eines Menschendaseins. Sie waren kaum noch lesbar. Schwindende Erinnerungen, die ihren Urheber überlebt hatten.

Bei der symbolischen Schließung des Todestrakts verhieß die Polit-Elite in pompöser, schon fast philosophischer Anmut:

„Nie wieder soll ein Menschenleben durch die Todesstrafe ausgelöscht werden. Denn ein Mensch hat nicht das Recht, einen anderen Menschen zu töten oder töten zu lassen. Ab diesem historischen Tage gilt die Todesstrafe im ganzen Land als abgeschafft!“

Es war ein magischer Augenblick. Menschen umarmten sich. Feste wurden gefeiert; Tränen der Freude vergossen.



Carla stand fassungslos in ihrer Wohnung. Ihr Blick verfinsterte sich als sie die Nachricht im Fernsehen vernommen hatte. Ihre Hände ballten sich zu Fäusten. Sie schlug auf den Wohnzimmertisch. Wut und Hass kochten in ihr hoch und suchten ihren Weg in lautem, verzweifeltem Schreien nach draußen: „Er soll büßen!“ „Ich will Vergeltung!“ „Ich will Gerechtigkeit!“ Ihr Blick schweifte auf ein kleines eingerahmtes Bild, das auf einer Kommode stand. „Euer Mörder wird nicht überleben. Das verspreche ich euch!“ Ein Mann, in rot-schwarz kariertem Hemd und mit strahlend weißen Zähnen, schenkte ihr ein vertrautes Lächeln. Auf dem Arm hielt er ein kleines Kind, das die Augen in der Geborgenheit seiner Arme selig geschlossen hatte.

Ein Weinkrampf erfasste Carla. Sie zitterte heftig am ganzen Körper und griff zu den Beruhigungstabletten, die durch die Wucht des Schlages am ganzen Tisch verstreut worden waren. Ein gewohntes Prozedere. In zwei Tagen jährte sich der Todestag der beiden zum dritten Mal. Ein Amokläufer hatte an diesem Tag, schwer bewaffnet, beschlossen so viele Menschenleben auszulöschen wie er konnte.
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Ben, ihr wundervoller Ehemann, und die kleine Sammy – der Sonnenschein der Familie – waren im Kugelhagel umgekommen. Carla überlebte. Der Riss, den ihre Seele durch das Ableben ihrer Liebsten bekam, stürzte sie in eine tiefe Dunkelheit. Sie musste ihren Job als Lehrerin aufgeben, den sie so sehr gemocht hatte. Bekam trotz starker Psychopharmaka und Therapie regelmäßig Panik-Attacken und Weinkrämpfe. Bilder des Vorfalles suchten sie in ihren Träumen heim und ohne starke Schlaftabletten stand sie keine Nacht durch. Der Todes-Schütze wurde lebend gefasst. Sein Anwalt plädierte vor dem Geschworenen-Gericht für seinen Mandanten auf Unzurechnungsfähigkeit. Der Gutachter befand jedoch, dass der Angeklagte zum Zeitpunkt des Vorfalles voll bei Sinnen gewesen war. In seinem Befund stand, dass der Angeklagte mit klarem Verstand sein von langer Hand geplantes Vorhaben in die Tat umgesetzt hatte. Carla konnte sich noch gut an das hämisches Lächeln des Angeklagten erinnern, das er den Geschworenen gezeigt hatte, als sie ihn einstimmig zum Tode verurteilten. Er bereute nichts. Dieser Teufel auf Erden.



Luther vernahm das vertraute Rascheln eines Schlüsselbundes. Längst war es Gewohnheit geworden; Tag für Tag hatte er es gehört. Seit 40 Jahren wartete er auf die Exekution seiner Strafe; Tod durch Giftspritze. Mit dem Gedanken, sein Leben auf diese Art und Weise zu verlieren, konnte er sich noch immer nicht abfinden. Die quietschenden Schritte des Wärters kamen näher und näher. Zu dieser Zeit kam normalerweise die Post, die ein ambivalentes Gefühl in Luthers‘ Magengegend auslöste. Sie konnte Licht oder Schatten, Hoffnung oder Verderben bringen. Luthers‘ Prozess war schon in der letzten Instanz angelangt. Vor Monaten hatte er ein Gnadengesuch an den Gouverneur des Bundesstaates abgeschickt. Ein letzter verzweifelter Akt eines gebrochenen Mannes. Die Chancen standen schlecht, dass seinem Flehen nach Gnade nachgekommen werden würde. Viel eher brächte der Bote die Nachricht, die das Ende seines Seins bedeuten bedeutete.

Doch heute war alles anders. Ein surrealer Tag. Luther durfte auf Grund guter Führung einen kleinen Fernseher sein Eigen nennen und hatte die Botschaft der Polit-Elite zwar vernommen; wirklich realisieren konnte er sie jedoch nicht. Wenn man Tag für Tag mit dem Gedanken aufsteht, dass nicht die kleine Zelle, nicht der rare soziale Kontakt und nicht der Mangel an Sonnenlicht das größte Problem im Leben war, sondern die blanke Angst vor dem Tod den Alltag überschattete, wurde eine gewisse Selbstaufgabe und Hoffnungslosigkeit zur Routine.
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Er würde erst dann glauben, dem Tod von der Schippe gesprungen zu sein, wenn er die Mauern des Gefängnisses lebend hinter sich gelassen hatte.

Der Wärter stand an der Gitter-Türe: „Luther, du hast es geschafft. Wir bringen dich raus.“, geübt sperrte er das Sicherheitsschloss auf. Luther verharrte. „Nun komm schon. Deine Sachen bringen wir dir zur Eingangs-Schleuse.“ Die Gefängnistüre schwang singend auf. Plötzlich begann sein Körper zu zittern. Das gleiche Geräusch hatte er vernommen als sie voriges Jahr Brian, seinen Zellen-Nachbarn, der ihm das Schachspielen beigebracht hatte, abgeholt und hingerichtet hatten. Er konnte sich noch an den stoischen Gesichtsausdruck des kleinen, zähen Mannes erinnern. Keine Träne hatte er vergossen. „Mach’s gut, Luther.“ durchbrach er seine ruhige Mine ein letztes Mal mit einem warmen Lächeln. „Das Schachspiel kannst du behalten.“ Dann schlurfte er – Hände und Füße in Ketten gelegt – den langen dunklen Gang entlang.

„Nein! Ich will nicht sterben! Ich bin unschuldig!“ schrie Luther paranoid. „Beruhige dich, du bist ein freier Mann. Die Todesstrafe wurde abgeschafft und du hast deine Zeit abgesessen.“, der Wärter fasste ihn behutsam an der Schulter an. „Ihr habt Brian getötet! Ihr wollt auch mich töten! Ich bin unschuldig!“ Plötzlich wurde es ihm schwarz vor Augen. Er sackte zusammen, doch der Wärter fing ihn auf.

Als er die Augen wieder öffnete und sein Blick langsam klarer wurde, erkannte Luther die vertrauten Konturen eines geliebten Menschen. Liebevoll strich seine betagte Mutter ihm durch die schütteren ergrauten Haare; ihr fürsorglicher Blick ließ ihn alle Sorgen vergessen. „Bin ich wirklich frei? Oder ist das nur ein böser Traum?“, seine Stimme klang zittrig und schwach. Fest umschloss sie eine seiner Hände mit den ihren und sagte bewegt: „Wir können nach Hause fahren Steven“. Erleichterung und neu gewonnene Lebenskraft durchströmten Luthers‘ – von der Gefangenschaft gezeichneten – Körper. Als die beiden ins überwältigende Tageslicht traten, Luther seine Lungen mit Freiheit füllte, drehte er sich noch einmal um und sagte diesem Teil seines Lebens innerlich Lebewohl.
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Eine Woche später brachte der Postbote einen Brief, in dem sich ein anonymer Absender dafür entschuldigte, dass er ihm eine Bürde auferlegt hatte, die nicht die seine war. Luther verbrannte das Stück Papier. Er wollte seinen Lebensabend in Frieden und Eintracht verbringen.
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Kommentar von "Nausicaä" zu "frühling z2"

einfach toll, dieses frühlingsgedicht. du findest in deinen gedichten häufig ganz eigene, besondere bilder. wunderschön, ohne kitschig zu sein.

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