Memoiren eines Schriftstellers - 4. Kapitel   363

Romane/Serien · Fantastisches

Von:    Francis Dille      Mehr vom Autor?

Erstveröffentlichung: 26. Dezember 2015
Bei Webstories eingestellt: 26. Dezember 2015
Anzahl gesehen: 2708
Seiten: 17

Diese Story ist Teil einer Reihe.

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   Teil einer Reihe


Ein "Klappentext", ein Inhaltsverzeichnis mit Verknüpfungen zu allen Einzelteilen, sowie weitere interessante Informationen zur Reihe befinden sich in der "Inhaltsangabe / Kapitel-Übersicht":

  Inhaltsangabe / Kapitel-Übersicht      Was ist das?


Kapitel 4



Howard Robinsons Tod hatte seine Fangemeinde in Amerika und Europa erschüttert, jedoch nicht nur aufgrund weil er gestorben war. Die New York Times berichtete, dass der berühmte Autor während eines bizarren autoerotischen Erstickungsspiel ums Leben kam, dies wurde von der Polizeibehörde jedoch nicht eindeutig bestätigt. Die Tatsache, dass Howard Robinson mit geöffneter Hose und einer straffen Henkersschlinge um seinen Hals geknüpft in seinem Auto vorgefunden wurde, dessen Seilende oben am Handgriff des Verdecks mit einem Seemannsknoten verbunden war, ließ dieses unglaublich schockierende Indiz aber für sich sprechen. Hinweise für einen Selbstmord gab es nicht, und ein Mord wurde nicht ausgeschlossen, weil Schuhabdrücke einer einzigen Person am Tatort entdeckt wurden. Die Schuhabdrücke von William Carter.

Die New York Times deckte wochenlang täglich, mit fett gedruckten Schlagzeilen, Howard Robinsons perverses Doppelleben auf. Von Prostitution mit Minderjährigen, sexueller Nötigung bis hin zu Vergewaltigungen wurde berichtet. Erst nachdem Robinson den Tod gefunden hatte, ermutigten sich zahlreiche junge Frauen sowie auch Männer den angeblich unbescholtenen Schriftsteller anonym anzuzeigen. Zudem wurde in seinem Auto belastendes Bildmaterial in einer Aktenmappe gefunden, welches selbst dem FBI unbekannt war. Auf verschiedenen Fotografien war Howard Robinson gemeinsam mit Lee Harvey Oswald abgelichtet worden, mit dem mutmaßlichen Attentäter von John F. Kennedy. Auf den Fotos sah man die Männer gemeinsam angeln, lachen und wie sie Bier tranken, und auf einer Fotografie posierten sie mit Repetiergewehre. Der Geheimdienst stand vor einem Rätsel, weil trotz gewissenhaften Ermittlungen niemals aufgedeckt wurde, dass der berühmte Schriftsteller und Oswald sich offensichtlich kannten. Die Fotos waren der eindeutige Beweis dafür und nun stellte sich die Frage: Wer war der Fotograf und hatte Lee Harvey Oswald tatsächlich nicht alleine gehandelt? Die Presse behauptete und veröffentlichte schließlich, dass Robinson auf das Attentat des Präsidenten involviert war und Oswald wahrscheinlich finanziell unterstützt hatte. Die Wahrheit, ob es nun der Tatsache entsprach oder Lee Harvey Oswald nur ein Fan, vielleicht sogar ein enger Freund des Waffennarren Robinson war und diese Fotografien lediglich persönliche Erinnerungen waren, blieb offen und konnte nie geklärt werden.
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Der verstorbene Schriftsteller wurde von den Medien als ein regelrechtes Monster dargestellt. In sämtlichen Talkshows wurde über seinen Tod diskutiert wobei die Verbrechen der bereits verstorbenen Schriftsteller, Chester Winstor und Jacob Stanwick, in Verbindung gebracht wurden, weil sie genauso eine dunkle Vergangenheit verborgen hatten und ebenfalls gewaltsam an ihrem 59. Lebensjahr umgekommen waren. Die legendären Schriftsteller des Teufels wurden sie genannt. Satanskult, Ufologie, Verschwörungen, Massenmörder und Sekten galten insbesondere bei den Jugendlichen als modern. Verschwörungstheoretiker behaupteten vor laufender Fernsehkamera, dass eine unheimliche Macht diese drei Schriftsteller umgeben hätte. Etwas Unnatürliches. Sie hatten einen Pakt mit dem Teufel geschlossen, anders wäre ihr unglaublicher Erfolg, den sie zu Lebzeiten erreicht hatten, nicht zu erklären. Die Bevölkerung reagierte schockiert und zeigte mit dem Finger auf die unschuldige Familie Robinson. Die schandhaften Lasten ihres Ehegattens war Mrs. Robinson nicht gewachsen und so geschah es, dass die gute Frau sich einige Wochen später mit einer Überdosis Schlaftabletten das Leben genommen hatte.

William Carter war wochenlang verängstigt gewesen, schließlich wurden seine Schuhabdrücke am Tatort sichergestellt und ein Seemannsknoten wurde in den Medien erwähnt. Er befürchtete, dass diese Hinweise ausreichen würden um verhaftet zu werden, immerhin war er der Sohn eines Fischers und konnte schließlich jeden Seemannsknoten knüpfen. Vielleicht würde die Anklage dann lauten, er wäre der besagte Fotograf, er wäre gar ein Mittäter der Ermordung von John F. Kennedy gewesen.



Chapter 13-20 aus meinen Memoiren: In den Straßen von New York



Selbstverständlich hatte ich mir gleich am Morgen, nachdem Howard Robinson ermordet wurde, eine Zeitung besorgt. Zu meiner Verwunderung wurde aber nichts über ein Jesuskreuz berichtet, weil es nicht vorhanden war. Robinsons Auto war auf der ersten Seite ganz groß abgebildet worden und es war genau zu erkennen, dass die Heckscheibe unversehrt war. Aber ich hatte es doch gesehen, ich war schließlich dabei, ich bin ja nicht blind. Und die Fotografien, darauf Robinson angeblich gemeinsam mit Oswald zu sehen war, die hatte ich in seiner Aktenmappe aber nicht gefunden.
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Ich konnte es mir nur so erklären, dass ordentlich vertuscht und gemogelt wurde. Wieso, weshalb, warum, konnte ich mir selber nicht erklären. Der Mord an Robinson war jedenfalls sehr kurios und mir war ein lauter Lacher entwichen, als ich lesen musste, dass Howard Robinson einen Sexunfall hatte. So was hatte ich zuvor in meinem kurzen Leben noch nie gehört, geschweige denn geahnt, dass es sowas überhaupt geben könnte. Aber ich befand mich ja jetzt in New York, da ist alles möglich und jedes erdenkliche Gewaltverbrechen, und sei es noch so pervers, gehört hier zum Alltag und verwundert niemanden. Bei uns in Cape Cod war so etwas jedenfalls undenkbar.

Einmal, das ist schon länger her, flitzte so ein durchgeknallter Hippie im LSD-Rausch nackt durch Provincetown bis hinunter zum Strand, bis er schließlich verhaftet wurde. Mann, da war vielleicht was los, kann ich sagen. Mein damaliger Kumpel Oddie und ich hatten uns schräg gelacht und sind dem bekloppten Flitzer hinterhergeradelt. Das war’s auch schon gewesen, sonst könnte ich eigentlich nichts berichten, was in meiner langweiligen Heimat aufregendes passiert war.



Mittlerweile lebe ich seit über einem halben Jahr in New York unter einer Autobahnbrücke, sitze gerade auf der Lehne eines alten Sofas, welches irgendjemand, irgendwann dorthin geschafft hatte, schaue den vorbei rasenden Autos zu und schreibe. Was ich in den letzten Monaten auf der Straße erlebt hatte, inspirierte mich und förderte meine Fantasie. Mittlerweile habe ich schon fünf Romane geschrieben! Na ja, ehrlich gesagt habe ich nur fünf verschiedene Geschichten angefangen zu schreiben, aber diese noch nicht vollendet. Aber die Ideen sind in meinem Kopf und müssen nur noch niedergeschrieben werden.

Die anderen, die hier schon etwas länger wohnen und mich aufgenommen haben, sind wieder unterwegs Geld schnorren und versuchen etwas Essbares aufzutreiben. Bis auf Barney, der ist soeben aus seinem Delirium erwacht und hat erstmal den Rest seines Wodkas vertilgt, um in die Gänge zu kommen und wach zu werden. Sein schulterlanges, braunes Haar ist wiedermal total verklebt, genauso sein Bart. Keine Ahnung, wann der sich das letzte Mal gebadet hatte. Ich musste laut lachen, weil er wiedermal barfüßig herumlief.
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Wer weiß schon, wo der sich in der Nacht wieder rumgetrieben hatte, aber ihn danach zu fragen wäre sinnlos. Wenn er überhaupt antwortete, dann war es nur ein unverständliches Gelalle.

„Hey Barney, alles fit mit dir? Scheiße Mann, haben sie dir etwa schon wieder die Schuhe geklaut?“, kicherte ich.

Barney war ein hoffnungsloser Teufel und der krasseste Penner, der mir je unter die Augen kam. In der Gosse zu landen ist eigentlich schon der Abgrund des Lebens, ein Kellergewölbe ohne Exit (es sei denn es geschieht ein Wunder), aber Barney hatte es doch in der Tat geschafft, darin einen tiefen Tunnel zu schaufeln, um weiter hinab in die Scheiße zu gelangen. Ich glaube, ihm ist es gar nicht mehr bewusst, dass er überhaupt lebt. Es geschieht hier beinahe tagtäglich, dass irgendein Obdachloser den Überlebenskampf nicht mehr gewachsen ist und sich vor den Zug wirft, oder sich im Hudson River ersaufen lässt oder anderweitig sein Leben beendet. Während der Winterzeit erfrieren häufig einige, und im Sommer bekommen insbesondere die Alkoholiker einen Hitzeschlag und verenden kläglich, weil niemand einen Krankenwagen alarmiert, weil es jeden egal ist, wenn ein Penner am Boden liegt. Aber Barney ist gar nicht mehr fähig nachzudenken und hat das Aufgeben bereits vor langer Zeit schon aufgegeben. Ich nehme an, dass er das Leid gar nicht mehr registriert und wenn er eines Tages nicht mehr erwachen würde, wäre er jedenfalls besser dran. Das ist aber nur meine persönliche Meinung. Ob er mir Leid tut? Weiß Gott nicht, ich kann ihn nämlich absolut nicht ausstehen.

Während ich gerade schreibe, steht Barney schwankend mit herunter gelassener Hose dar und pisst genau neben seinen Schlafplatz, dabei hebt er die Flasche an und schluckt seinen Wodka wie ein durstiger Straßenköter hinunter. Wenigstens konnte Gary ihm abgewöhnen, dass er mitten in unseren Wohnbereich oder direkt auf dem Highway uriniert. Dass hatte uns nämlich letztens mächtigen Ärger bereitet, weil sich ein Autofahrer beschwert hatte und daraufhin die Bullen in unsere Unterkunft aufgetaucht waren. Da hatte die Angst aber ganz schön an mir genagt, wegen Robinson und so. Ich blieb aber cool und die Cops hatten mich in Ruhe gelassen. Gary kannte Gott und die Welt, so auch alle Police Officers, die in unserem Viertel Streife fuhren, und ihm war es wiedermal mithilfe seines unwiderstehlichen Charmes gelungen, zu schlichten.
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Ich will ehrlich sein, am liebsten wäre es mir, wenn Barney endlich verschwinden würde, wenn er eines Tages nicht mehr auftauchen würde. Ja, von mir aus dürfte er auch tot sein, war mir scheißegal, genauso wie es mir mittlerweile egal war, wenn wiedermal eine Ratte durch unsere Unterkunft über den Highway flitzte und von einem Truck zermatscht wurde. Zwar lachte ich gerne über Barney aber insgeheim fürchtete ich mich vor ihm. Barney war mir irgendwie unheimlich und normalerweise mied ich es, mit ihm alleine unter der Brücke zu verweilen. Er redete nicht, er aß selten, gelacht hatt er bisher auch noch nie und manchmal starrte er mich an, wie ein irrer Massenmörder. Bis heute konnte ich einfach nicht begreifen, weshalb Gary diesen widerlichen, nichtsnutzigen Penner in unserer Unterkunft duldete. Aber mal der Reihe nach…



Als ich in der Nacht, als dieser Mistkerl Robinson getötet wurde, die Autobahnbrücke erreichte, sah ich mich zuerst ängstlich um. In einer rostigen Tonne brannte ein Feuer, sodass ich die betonierte Unterkunft gut überblicken konnte. Ich war sehr erstaunt denn es sah wie in einer Wohnung aus, nur das die Fenster und Türen fehlten. Auf einer Couchgarnitur schlief ein Mann, der mit Decken zugedeckt war und eine Pudelmütze anhatte. Ich konnte nur sein Gesicht erkennen, er war ein Farbiger. Neben dem Sofa stand eine Stehlampe und davor ein massiver Tisch, darauf doch tatsächlich ein Fernseher mit eingeschlagener Bildröhre stand. Ein paar alte Teppiche lagen auf dem Boden und weiter hinten, an der Betonwand der Autobahnbrücke, erkannte ich noch weitere Möbelstücke. Ich glaubte dort eine weitere Person zu erkennen, die auf einer Matratze schlief. Eine sehr mollige Person. Diese Nacht wollte ich keinesfalls alleine verbringen, also legte ich meinen Schlafsack nahe an die wärmende Tonne und schlüpfte hinein. Zuvor hatte ich meine Robinson Romane in die Tonne geworfen und dabei apathisch zugesehen, wie die Flammen die Bücher verzehrten.

Am nächsten Morgen, es war der erste Dezember, erwachte ich nicht nur durch den Lärm der Autos und Trucks, die auf dem Highway vorbei sausten, sondern eher weil jemand mit einem Saxophon Jingel Bells spielte. Es war bitterkalt und außerdem stank es fürchterlich nach Abgase, weiter zu schlafen war einfach nicht mehr möglich.
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Langsam ging ich auf den Farbigen zu; er hockte auf der Rückenlehne des zerlöcherten Sofas und spielte dabei Saxophon. Ich war begeistert, denn es klang wirklich cool und sehr professionell. Das Saxophon spielen hatte er ziemlich gut drauf gehabt. Zudem erinnerte es mich, dass die Weihnachtszeit begonnen hatte. Das hatte in den letzten Jahren für mich an Bedeutung verloren aber jetzt, als ich diesen Kerl hörte, wie er mit seinem Saxophone Weihnachtslieder spielte, war ich wie verzaubert und erinnerte mich wieder, wie ich damals mit meinen Eltern unter unserem Weihnachtsbaum gemeinsam sang.

Da es sich nun im frühmorgendlichen Berufsverkehr auf dem Highway staute, unterhielt der schwarze Mann mit dem Parker und Pudelmütze die gestressten Leute mit etwas Musik, die wahrscheinlich auf dem Weg zum New York International Airport waren. (Moment, das muss ich verbessern. Der Flughafen wurde nämlich unbenannt und heißt, seitdem der Präsident letztes Jahr erschossen wurde, John F. Kennedy International Airport.)

Einige Leute waren trotz des nervigen Staus erfreut. Sie kurbelten ihre Scheiben runter, klatschten Beifall und warfen Münzen herüber. Und als ein Autofahrer während er im Schritttempo vorbei fuhr aus dem Autofenster rief: „Hey Gary, spiel doch mal White Christmas!“, grinste der schwarze Mann, zeigte mit dem Finger auf ihn und wechselte die Melodie von Jingle Bells übergangslos auf White Christmas. Daraufhin warf ihm der Autofahrer eine Handvoll Dimes über den Asphalt. Als ich mich direkt neben der Couchgarnitur gesellte, hörte er abrupt zu spielen auf, lugte aus dem Augenwinkel zu mir rüber und grinste bis seine weißen Zähne aufblitzten.

„Na Bruder, was geht?“

Ich blickte ihn nur großäugig an und zuckte mit der Schulter.

„Dann ist ja alles klar. Wir verstehen uns doch. Du weißt ja, was du zu tun hast. Stimmt’s, Bruder?“, grinste er.

Nein, ich hatte nicht verstanden, was er wollte und schüttelte mit dem Kopf.

„Beweg deine vier Buchstaben und lies die Almosen auf, dann gehen wir beide vernünftig frühstücken. Bleib am besten immer in meiner Nähe, denn du hast noch viel zu lernen.“

Er grinste schelmisch, hielt das Saxophon wieder an seinen Mund und legte dann richtig los, indem er Rockin Arround The Christmas Tree spielte.
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Gary war der Hausherr dieser Unterkunft und der einzige vernünftige Mensch, der mich umgab. Da waren noch weitere Mitbewohner. Max und Huby, die auf umgedrehten Bierkästen hockten, bereits am frühen Morgen ihre Budweiser tranken, mich mit ihren zerknautschten Gesichter dämlich angrinsten und mir zuprosteten. Weiter hinten, direkt an der betonierten Brückenwand, standen ein paar Pappkartons und ein selbstgebauter Schrein, darauf Jesus und Maria Figuren in allen möglichen Größen nebeneinander reihten. Eine Bettmatratze lag auf dem Boden, darauf eine dicke Frau mit erröteten Pausbacken hockte. Das war Big Marthas Bereich. Sie aß einen Schokoriegel und auch sie griente mich an. Es war für mich schon mal beruhigend, dass ich scheinbar willkommen war. Dann entdeckte ich noch einen Mann mit einem dunklen Mantel, der sich mit stinkenden Lumpen zugedeckt hatte. Neben ihm lagen einige geleerte Wodkaflaschen. Und das war Barney, der Nachtschwärmer, der stets in der Frühe erst in die Unterkunft hereingetorkelt kam, um seinen Rausch auszuschlafen und gegen Mittag wieder wortlos verschwunden war. Barney befand sich, wenn er schlief, in einem todesähnlichen Zustand und selbst wenn die Russen in die Stadt einmarschieren und eine Atombombe zünden würden, selbst das würde Barney sicherlich gar nicht mitbekommen.

Gary kramte in seiner Pappkartonkiste herum und schenkte mir einen abgetragenen Army-Parka und eine Russenmütze. Nun sah ich zwar wie ein waschechter Obdachloser aus, dafür war mir aber nicht mehr kalt. Während wir durch die Bronx in Richtung nach Manhattan marschierten meinte Gary, dass wir zuerst einen Abstecher zum Yankee Stadium machen würden, um dort zu arbeiten. Danach würden wir zur Fifth Avenue nach Manhattan gehen, um Geld zu verdienen.

„Wir gehen arbeiten?“, fragte ich verwundert.

„Ja, Mann. Ich kenne den Hausmeister des Yankee Stadium, dort werden wir ihm beim Aufräumen helfen. Gestern war doch das Baseballspiel, die New York Yankees haben die Boston Red Sox regelrecht platt gemacht, Bruder. Der Hausmeister lässt uns als Gegenleistung duschen, nachdem wir ihm behilflich waren. Danach werden wir unser Mittagessen verdienen.
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Gary meinte, dass wir uns auch in der Stadt einfach am Straßenrand hinhocken könnten, wie es die meisten Obdachlosen machten, um mitleidig um ein paar Cents zu betteln. Aber der Fünfundvierzigjährige, der bereits seit sieben Jahren in den Straßen von New York lebte, hatte trotz seiner aussichtslosen Misere niemals seinen Stolz und seine Würde verloren. Die Leute seien zwar in der Regel gnädig und würden immer Mal einen Dime springen lassen, insbesondre in der Weihnachtszeit, aber um vernünftig zu überleben, müsste man ihnen etwas bieten. Gary bemühte sich, indem er die Leute mit seinem Saxophon unterhielt und dabei sogar steppte. Dann zückten sie sogar Dollars. Als ich ihn dann fragte, wie ich ihm dabei behilflich sein könnte, schließlich konnte ich weder singen, tanzen und erst recht nicht steppen sondern nur schreiben, antwortete er grinsend bis seine weißen Zähne aufblitzten: „Du? Du wirst mein Nigger sein, den Hut rumreichen und das Geld einsammeln, Bruder.“

Mag ja sein, dass mich Gleichaltrige für altmodisch halten würden wenn ich mich geortet hätte, dass mich Steppen absolut begeistert. Ebenso hätten sie mich ausgelacht wenn ich dazu gestanden hätte, dass ich Shirley Temple Filme über alles liebe. Der berühmte farbige Schauspieler Bill Robinson, der aber schon 1949 gestorben und der häufigste Filmpartner von der kleinen Shirley Temple war, konnte steppen wie ein Meister. Ihn bewunderte ich genauso.

Nun kannte ich jemanden persönlich, mit dem ich sogar zusammen lebte, der ebenso wie ein Meister steppen konnte. Und Gary lachte mich keineswegs aus denn er verstand es, und ich schämte mich absolut nicht, als ich ihm erzählte, dass ich ein großer Shirley Temple Fan war und alle ihre Filme angesehen hatte. Shirley Temple war meine absolute Traumfrau, erzählte ich ihm euphorisch, und außerdem erzählte ich ihm, dass ich mir sehnlichst eine Tochter wünschte, die genauso hinreißend sein sollte, wie sie damals als kleines Mädchen gewesen war. Shirley Temple war also nicht nur meine Traumfrau, sondern ihre Person bewog mich dazu regelrecht besessen zu wünschen, eines Tages eine eigene Tochter zu haben.

Für meine europäischen Leser und den Rest der Welt muss ich vielleicht erklären, dass Shirley Temple der erste Kinderstar von Hollywood gewesen war.
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Ihren populären Durchbruch erlangte sie in den 1930er Jahren bereits mit sechs Jahren. Sie konnte singen, sie konnte tanzen, sie konnte schauspielern und die Herzen der Menschen erobern. Das kleine Mädchen vermochte mich jedes Mal zu verzaubern, wenn ich sie im Fernseher sah, doch nun war sie eine ausgewachsene Frau und für mich eine Göttin.



Die Fifth Avenue in Manhattan war überwältigend. Mit offenem Mund starrte ich über eine riesige Kreuzung, mit Ampeln und Zebrasteifen und blickte hoch hinauf auf das Empire State Building, auf das zurzeit größte Gebäude der Welt. Das war also der Wolkenkratzer auf dem King Kong hochgeklettert war und New York in Atem gehalten hatte. Mit meinem Freund Oddie war ich damals 1956 im Kino gewesen und hatte mir den Film Panik in New York angesehen. In diesem Blockbuster ging es darum, dass nach einem Atombombentest ein Dinosaurier zum Leben erweckt wurde und dann in der Metropole NY wütete. Ein amerikanischer Godzilla sozusagen.

Ich blickte hoch hinauf auf das Empire State Building. Man sah es dem Baustil an, dass es in den 30ern erbaut wurde und aufgrund dessen wirkte es auf mich, wenn ich mir die neumodischen Gebäude ansah, edel, majestätisch und absolut zeitlos. Die einzige Großstadt die ich bisher je gesehen hatte, war Boston. Boston wirkte auf mich pompös, sauber und edel – New York dagegen gigantisch, verwegen und abenteuerlustig.

Ich war in dem Moment total in Gedanken versunken, als dass ich die ganzen Menschen um mich rundherum wahrnahm, die Gary applaudierten. Doch ich wurde jäh aus meinen Träumen gerissen, als Gary sein Saxophon direkt an mein Ohr hielt und einen Kavalleriemarsch blies. Die Leute hielten sich die Bäuche vor Lachen, als ich verschreckt zusammen zuckte und mit meinem Finger im Ohr bohrte. Im ersten Moment war ich nicht sonderlich darüber erfreut, aber Gary, oh ja Gary war begeistert. Er meinte abends, als wir wieder in unserer Unterkunft waren und ich schmollte, dass diese Slapstick-Einlage genial wäre und wir diese ab sofort in unserem Programm einbeziehen müssten, weil es Geld einbringen würde. Die Leute hatten nämlich daraufhin, nachdem mir Gary mit seiner blöden Trompete ordentlich ins Ohr getrötet hatte, reichlich gelöhnt. So konnten wir uns einen Burger mit Pommes in einem Wendy`s Restaurant erlauben und hatten danach sogar noch genügend Dollars um uns ein paar Dosen Pepsi und Donuts zu leisten.
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„Weißt du, Bruder“, klärte mich Gary auf, als er seinen Wendyburger verschlang, „zu beachten musst du noch hier auf der Straße, dass deine Klamotten trocken und sauber bleiben und du unbedingt auf deine Gesundheit achten musst. Damit meine ich, meide den Regen und fresse bloß nichts aus der Mülltonne, wie Barney, Max und Huby. Diese Jungs sind Penner durch und durch, wir dagegen sind Obdachlose. Verstehst du den Unterschied, Bruder? Deine Gesundheit musst du unbedingt hüten, denn du kannst nicht einfach zum Arzt spazieren gehen und erwarten, dass der dich behandelt. Der wird dir nicht einmal deinen Blutdruck messen, weil du nicht krankenversichert bist. Außerdem musst du dich vor dem Alkohol hüten und das Rauchen sein lassen. Das ist nämlich Zeitverschwendung, weil du dich statt um Nahrung, dich zuallererst um dieses sinnlose Laster bemühen würdest. Sieh dir nur Barney an, wohin das geführt hat.“

„Was willst du eigentlich mit Barney? Schick den blöden Penner doch zum Teufel. Der macht uns doch nur Ärger und nützen wird er uns sowieso nie“, sagte ich während ich meinen Burger verschlang.

„Nein, Mann. Das wäre sein absoluter Untergang … Wenn das überhaupt noch möglich ist. Der weiß doch gar nicht wohin er soll. Die Anderen würden ihm die Kleider vom Leib reißen, sobald er schläft. Er ist bei uns, weil er mir vertraut, Bruder. Ich bin seine absolute, allerletzte Haltestelle, dort wo er sich sicher fühlt. Barney ist wie eine Straßenkatze, die einfach weggeht und irgendwann wiederkommt. Verstehst du? Er weiß, dass es bei mir warm ist und immer etwas zum Essen da ist. Ich kann ihm doch nicht seine allerletzte Geborgenheit nehmen. Genauso wie dir.“

„Wie mir?“

„Ja, Mann. Gott hat dich zu mir geschickt, damit ich auf dich aufpassen soll.“

„Gott hat mich zu dir geschickt? Du hast doch einen Knall! Gott bestraft mich, so sieht die Sache aus, Kollege. Sag mal, glaubst du deinen eigenen Bullshit wirklich?“, fragte ich prustend.

„Ja, Mann.“

„Willst du mich jetzt verarschen?“

„Nein, Mann. So sehe ich die Dinge eben, William. Meine Aufgabe ist es, die Straßenleute zu betreuen.
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Ich habe zwar nicht immer Erfolg, wenn ich beispielsweise den Kids versuche einzureden, dass sie die Finger von Drogen lassen sollen. Meistens sagen sie dann: Ach, alter Mann, du hast doch keine Ahnung, du weißt doch gar nicht was abgeht. Verpiss dich doch du Penner, ich habe alles unter Kontrolle.“

„Warum machst du es dann? Scheiß doch auf die blöden Kids, die scheren sich auch einen Dreck um dich und lachen dich aus, weil du ein Penner bist. Du bist doch nicht für jeden verantwortlich.“

„Nein, Bruder! Du verstehst das nicht. Ich lebe in der Gosse. Okay, das habe ich bereits seit Jahren akzeptiert. Aber ich will nicht, dass mein Leben sinnlos ist.“ Er legte seinen Burger nieder, fasste mir an die Schulter und blickte mich kauend an. „Du bist meine neue Hoffnung. Mein Ziel ist es, dich hier aus dieser Hölle wieder hinauf zu befördern, denn du gehörst hier absolut nicht her.“

„Verdammt Gary, du bist nicht für mich verantwortlich! Ich komm auch ganz gut alleine ohne dich zurecht“, antwortete ich ihm verärgert.

„Sag das nicht, Bruder“, antwortete Gary, wobei er energisch mit dem Zeigefinger auf mich deutete. „Denn jetzt bist auch du für mich verantwortlich. Wenn du es nämlich nicht schaffst, aus der Gosse zu kommen, gebe ich dieses brotlose Amt endgültig auf. Dann hast du mich enttäuscht und mir gezeigt, dass es tatsächlich sinnlos ist, euch jungen Burschen helfen zu wollen. Dann war mein Leben in der Tat sinnlos“, sagte er ernst. Aber sogleich gab er mir eine Backpfeife und grinste wieder gewohnt schelmisch.

Ich blickte zur Seite und seufzte. Ich wusste nicht ob er seine Äußerung ernst meinte, weil er wiedermal grinste. Meine bescheuerte Feinfühligkeit war es wiedermal, die mich zum Nachdenken anregte und ich keineswegs wollte, dass Gary von mir enttäuscht werden würde.



Jeden Tag gingen wir hinaus um zu arbeiten, um diesen weiteren Tag irgendwie zu überleben. Die Weihnachtszeit war für uns vorteilhaft, denn die Leute waren in der Adventszeit besonders spendabel. Von dem Ertrag seiner Tanz- und Gesangeinlage gönnten wir uns meistens erstmal einen saftigen Burger mit Pommes und Coca Cola bei Wendy`s. Danach kauften wir hauptsächlich Reis und ein paar billige Fischdosen und unser Geld war bis auf wenige Cents auch schon dahin.
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Gary war sehr erfahren, wie es auf der Straße zuging, und wusste ganz genau, wie man das Herz der Leute erobern konnte. Das Schlitzohr wusste genau, wie man einem das Geld aus der Brieftasche entlocken konnte. Am besten gefiel mir sein Rosentrick. Dazu gingen wir zuerst zu den Friedhöfen, stöberten in den Kompostcontainern rum und suchten nach brauchbaren Rosen, bis wir einen kompletten Blumenstrauß gebunden hatten, den ich schließlich tragen musste, weil ich ja sein Nigger war. Gary hatte das Gespür, bei welchem Frauentyp die Rosenmasche Erfolg haben könnte. Meistens waren es junge Frauen die er sich aussuchte. Gary wagte sich doch tatsächlich an Studentinnen ran und ich stand wie ein Tölpel daneben und schämte mich, weil sie gleichaltrig waren, sie irgendwann zu etwas bringen würden und ich nur ein Bettler war. Dann kniete er vor ihnen nieder, hielt seine Hand auf seine Brust, reichte ihnen eine Rose und sang lautstark den aktuellen Hit von Percy Sledge: When A Man Loves A Woman. Mann, konnte Gary singen. Er hatte eine unglaubliche Soulstimme; er hörte sich in der Tat wie Percy Sledge an und Gary konnte sogar Louis Armstrong imitieren, woraufhin die meisten Mädels ihr Portemonnaie zückten und ihm etwas von ihrem Taschengeld spendierten.

Gary lief auffällig groovig herum und gestikulierte ständig mit seinen Händen, wenn er redete. Er war mit Abstand der coolste Fünfundvierzigjährige, den ich je kennen gelernt hatte. Sein Lebensmotto lautete: Jeden Tag eine gute Tat vollbringen. Damit meinte er, einen behinderten Menschen zu helfen oder auch einen anderen Obdachlosen von seiner eigenen Mahlzeit etwas abzugeben. Einer alten Frau beim Tragen ihrer Einkaufstüten zu helfen, wäre auch eine Option, jedoch sollte man diese Gefälligkeit behutsam angehen, andernfalls könnte dies als ein Überfall aufgefasst werden, meinte Gary.

„William, um auf der Straße überleben zu können, musst du immer gut gelaunt und fröhlich sein. Take it easy, alles ist cool, verstehst du mich, Bruder? Wir begegnen Leute die absichtlich wegsehen, weil sie das Elend nicht wahrnehmen wollen, weil sie davor Angst haben. Du musst sie mit deiner Heiterkeit anstecken, ihnen zeigen – Ja, ich bin obdachlos, das verdammte Schicksal hat mir kräftig in den Arsch getreten aber ich werde das schon meistern – dann geben sie dir auch was.
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Also smile, immer lächeln.“

Gerald Thompson, wie er eigentlich hieß, war bemerkenswert (Gary erzählte mir, dass jeder auf der Straße einen Spitzname hat). Trotz seiner misslichen Lage machte er einen rundum zufriedenen Eindruck, grüßte die Passanten und plauschte mit den Müllmännern, mit den Taxifahrern und sogar mit den Bullen. Mit jedem sozusagen, den er auf der Straße antraf. Sogar mit den Zeugen Jehovas. Dabei hatte ihn das Schicksal schwer gebeutelt. Seine Ehefrau hatte ausgerechnet mit seinem Arbeitgeber eine Affäre gehabt und als Gary dahinter kam, wurde der Lagerarbeiter fristlos gekündigt (einen Schwarzen grundlos zu kündigen, war damals für einen Arbeitgeber völlig problemlos). Die Scheidung folgte und weil er fortan kein Geld verdiente, bekam er auch keine Wohnung. Zu allem Übel war Gary krank, er hatte einen Herzfehler und benötigte täglich Tabletten, die aber monatlich mindestens 40 Dollar kosteten. Selbst als er noch arbeiten ging konnte er sich seine unabkömmliche Medizin nur leisten, weil seine hübsche Ehefrau als Verkäuferin in einem Supermarkt tätig war. Jetzt sah die Situation so aus, dass die Herztabletten genauso gut eine Millionen Dollar kosten könnten, es war für ihn einfach unerschwinglich denn es ergaben sich schließlich auch Tage, die keinen Cent einbrachten und wir hungern mussten.

Gary führte mich täglich durch Manhattan und zeigte mir wo es sich’s lohnte, zu arbeiten oder in welchen Container eines Supermarktes etwas Essbares zu finden war, das sogar noch absolut genießbar war. Und er zeigte mir auch welche Stadtviertel tabu waren, weil dort Straßengangs die Herrschaft hatten. Eigentlich war es an jeder Straßenecke riskant, an den Ampelanlagen zu warten bis die Autos anhielten, um für ein paar Cents die Windschutzscheiben zu putzen. Letztens sind wir von einem dicken Farbigen dabei erwischt worden, wie wir an seiner Ampel Windschutzscheiben geputzt hatten, der hatte uns daraufhin mit einem Baseballschläger verjagt.

„William, mit diesen schwarzen Arschlöchern ist nicht gut Kirschen essen. Die schlagen dir mitten auf der Straße den Schädel ein und verpissen sich dann. Ebenso machen wir einen riesengroßen Bogen um jedes italienische Restaurant.
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Wenn die verdammten Itaker dich dabei erwischen, dass du im Hinterhof in ihren Müllcontainer rumstöberst, werden sie dich bis in deine Unterkunft verfolgen. Die bringen dich zwar nicht um, denn die sind nicht so blöd und riskieren in den Knast zu wandern, nur weil sie einen nichtsnutzigen Penner totgeschlagen haben. Das regeln die Makkaronis anders. Die schlagen dich nur zusammen, zerstören deine Unterkunft und zu guter Letzt werfen sie dich bei der Eiseskälte in den Hudson River. Das ist die Mafia, Bruder. Die scheiß Itaker kontrollieren ganz New York.“

„Ganz New York?“, fragte ich erstaunt.

Daraufhin zog er mir meine Russenmütze tief ins Gesicht, gab mir einen Klaps auf den Hinterkopf, trat mir in den Hintern und grinste.

„Mann Bruder, bist du grün hinter den Ohren, da wird mir ja richtig bange. Bis auf Chinatown natürlich, da regiert der gelbe Mann. Aber dort werden Leute, wie du und ich, auch nicht unbedingt herzlich empfangen. Die Schlitzaugen darf man auf gar keinen Fall unterschätzen. Ich meine, sieh dir doch diese gelben Gartenzwerge nur an. Ständig grinsen sie und nicken höflich, aber wehe dem du schnüffelst in ihren Müllcontainern rum. Da verstehen die keinen Spaß mehr und machen Ching-Chang-Chong mit dir.“



Eines Tages führte Gary mich in die Unterwelt, wie er es bezeichnete, die Rolltreppen hinab zu den U-Bahnstationen, hinab zu den Junkies. Tagtäglich verkehrten dort abertausende Menschen, die ihren Arbeitsplatz nachgingen. Die Junkies hockten an den kalten, gefliesten Kacheln der U-Bahnstationen und glotzten mit ihren stechnadelkleinen Pupillen wie abgewichste Vampire drein. Nur die keinen Druck ergattert hatten, wanderten wehleidig umher und bettelten die Passanten penetrant um Kleingeld an. Gary zeigte mit dem Finger beim Vorbeilaufen auf einen jungen Kerl, der demütig auf seinen Beinen kniete und seine Hand aufhielt.

„Diesen Wichser kenne ich nur zu gut, halt dich von dem fern, Bruder. Der heuchelt dir eine Freundschaft vor und dann beklaut er dich. Sieh ihn dir nur an. Das Arschloch ist jung genug, um zu arbeiten. Aber der Penner geht den einfachen Weg und versucht zu schnorren und stiehlt hin und wieder. Stehlen“, sagte er mit erhobenen Zeigefinger, „werden wir niemals. Das bringt nur Ärger und kann gefährlich werden. Selbst wenn du einen Penner bestiehlst und dieser erfährt, dass du es warst, wird er sich rächen.
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Er wird dir im Schlaf den Schädel einschlagen, was hat der noch zu verlieren? Im Gefängnis ist es warm und dort bekommt er täglich zwei warme Mahlzeiten. Ebenso musst du unbedingt darauf achten, dass du selbst nicht zu viel Geld besitzt. Was wir verdienen müssen wir auch sofort umsetzen, weil wir insbesondere von den Junkies beobachtet werden. Ist sowieso besser, denn wer weiß schon, ob wir den nächsten Tag erleben werden“, sagte er seufzend.

Wir Gammler waren eigentlich nirgendwo erwünscht und trotzdem traf man uns überall an. Sogar im Central Park lungerten manchmal Penner rum aber meistens wurden sie von Streifenpolizisten wieder verscheucht. Gary meinte, so lange man sich benehmen würde, wäre es kein Problem auch dort ein paar Cents zu verdienen. Wir trafen im Central Park plötzlich vier Gestallten an, die auf einer Parkbank saßen. Die sahen vielleicht merkwürdig aus, kann ich sagen. Der Älteste trug einen schwarzen Mantel und einen Zylinder auf seinen Kopf. Mit seinem grauen Rauschbart und schmalem Gesicht, erinnerte er mich etwas an Abraham Lincoln. Zwei von ihnen waren mit vergammelten Herrenanzügen bekleidet und hatten jeweils einen zerknitterten Bowler auf ihren Köpfen. Der Jüngste von ihnen, allerhöchstens war er genauso alt wie ich, trug eine Schirmmütze, eine Cordhose und ein altmodisches Jackett. Man sah es den Typen an, dass sie Iren waren. Als wir an ihnen vorbei liefen, hielten sie zugleich eine braune Papiertüte hoch (Ja, es waren Einkaufstüten) und prosteten uns zu.

„Hey Gary! Merry christmas and kiss our asses!“, begrüßte uns der Alte mit dem Zylinder. Dann lachten sie zugleich. Gary grinste breit über die Backen.

„Ja Mann, ich wünsche euch auch eine frohe Weihnacht. Hey Jungs – Gary fasste an meinen Schultern und rüttelte mich – das ist William. William Carter, der wird irgendwann ein Schriftsteller werden, sag ich euch.“

„Sei gegrüßt, Willie“, sagte der Älteste.

„Was sind das denn für schräge Vögel?“, fragte ich naserümpfend.

„Ach, das sind nur die Ugly Brothers. Die sind zwar völlig gaga in der Birne, aber in Ordnung. Das ist das, was ich meine, William. Die sind jeden Tag stockbesoffen aber benehmen sich.
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Sie verstecken ihren Fusel, um kein Aufsehen zu erregen. Sie sind sogar eine kleine Berühmtheit in New York. Sie sind lustig und unterhalten die Leute. Es gibt sogar Touristen die sich mit ihnen fotografieren lassen. So bestreiten die Ugly`s ihren Lebensunterhalt, sie sind sogar stolz darauf, Penner zu sein.“

„Hey, das ist cool“, sagte ich. „Sie nennen mich Willie, das klingt echt gut. Jetzt habe ich endlich auch einen Spitznamen, genauso wie du.“

Gary starrte mich ernst an und antwortete: „Keine Ahnung, was du daran cool findest, Bruder. Einen Spitznamen auf der Straße zu bekommen bedeutet, dass du verloren bist, weil du dazu gehörst.“



Als wir am Heiligabend unter der Brücke waren, stellte Gary einen kleinen Tannenbaum auf, wobei der zahnlose Max und der stets besoffene Huby applaudierten. Big Martha war völlig entzückt. Die dicke Frau watschelte auf Gary zu und umarmte ihn. „Gott sieht alles“, sagte sie, wobei sie über ihre Pausbacken griente. Dann kramte Big Martha in ihren Pappkartons herum, holte Weihnachtsschmuck heraus, dass sie im Sperrmüll aufgesammelt hatte und schmückte den Baum. Gary legte sich auf seine Couch und starrte hinauf in den Sternenhimmel, während die Autos unter die Brücke vorbei rauschten. Er griff sich dabei an die Brust und atmete schwer.

Max und Huby taten eigentlich das, was sie immer machten. Intensiv sinnloses Zeugs quatschen und dabei Bier und Schnaps saufen. Bis auf Barney waren alle da. Ich hatte sogar zwei Geschenke. Big Martha überreichte ich eine kleine Engelfigur, die eine Trompete in ihren Händen hielt. Das Engelchen hatte ich auf einem Flohmarkt gekauft. Über ihre Reaktion war ich völlig überrascht, denn sie brach in Tränen aus, neigte ihren Kopf seitlich und sagte: „Gott sieht alles, mein Kind.“ Sie trug stets zu jeder Jahreszeit fingerlose Handschuhe und einen grauen Mantel, fasste vorsichtig mein Gesicht und schmatzte mir auf die Stirn. Ihre Dankbarkeit war dermaßen ehrlich, dass es mir eine Gänsehaut bescherte. Dann hockte sie sich auf ihre Matratze, redete wieder mit sich selber und aß einen Schokoriegel. Sie war eine eigenartige Person.

Gary schenkte ich eine Spieluhr. Er blickte mich stirnrunzelnd und völlig verdutzt an, als er auf seinem Sofa lag. Damit hatte er nicht gerechnet, am Weihnachten beschenkt zu werden.
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Er öffnete den Deckel, sah der tanzenden Ballerina zu und lauschte nach der lieblichen Melodie. Seine Augen funkelten.

„Sag mal, wo hast du das her, Bruder? Etwa aus einem Laden geklaut?“, fragte er aufgebracht.

„Wo hast du denn den Tannenbaum her? Etwa aus einem Nachbargarten gestohlen?“, erwiderte ich lächelnd.

Selbstverständlich hatte Gary die kleine Tanne aus irgendeinem Vorgarten eines noblen Viertel, irgendwo in Brooklyn entwendet. Aber Gary hatte mich doch belehrt, dass wir nicht stehlen sollten und die Spieluhr hatte ich tatsächlich auf dem Flohmarkt günstig ersteigert.

„Nein Bruder, die Tanne habe ich nicht gestohlen, sondern sie mir nur ausgeliehen.“

„Ausgeliehen?“, fragte ich verdutzt.

„Ja, Mann. Nach Weihnachten bring ich die Tanne wieder zurück“, grinste er, machte die Augen zu und schlief.



Nachdem Gary eingeschlafen war schlüpfte William Carter in seinen Schlafsack. Eine himmlische Ruhe herrschte, weil am Heiligabend nur wenige Autos vorbei fuhren. Ein besinnliches Weihnachtsfest stellt man sich sicherlich anders vor, als wie ein Penner unter einer Brücke zu hausen. Doch an diesen Weihnachten des Jahres 1964 fühlte William sich zufrieden und sogar geborgen, weil er zwei Menschen glücklich gemacht hatte. Jedenfalls für einen Moment in ihrem kaputten Leben.
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