Der Zauber vom Montmartre - 16. Kapitel der "Französischen Liebschaften".   294

Romane/Serien · Spannendes

Von:    Michael Kuss      Mehr vom Autor?

Erstveröffentlichung: 31. Oktober 2013
Bei Webstories eingestellt: 31. Oktober 2013
Anzahl gesehen: 2576
Seiten: 12

16. Kapitel der Französischen Liebschaften: "Der Zauber vom Montmartre".

*

Katharina las jedes Zeitungshoroskop, das ihr in die Finger kam. Sie verschlang alle bunten Blätter in Wartezimmern, Bistros, beim Friseur und sie mixte sich eine für sie passende Mischung zusammen. Aber die Ernsthaftigkeit, mit der sie diesen Humbug im Zusammenhang mit ihrem Liebsten Henry betrieb, war mir neu. Katharina wollte eine zweite Meinung einholen und hatte mich um Rat gebeten. Aber wie konnte ich ihr helfen?

Da fiel mir Mrabout, der Senegalese ein. Mrabout spielte Bongo in einer afrikanischen Band und studierte in Paris Politikwissenschaft mit Schwerpunkt Kommunalverwaltung. Sein Vater war Marabu, ein heiliger und geachteter Medizinmann, Heiler, Helfer und Wahrsager, der seine Pariser Praxis in der Rue de Suez betrieb, wenn er nicht gerade auf großer Heilungsverkündung im Senegal oder in anderen afrikanischen Ländern unterwegs war. So steht es auf den kleinen Handzettel, die seine Helfer verteilen. Sie stehen am Ausgang der Metrostation Barbés Rochechouart, wo sich zwischen Lärm und hektischem Treiben fast ausschließlich Afrikaner und Maghrebiner durch die Drehtür des Metroeingangs drängen und über die Straße rennen, ohne auf den Verkehr zu achten.

Ich rief Mrabout wegen einem Termin bei seinem Vater an. „Mein Vater arbeitet ungern für Weiße; in Ausnahmefällen aber für empfohlene Freunde! Und du bist mein Freund!“ Ich erklärte Katharinas Problem und Mrabout beteuerte: „Liebesfragen sind die Spezialität meines Vaters!“ Katharina sollte auf jeden Fall ein paar Vorbereitungen treffen und zum Termin mitbringen. „Mein Vater braucht je eine Haarlocke und einen abgeschnittenen Fingernagel des rechten Zeigfingers von beiden betroffenen Personen. Dann sollen die beiden einen Tag vor der Beschwörung ein Hühnchen zusammen essen, die Frau muss die Knochen auskochen und alles, Knochen und Brühe mitbringen!“

‚Was in Gottes Namen hat ein angehender Politikwissenschaftler mit Knochenbeschwörung zu tun?’ dachte ich, schwieg aber gegenüber Mrabout und rief Katharina an. „Du musst auf Nummer Sicher gehen!“ erklärte ich ihr. „Mrabouts Vater ist in ganz Afrika bekannt und auch in Paris ein berühmter Mann!“ Katharina war einverstanden. Für ihr Liebesglück würde sie alles versuchen und sogar mit dem Teufel auf glühenden Kohlen tanzen.
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Am Abend vor dem Termin hatte sie die Sachen zusammengepackt und brachte sie zu mir, denn sie befürchtete, Henry oder die Kinder würden sie finden und Fragen stellen. Wir stellten das Schächtelchen mit den Hühnerknochen, den Fingernägeln und der Haarlocke und den Plastikbehälter mit der Brühe in den Kühlschrank. „Henry hat nichts bemerkt!“ sagte Katharina. „Ich habe ihm die Haare gewaschen und geschnitten und dann eine Maniküre gemacht. Oh, mein Schatz ist ein eitler Fratz!“ Katharinas Stimme klang verklärt und beschwingt. Wir verabredeten uns für den nächsten Morgen. Von meiner Straße waren es nur drei Katzensprünge in die Rue de Suez, wo der Marabu seine Gäste in einem Kabinett empfing, das über einem kleinen afrikanischen Restaurant lag.

In dieser Nacht wollte der Schlaf nicht zu mir kommen. Ich wälzte mich im Bettlaken herum, war nass geschwitzt, meine Gedanken spielten Jahrmarkt. Ich schielte aus dem Fenster in die zwei Quadratmeter Himmel, der sich oben am Ende des schlauchartigen Hinterhofs abzeichnete. Es war Vollmond. Natürlich ist an diesem Hokuspokus nichts dran, überlegte ich. Die Entscheidung des Marabus wird also reine Glückssache sein! Er könnte Katharina abraten, obwohl Henry vielleicht wirklich der Richtige für sie ist. Oder er könnte ihr zustimmen, aber Henry würde sich als Niete entpuppen. Wenn aber vielleicht und eventuell und was weiß der Himmel oder der Geier aus welchem Grund doch etwas an diesem faulen Zauber sein sollte, was machen wir dann mit Henrys Haarlocke und seinem Fingernagel? Dann wird dieser Grundstock an Wahrheitsfindung zu einem risikoreichen Damoklesschwert! Das ist alles ein Wahnsinn, dachte ich, war aber nicht ganz unbeeindruckt von diesem Hokuspokus. Dann kam mir der Gedanke: Am besten würde sein, ich vertausche die Utensilien! Ich schnippelte mir also eine Haarlocke hinterm Ohr weg, knipste ein paar Fingernägel ab, legte sie in die Schachtel und warf Henrys Zutaten in den Mülleimer. Endlich schlief ich mehr oder weniger beruhigt ein.

Das Kabinett des Wahrsagers lag im ersten Stock über dem Restaurant. Dazu mussten wir unten durch einen Gastraum, in dem vier Holztische und ein paar alte Schemel standen. Draußen hing ein Schild, worauf mit der Hand „Restaurant“ und „Chez El Azir“ gemalt war.
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Die Preise, die mit Kreide auf einer verschmierten Holztafel standen, waren so niedrig, dass der ärmste Bettler hier noch satt werden könnte. Zwei Schwarzafrikaner und drei gebräunte, bärtige Araber saßen beim Minztee um eine Wasserpfeife herum. Die Männer waren afrikanisch in blaue Schalaber und gehäkelte bunte Mützen gekleidet. Sie schauten kurz auf und nickten freundlich aber gleichgültig und etwas verwundert über die weißen Besucher und murmelten ein kurzes „Bonnjour Messjödamm!“ nachdem wir uns durch die Tür gebückt und gegrüßt hatten. „Wir sind mit dem Großen Marabu verabredet!“ Der Wirt deutete auf einen schmalen, dunklen Treppenaufgang zwischen Küche und Pissoir. „Premiere Étage!“ sagte er und zeigte nach oben. Er nahm einen Besen aus der Ecke und klopfte mit dem Stil dreimal gegen die Decke. An den blauen Wänden hingen Bilder von Mohamed und Sprüche in arabischen Schriftzeichen. Ein anderes Foto zeigte einen Schwarzen vor einer Strohhütte in einem afrikanischen Kral; er hielt lachend und stolz einen Elefantenstoßzahn in Händen. Im Hintergrund des Fotos war eine Frau mit nacktem Oberkörper zu sehen; sie hockte auf dem sandigen Boden und stampfte mit einem Mörser in einem Behälter. Sie hatte ein etwa fünfjähriges Kind in einem Tuch über den Buckel gebunden. Das Kind hatte schwarze Kraushaare und Schorf auf der Stirn und blendend weiße Zähne. Es schaute mit ernsten Kulleraugen in die Kamera. Auf den Tischen des Restaurants, das grell von einer Neonröhre erleuchtet wurde, lagen schmutzige Papiertücher und Teller mit Hähnchenknochen und Speiseresten. Daneben standen halbvolle Wasserkaraffen mit sichtbaren Fingerabdrücken. Ein paar Fliegen dösten müde am Flaschenhals. Hinter dem Tresen war eine Durchreiche in die Küche. Es roch nach gewürztem Gemüse und Couscous. Unter einer Glasvitrine standen drei oder vier Schalen mit gekochten Kutteln und Innereien. Aus einem Radio dudelte fremde Musik, die an Schlangenbeschwörer und Tausend und eine Nacht erinnerte. Der Fernseher flackerte ein wackliges Schwarzweißbild, ohne beachtet zu werden.

Das Kabinett im ersten Stock war durch einen bunten, dünngewebten Vorhang, der über eine Leine gespannt war und von Wäscheklammern gehalten wurde, in zwei Räume aufgeteilt.
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Licht kam durch ein winziges Fenster, an dem ein Stück bunter Stoff als Gardine flatterte. Die Wände waren mit Teppichen behangen, deren rote und blaue Muster abgeschabt wirkten. Auf dem Boden lagen mehrere große, runde und bestickte Lederkissen. Wir standen unentschlossen herum, als ein mir uralt erscheinender Afrikaner mit gegerbtem Ledergesicht und in gebückter Haltung unter dem Vorhang erschien. Außer tausend Falten und Runzeln zeigte sein Gesicht weder Regung noch Gemütsausdruck. Nur seine hypnotischen Augen irritierten mich. Zur Begrüßung streckte ich ihm meine Hand entgegen, aber er übersah sie und hob seine beiden Hände und die Augen gen Himmel. Unsicher verbeugte ich mich. Katharina sah neugierig auf den Asketen herab. Wir wussten beide nicht, wie man sich einem mystischen Mann gegenüber verhält. Schließlich war das hier beinahe göttliche Offenbarung und mehr als schlichte Wahrsagerei. Katharina sah beeindruckt aus und auch ich schwankte zwischen Ehrfurcht und Skepsis.

„M’damm!“ schnurrte der Alte zu Katharina und dirigierte sie mit Handzeichen zu einem der Lederkissen. Katharina setzte sich. Ich wollte mich auf dem Kissen daneben niederlassen. Der Alte schüttelte den Kopf. „Messjöh warten unten in Restaurant!“ Ich übergab Katharina die Schächtelchen und den Behälter mit der Brühe. Als ich gehen wollte, hielt mich der Marabu zurück. Er nahm meine beiden Hände und betastete sie. Während seine Finger prüfend über Muskel und Knochen meiner Hand strichen, sah mir der Alte wortlos in die Augen. Unsicher lächelte ich. Dann ließ er mich plötzlich los, sagte „C’est bien!“ und ließ sich umständlich auf das Kissen Katharina gegenüber nieder.

Im Restaurant bestellte ich einen Pfefferminztee und starrte zwischen Fernseher und den Wandbildern hin und her. Die anderen Gäste waren gegangen. Der Wirt hantierte in der Küche herum und beobachtete mich. Dann steckte er seinen Kopf durch die Luke, deutete auf das Foto und sagte: „Das ist der große Sohn von Marabu mit Frau und einem von vier Kinder! Große Familie leben in Afrika! Nur Mrabout kann studieren in Frankreich! Mrabout wird einmal Minister, vielleicht sogar Präsident!“

Nach einer mir unendlich scheinenden Zeit kam Katharina zurück.
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Sie wirkte entspannt, fast ausgelassen. Ihre Augen strahlten sanft und glücklich wie ein sonniger Frühlingsmorgen. „Er ist der Mann meines Lebens!“ schwärmte sie. „Henry wird seine wahren Fähigkeiten erst entwickeln, wenn wir eine Weile zusammen gelebt haben. Er ist ein Mann, der eine Frau an seiner Seite braucht, eine Frau die zu ihm hält! Die ihm Kraft gibt! Sein ganzes Leben hat er auf diesen Moment gewartet! Ab jetzt wird sich unser Leben radikal verändern...!“ Katharina sprudelte wie eine frisch geöffnete Flasche Mineralwasser mit überschäumender Kohlensäure.

„Und das hat der Marabu aus den Hühnerknochen, Haaren, Fingernägeln und der Brühe gelesen?“ fragte ich und versuchte eine allzu deutliche Skepsis in meiner Stimme zu vermeiden.

„Woher er es so genau weiß, das hat er mir natürlich nicht anvertraut; ist doch logisch, oder?! Aber was er gesagt hat, das klang alles so..., so selbstverständlich. So, als würde man ein Haus bauen und Stein auf Stein setzen...!“ Katharina war nicht zu irritieren.

„Das klingt einleuchtend!“ sagte ich schließlich. Was hätte es genutzt, Katharina jetzt noch aus ihrem Glück und ihrer Überzeugung zu reißen? Sie hätte mich höchstens der Eifersucht und des Neides bezichtigt. Dass es sich bei der ganzen Sache um einen großen Humbug handelte, war schließlich durch meinen Tausch von Haarlocke und Fingernagel bewiesen. Also warf ich keinen Sand in das Getriebe; Katharina würde wahrscheinlich mit und ohne Marabu Henry lieben, aber wenn der Glaube glücklich macht und Berge versetzt, dann will ich keinen Sand ins Getriebe streuen.

Katharina erzählte mir alles ausführlich, wie der Marabu die Hühnerknochen durcheinandergeworfen, die Haarlocke verbrannt und die Fingernägel mit einer Lupe betrachtet hatte, wiederholte und verhedderte sich, und am Schluss wusste ich nicht mehr genau, was hätte wie und wo ablaufen müssen, um diese Liebe noch ins Schwanken zu bringen. Aber sie schwankte nicht. Der Marabu war ein voller Erfolg und Katharina strahlte glücklich.

*

Danach sah ich Katharina für mehrere Wochen nicht. Sie war in ihrem Glück und wahrscheinlich in den Hochzeitsvorbereitungen und ich konzentrierte mich auf meine Arbeit und vor allem auf meine Freizeit.
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Zahlreiche Kunden standen auf der Warteliste. Ich arbeitete intensiv, jedoch nur von Montag bis Donnerstag. Die Viertagewoche genügte für ein bescheidenes Leben; Donnerstagabend begann mein Wochenende. Meine Freizeit war eine Mischung aus Frauen aufreißen, in Bistros herumlungern, ins Kino oder Theater gehen, in Bibliotheken herumsitzen, an der Seine spazieren gehen und mit den Augen flirten, oder durch unbekannte Pariser Gassen bummeln.

Katharina hatte sich nicht gemeldet, und ich rief sie nur einmal an, weil ich für Pierre ein Zimmer suchte. Pierre Ruqois, der alte Haudegen aus Marseille, war in Paris aufgetaucht und mir ausgerechnet über den Weg gelaufen, als ich mit Madame de Briset in einem Straßencafé in Sainte Germaine Süßholz raspelte. Trotz dem pikierten und ablehnenden Gesichtsausdruck von Madame Briset war ich erfreut und glücklich über Pierres Auftauchen. Ich hatte es geahnt, immer gehofft, dass wir uns wiedersehen würden. Obwohl Madame de Briset, die ich erst am Vorabend in einem Dancing-Club aufgegabelt und für diesen Nachmittag zum Kaffee eingeladen hatte, indigniert aus ihrem Chanel-Kostüm schaute, als plötzlich Pierre tapsend wie ein abgebrannter Clochard auf mich zukam, wir uns erkannten, uns um den Hals fielen und wie verlorene Brüder auf die Schultern klopften. Ich bat Pierre an unseren Tisch. Linkisch zog er einen Stuhl heran, sah verlegen auf Madame de Briset und setzte sich schüchtern. Er war stark verändert und sah erbärmlich aus. Madame de Briset verabschiedete sich umgehend und beteuerte mich anzurufen und ich war sicher, sie ruft nicht an und die Sache mit ihr war erledigt. Egal, es gab viele Madames de Briset in Paris, aber nur einen alten Freund namens Pierre.

Pierre war alt geworden. Uralt! Ich stellte keine Fragen, ließ ihn nur reden und schaute möglichst heimlich auf seine abgeschabten Klamotten. Ich war sicher, er verschwieg mir die Wahrheit. Er hatte seinen Rentenbescheid bekommen, gut genug für die Sozialrente, und das würde sogar die Mietzahlung für eine kleine, billige Wohnung beinhalten. „Ich will mich mal umhören!“ sagte ich. „Wo wohnst du zur Zeit? Bist du irgendwo erreichbar?“ Ich unterließ es, nach Suzanna zu fragen.

„Drüben in Passy!“ sagte Pierre leise.

„Im Asyl?“ Ich kannte das Männerwohnheim.
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„Hmm!“ Er brummelte verlegen. Keine Spur mehr von seinem Optimismus und seiner früheren Selbstsicherheit. „Aber da bin ich nicht immer, nur wenn’s kalt wird...!“

Ich kannte die Situation zu gut, um weitere beschämende Fragen zu stellen. „Willst du ein paar Nächte bei mir schlafen? Es ist eng bei mir, aber wir könnten einen Schlafsack auf den Fußboden legen?!“

„Nein, nein!“ Er winkte fahrig ab. Seine Hände zitterten. Rote Äderchen und Flecken hatten sich in seinem Gesicht gebildet. „Ich habe noch ein paar Dinge zu erledigen! Und... ich, ich bin lieber alleine, weiß du...!“ Ich verstand ohne nachzufragen, gab ihm meine Telefonnummer und stand mit ihm auf. Wir küssten uns auf die Wangen. Sein Bart roch ungewaschen. Dann schlurfte er davon, ohne sich noch einmal umzudrehen.

Katharina konnte mir mit dem Zimmer für Pierre nicht weiterhelfen. Sie wirkte fahrig, schien aber glücklich zu sein. Ich traute mich nicht, sie intensiver nach Henry und ihrem Glück zu fragen und beließ es bei den üblichen Floskeln. Eine Woche später erfuhr ich es von den großen Druckbuchstaben im ‚Le Parisien’. Madame Cheval hatte mir die Boulevardzeitung mit stummer Vorwurfsmiene vor die Nase gehalten und auf die erste Seite gedeutet, nachdem sie mich am Fenster gesichtet und mir im Hausflur aufgelauert hatte.

*

Wegen den Kindern war Katharina aus der Untersuchungshaft entlassen worden, musste sich aber täglich auf dem Kommissariat melden. Henry lag noch im Krankenhaus. Wenn ich das Geschwätz der Nachbarschaft filterte und mich auf die Pressenachrichten und die Gerichtsverhandlung verließ, hatte sich das Drama lange aufgebaut, war aber dann innerhalb von Minuten abgelaufen. Henry war bei Katharina eingezogen und hatte einen Koffer mit ein paar Klamotten und einen Radiorekorder mitgebracht. Er arbeitete nachts und war tagsüber in Katharinas Wohnung. Katharina ging nachmittags zu drei Putzstellen. Jeden Franc zusammenkratzen, um mit Henry gemeinsam ein Bistro zu pachten. Seit sie Henry kennengelernt hatte, ging sie nicht mehr mit spendablen Herren auf Hotelzimmer. Ein eigenes Geschäft, ein eigenes Bistro mit Henry, das war ihr Traum. Henry hatte bereits mit einem Makler verhandelt; Katharina hatte Vierzigtausend neue Francs von ihrem Sparbuch abgehoben und Henry übergeben.
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Er wollte die Option auf das zu mietende Bistro unterzeichnen und einen Sicherheitsbetrag beim Makler hinterlegen.

Die Gerichtsverhandlung erbrachte, dass Henry mit gezielter Gerissenheit vorgegangen war. Wobei er von der grenzenlosen Naivität, Hoffnung und Liebe Katharinas unterstützt wurde. Es waren alle unglücklichen Zufälle zusammengetroffen: Cloe, Katharinas Älteste, hatte eines Abends die Nerven verloren und herumgeschrien. Die beiden Schwestern mischten sich dazwischen, ein Wort ergab die andere Anschuldigung. Dann war es heraus: Henry trieb es nachmittags mit Nicole, der Fünfzehnjährigen! Henry hatte zu Nicole gesagt „Deine Mutter ist eine Nervensäge! Ich ertrage sie nur, um mit dir, mein Liebling, zusammen zu sein!“ Die beiden wurden von Susi erwischt. Henry zahlte Schweigegeld an Susi und Susi erzählte es Cloe. Cloe brauchte eine Lederjacke, die ihr Henry kaufte. Susi wollte sich Cloes Lederjacke ausleihen, aber Cloe rückte sie nicht heraus. Es kam zum Streit, der alles ins Rollen brachte. Katharina war, nach allen vorliegenden Erkenntnissen, über mehrere Wochen die Ahnungslose. Henry hatte sogar mit ihrem Geld die Kinder bezahlt. Noch am gleichen Abend stöberte Katharina den Makler an der Place Abesses auf. Ihre Vermutung bestätigte sich. Von ihren vierzigtausend Francs hatte der Makler keinen Centime gesehen und von einem Vorvertrag auf ein Bistro war nichts bekannt. Henry hatte Katharina glatte Fälschungen gezeigt. Der Makler hatte Henry nur ein einziges Mal gesehen, als beide vor der Vitrine mit den Angeboten standen und sie schließlich für Minuten und für ein erstes, von Henry fingiertes Informationsgespräch hereingekommen waren.

Katharina hastete per Taxi zur Opera in das Hotel, in dem Henry angeblich arbeitete. Doch Henry war schon seit Wochen nicht mehr dort. Er war Aushilfskellner gewesen und wegen Unzuverlässigkeit entlassen worden. Er stand im Verdacht, Gäste auf den Zimmern bestohlen zu haben, aber der Direktion fehlten die Beweise. Niemand wusste etwas über seinen Aufenthaltsort. Während der Verhandlung wurde das Geheimnis aufgeklärt: Henry lebte nachts mit einer anderen Frau zusammen. Sie war überzeugt, Henry würde tagsüber arbeiten, so wie Katharina von seiner Nachtschicht überzeugt war. Er kam an jedem Morgen immer müde und mit Rändern unter den Augen, als die Gören bereits auf dem Schulweg waren, zu Katharina.
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Das Doppelleben funktionierte.

An jenem Morgen wartete Katharina mit erstaunlicher Ruhe auf ihn. „Wie war die Nacht?“ fragte sie und ließ sich von Henry auf die Wangen küssen. „Ich mach’ dir Frühstück, mein Liebling!“ sagte sie wie immer.

„Kaum noch zum Aushalten!“ rief Henry aus der Toilette. „Die Gäste eingebildet wie die letzte Scheiße! Außerdem war der Fahrstuhl kaputt. Ich also zu Fuß treppauf, treppab! Ich habe die ganze Nacht an dich gedacht!“ Katharina rief zirpend zurück: „Ich auch an dich, mein Liebling!“

Die beiden frühstückten zusammen in der Küche und Katharina wartete, bis Henry im Bett war. Sie legte sich wie jeden Morgen zu ihm. „Tu veut que je te faire la pipe? Soll ich dir einen blasen?“ Ihre Hand fuhr über Henrys Schwanz. Sie hatte die Spange aus ihren Haaren gezogen. Die Haarpracht fiel auf Henrys Bauch und Katharina wickelte die Locken um seinen Steifen. Henry schnurrte behaglich und räkelte sich zum Empfang der Wohltat in Position. Er schloss die Augen. Katharina zog die Decke weg und beugte ihren Kopf über Henrys Schwanz. Mit dem Mund verteilte sie den warmen Speichel auf dem Ständer.

„Hmmm!“ Henry war Genießer. Katharina vergrub das steife Glied in ihrem Mund und hackte ihre Zähne in seinen Schwanz. Sie biss mehrmals kräftig zu, bis er an wenigen Muskel hing und das Blut ins Bettlaken und in Katharinas Gesicht spritzte. Als Henry schrie und zappelte, säbelte sie ihm mit einem Tranchiermesser seinen Pimmelrest ab. Als Henry sich schreiend wehrte und auf sie einschlug, stach sie wild und unkontrolliert zu, bis er bewusstlos zusammenbrach. Dann rief Katharina die Polizei an, die den Notarzt informierte.

Katharina wurde wegen Körperverletzung zu zwei Jahren Gefängnis mit Bewährung verurteilt. Der Staatsanwalt hatte auf Vorsätzlichkeit plädiert. Das Richtergremium sah nur eine Affekthandlung, nachdem eine Gutachterin sogar psychisch bedingte Notwehr nicht ausgeschlossen und Katharina Unzurechnungsfähigkeit zur Tatzeit bescheinigt hatte.

Bei den Verhandlungen saß ich als Zuschauer auf der letzten Bank im überfüllten Gerichtssaal. Katharina hatte mich nicht als Zeuge benannt.
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Sie hatte die Wohnung von Schwarzgeld gekauft und die Mieteinnahmen nie versteuert. Auch mir kam es gelegen, keine schlafenden Hunde zu wecken. Katharinas Töchter waren nicht als Zeugen geladen. Sie waren vorher von einer Jugendrichterin im Beisein einer Psychologin vernommen worden. Das Protokoll wurde verlesen. Bei der Urteilsverkündung im überfüllten Saal des Justizpalastes kam es mit Pfiffen und Bravorufen zu Tumulten. Die Pariser Presse war tagelang mit Horrorgeschichten gefüllt.

Als Katharina über die schmalen Stufen des Nebenausgangs aus dem Justizpalast herunter kam und der Pflichtanwalt sich von ihr verabschiedet hatte, war sie alleine. Reporter und Fotografen hatten ihre Bilder bereits in der großen Wandelhalle vor dem Saal geschossen und waren in die Redaktionen oder an die Telefone geeilt. Ich wartete gegenüber dem Justizpalast vor dem Bistro, in dem sich Generationen Pariser Justizgeschichte treffen. Katharina bemerkte mich. Einladend bewegte ich den Kopf und winkte ihr zu. Katharina zögerte. Sehr langsam setzte sie Schritt für Schritt über die Treppenstufen bis zum Straßenrand. Ein Bus kam herangerollt und versperrte für Minuten die Sicht. Als er anfuhr, stand Katharina hinten auf der Plattform. Sie sah mich an und hob die Hand zu einem schwachen Winken. Auch ich hob die Hand, aber ich wusste in diesem Augenblick nicht, ob ich betrübt oder erleichtert sein sollte. Als der Bus auf der Seine-Brücke verschwand, war es wie das Ende eines bizarren Films, wenn man noch im Kino sitzen bleibt und irritiert überlegt, wie man den Film einschätzen soll.

Die Wohnungskündigung schickte Katharina formgerecht und höflich per Einschreiben. Ich hatte noch drei Monate. Dazwischen sah ich sie noch einmal aus der Ferne auf dem Gemüsemarkt, drehte mich aber um und ging in die andere Richtung. In unserem Haus wurden zwei Wohnungen frei. Madame Cocotte war gestorben; die Katzen waren im Tierheim und die Möbel auf dem Müll gelandet. Aber der Katzengestank hatte sich ätzend in die Wohnung gesetzt; es würde Monate dauern, wenn überhaupt, bis die Räume wieder bewohnbar sein würden.

Halima hatte ihre zu kleine Wohnung einfach angezündet. Als die Kinder noch im Kindergarten und in der Schule waren, hatte Halima die Gasflammen gezündet und Papier und Stoffreste daraufgelegt. Schnell hatten sich die Flammen am Kleiderschrank entlang entwickelt.
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Dann war Halima mit den beiden Babys durchs Treppenhaus gestolpert und hatte Feuer! Feuer! geschrien. Während wir für einen Tag evakuiert wurden, konnte die Feuerwehr das Haus retten, aber Halimas Wohnung war verkohlt und unbewohnbar. Halima hatte ihr Ziel erreicht: Sie erhielt einen Zuweisungsschein für eine größere Sozialwohnung, vier Zimmer mit Balkon, im Neubaugebiet der Betonklötze hinter der Place d’Italie. Auf dem Sozialamt sprach ich wegen Madame Cocottes leerer Wohnung für Pierre vor. Sie sagten, wenn ich jemand wüsste, der in diesem Katzengestank wohnen wolle, bitteschön...!

Ich fuhr nach Passy ins Obdachlosenasyl und suchte Pierre. Er war schon seit Tagen nicht mehr aufgetaucht und ich hinterließ eine Nachricht für ihn.

Am letzten Tag, als ich meine Habseligkeiten bereits im Kleinlieferwagen verstaut hatte und auf dem Weg in die neue Wohnung war, stand Katharina vor mir. Wir hatten telefonisch die Schlüsselübergabe vereinbart. Es war beklemmend, wie verloren wir uns gegenüber standen. Ich sollte sie einfach in meine Arme nehmen, sollte jetzt meine Arme um ihre Schultern legen und sie beschützen. Nichts erklären und keine Erklärung erwarten. Aber steif blieb ich vor ihr stehen. Das sind jene Momente, die man nie mehr zurückholen kann, aber in denen sich das Leben in die eine oder in eine völlig andere Richtung entwickelt. Können wir noch zählen, wie oft wir im Leben in solchen Situationen standen?

„Ich habe alles falsch gemacht!“ flüsterte Katharina und sah mich an.

„Aber nein!“ antwortete ich. „Was ist schon falsch und was ist richtig?!“ Wieder entstand eine hilflose Leere. Ich reichte ihr den Schlüsselbund. Sie steckt ihn ein. Hinter uns hupte jemand, weil ich die enge Gasse verstopfe. Erleichtert schwang ich mich in die Fahrerkabine. „Lass’ uns mal darüber schlafen!“ rief ich und startete den Motor. „Ich melde mich dann bei dir!“ Sie nickte mit starrem Gesicht.

Ich legte den Gang ein und steuerte langsam über das Kopfsteinpflaster die kleine Straße hinunter, fuhr am Kettenkarussell unterhalb der Sacre-Coeur vorbei, schlängelte mich vorsichtig an den Hühnerscharen der Touristen vorbei in die Rue Seveste. Als ich auf dem breiten Boulevard Rochechouarte nach rechts gewendet und mich in Richtung Place de la Republique eingereiht hatte, wurde es mir bewusst: Ich verließ das Viertel von Montmartre und ich verließ ein Stück Heimat.
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Für einen Augenblick verspürte ich einen unbekannten Schmerz von Traurigkeit. Dann packte ich das Lenkrad fester und raste, eingeklemmt von anderen rasenden Fahrzeugen, zwischen Ost- und Nordbahnhof leichtsinnig und fast übermütig den Boulevard de Magenta hinunter, dem Place de la Republique und dann der Bastille und einem neuen Stück Paris entgegen. Neugierde und beinahe Heiterkeit hatten mich erfasst und verdrängten alles hinter mir…

*

Etwa zwei Jahre später fand ich beim Friseur in einer Mode- und Frauenzeitschrift eine Fotoreportage: „Mutter gab alles für den Erfolg ihrer Tochter!“ Auf dem Titelbild war Cloe zu sehen. Ein Traumgebilde in hellbrauner Schönheit. Der Titel: „Top-Model des Monats: Cloe Petrowska! Von der Straße auf den Laufsteg!“ Im Heft stand eine rührselige Geschichte von einer aufopferungsvollen Mutter, die vom Vater des Kindes verlassen worden war und dann jahrelang als Putzfrau gearbeitet hatte, um Cloe die Modelschule und schließlich die Karriere zu ermöglichen. Nur versteckt wurde in einem kurzen Seitenvermerk an die Tragödie vor zwei Jahren erinnert: „Cloes Mutter stand bereits vor zwei Jahren im Blickpunkt der Öffentlichkeit. (Wir berichteten ausführlich darüber). Weil sie ihre Tochter vor einem Kinderschänder beschützt und gerächt hatte, wurde Madame P. zu einer Bewährungsstrafe verurteilt. Doch jetzt haben alle Schatten der Vergangenheit strahlendem Sonnenschein Platz gemacht. Eine glückliche Familie!“

Auf einem der Fotos war Katharina mit Cloe auf einem großen Balkon zu sehen. „Der Dank des Supermodels an die Mutter!“ stand unter dem Foto. „Cloe Petrowska kauft ihrer Mutter ein Fünf-Zimmer-Appartement mit Blick auf den Eiffelturm! Eine glückliche Wendung für die Vierzigjährige, wenn wir bedenken, in welchen ärmlichen Verhältnissen die Mutter mit ihren drei Töchtern bisher am Montmartre wohnen musste!“

*

Dies war ein Auszug aus

Michael Kuss

FRANZÖSISCHE LIEBSCHAFTEN.

Unmoralische Unterhaltungsgeschichten.

Romanerzählung.

Überarbeitete Neuauflage 2013

ISBN 078-3-8334-4116-5.
Seite 12 von 13       


14,90 Euro.

Als Print-Ausgabe und als E-Book erhältlich in den deutschsprachigen Ländern, in Großbritannien, USA und Kanada.

Im Web: www.edition-kussmanuskripte.de

*

Auch hier bei Webstories: Französische Liebschaften (17) "Dominique".
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Punktestand der Geschichte:   294
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