Pierre und meine Liebe zu Jaqueline - 11. Kapitel der "Französischen Liebschaften"   297

Romane/Serien · Spannendes

Von:    Michael Kuss      Mehr vom Autor?

Erstveröffentlichung: 26. Oktober 2013
Bei Webstories eingestellt: 26. Oktober 2013
Anzahl gesehen: 2558
Seiten: 13

11. Kapitel der Französischen Liebschaften: "Pierre und meine Liebe zu Jaqueline".

*

“Ich muss dir sehen! Bitte helfen mir! Musst du vorsichtig sein, ich haben Angst! Je t‘aime!” Die Zeilen waren in krakeliger Schrift verfasst; sogar ich Anfänger der französischen Sprache konnte die Fehler erkennen. Das Briefchen war gefaltet durch den Schlitz unter meiner Zimmertür geschoben worden. Keine Unterschrift. Nur ein großes, verschnörkeltes “J” am Ende. Aufgeregt, mit Schmetterlingen im Bauch, überschlug ich meine wenigen Bekanntschaften. Mit “J” blieb nur Jaqueline übrig.

Jaqueline! Meine heimliche, unerreichbare neue Flamme!

*

Der Dezember von Marseille war fast zu Ende gegangen; wir waren glimpflich und mit gemischtem Wintersonnenwolkenhimmel davongekommen. Außer ein paar Tage heftigem, kaltem Mistral von Aix und Aubagne her blieb die Rhone-Bucht in jenem Jahr von den Stürmen verschont.

Meine heimliche Liebe zu Jaqueline beschränkte sich zunächst auf sehnsüchtige Männerblicke auf einen kleinen, festen Busen, dessen Knospen sich unter dem dünnen Pullover abzeichneten; auf schwarze Augen, die mich an Süditalien oder Tunesien erinnerten, auf einen Frauenmund mit vollen, aufgeworfenen Lippen, und auf ein zurückhaltendes “Bonjour”, wenn ich mich auf den knarrenden Holzstufen des engen Treppenhauses hautnah an Jaqueline vorbei drückte. Verstört und mit einem abgewandten, ängstlichen Gesichtsausdruck hatte sie anfangs an mir vorbeigesehen, wenn sie in ihrem engen Rock und den Pumps hochstöckelte und im nächsten Stockwerk in ihr Zimmer klapperte; meistens sehr früh morgens, wenn sie müde nach Hause kam und ich fast ebenso müde das Haus verließ, um zur Arbeit zu fahren. Nach einigen Tagen hatte sie wenigstens zurückgegrüßt und später sahen wir uns sogar ins Gesicht, soweit dies bei den fehlenden Glühbirnen zwischen viertem und fünftem Stock möglich war.

Mein Sexualleben schmorte auf kleinster Sparflamme. Die Pariser Freizügigkeiten und Möglichkeiten hatten mich verwöhnt und fehlten mir in Marseille. Es herrschte wochenlanger Liebesentzug. Nachts versank ich masturbierend in absurden Träumen. In meiner Schlafanzughose setzten sich die eingetrockneten Flecken der vergangenen Nächte fest.
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Meine erotischen Fantasien wurden immer grotesker. Aber am schlimmsten war der Bedarf an Wärme und Zärtlichkeit; viel schlimmer als der fehlende Sex. Ein paar Orgasmen bis zum blauen Wasser kann man sich selbst oder bei einer Nutte besorgen; aber wie macht man das mit der Zärtlichkeit, mit menschlicher Nähe und den Streicheleinheiten? Endlich wieder einmal das zärtliche Vibrieren von Haut spüren, die Schönheit kleiner Brüste in meinen Händen, Fingerspitzen, die sich durch Haare tasten und an den Ohrläppchen graulen, die Hitze des Blutes, die nicht nur den Schwanz steif werden lässt, sondern das Herz erwärmt und die Seele in Freudensprünge versetzt.

An manchen Tagen hing ich nach der Arbeit stundenlang im Kino herum und sah mir alte französische Liebesfilme an. Den ganzen Tag lief der gleiche Schmachtfetzen; man bezahlte nur einmal und blieb einfach sitzen so lange man wollte oder bis um Mitternacht geschlossen wurde und die schmächtige Platzanweiserin müde und illusionslos die letzten Herumhängenden mit einer Taschenlampe und schrillen Bemerkungen hinausdirigierte. Schließlich war auch das frustrierend, es half kaum zum Stillen der Sehnsucht. Gegen die Verlogenheit dieser Schnulzen hatte das Leben mich bereits geimpft. Immerhin verbesserten sich meine Französischkenntnisse im Kino bemerkenswert.

Einmal hatte mich am Alten Hafen eine Touristin angesprochen, gerade als ich mir noch überlegte, auf welche elegante und Erfolg versprechende Art ich diese gutaussehende Frau, die mir eigentlich zwei Klassen zu groß für mich schien, anmachen könnte. Sie hatte mir ihre Kamera gereicht, lächelnd und mit leiser, angenehmer Stimme und wollte vor dem üppigen Stand einer kräftigen Fischhändlerin fotografiert werden. Die dicke Fischmamsell hatte eine blaue Latzhose an und einen dick gestrickten, dunkelblauen Pullover über zwei immensen Brüsten, eine Kartoffelnase und flinke, aufmerksame Augen. Ihre fleischigen Arme wühlten gestikulierend zwischen Rotbarsch und Krabbentieren. Die Touristin war schlank. Ein weißes Leinenkleid betonte die Sonnenbräune ihrer Haut. Sie trug eine schmale Halskette und an der Hand einen Ehering. In der Camargue hatte sie ein esoterisches Seminar mit dem Thema “Verarbeitung von Enttäuschungen“ besucht. Wir tranken erst Kaffee auf einer Terrasse mit Blick auf den Alten Hafen und blieben dann ein Wochenende im Bett.
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Sicher war sie andere Hotels gewohnt, so wie sie aussah, gepflegt und aus einer anderen Welt. Aber sie verlor kein Wort über meine zwei Hemden im Schrank, über das kalte, rostfarbene Rinnsal, das im Flur aus dem Wasserhahn kam wie Pinkeltropfen bei einem Prostatakranken. Auch nicht über das Eisenbettgestell, dass unter ihren Stößen, als sie rittlings auf mir saß, erbärmlich schaukelte und quietschte, oder den Gilb in der Bettwäsche, auf der ich ausgestreckt lag und ihre langsamen, rhythmischen Bewegungen genoss, während sie schweigend mit geschlossenen Augen auf mich herablächelte.

Ich hatte mich geziert, geschämt, hatte ihr ein besseres Hotel mit Bad vorgeschlagen; das Geld hätte ich investiert, nach den Wochen ohne Liebe. Aber sie wollte mich und mein Umfeld kennenlernen. Mit Nachdruck bestand sie auf meiner schäbigen Absteige, obwohl ich sie, anfangs gewunden, schließlich offen und eindringlich vorgewarnt hatte. Wir zogen vom Prachtboulevard durch die kleinen, nach Mülleimer und verbrauchtem Frittenöl riechenden Altstadtgassen von Marseille über quietschende Hotelstufen hinüber ins Liebesnest der abgerissenen Tapeten.

Als ich am Montagabend von der Arbeit nach Hause kam, war sie fort. Auf dem Nachttisch lag ein Briefchen: „Lieber Klaus!“ schrieb sie. „Lass‘ uns hier enden! Ich will nicht warten bis alles schal und alltäglich wird. Mein Mann wird unruhig und ich möchte meine kleinen Freiheiten nicht gefährden. Vor allem aber habe ich zwei Kinder, die ich liebe. Du hast mir an diesem Wochenende sehr viel gegeben, was du kaum verstehen wirst. Aber darüber solltest du nicht lange nachdenken. Nehme es einfach wie es ist. Ich werde dir schreiben. Ich küsse dich! M.“

In dem Briefchen lagen drei große Geldscheine, aber keine Adresse. Eine Woche vor Weihnachten kam ein Päckchen von ihr aus der Schweiz. Erstaunt packte ich zwei Taschenbücher aus. Jean Paul Sartres „Das Spiel ist aus!“ Und „Die Mandarins von Paris“ von Simone de Beauvoir, von der bereits Rebeccas Mutter in Paris geschwärmt hatte. Im Buch lagen fünfhundert Schweizer Franken. Ein Vermögen für mich! Ich tauschte das Geld um, kaufte mir einen Mantel, den ich schon wochenlang in einem Schaufenster gesehen hatte, einen wie Bogart ihn in „Casablanca“ trug, damit würde ich Jaqueline am Silvesterabend zum Essen ausführen, und einen übertrieben großen Blumenstrauß, den ich Jaqueline wortlos und scheu an die Türklinke ihres Zimmers klemmte.
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Einen Tag wartete ich ungeduldig auf Antwort. Nichts! Quälendes Nichts! Ein einsamer zweiter Weihnachtsfeiertag. Pierre und Suzanna hatten mich in ein Restaurant und danach zum Tanz eingeladen, aber ich wollte lieber im Hotel bleiben, um Jaquelines Antwort nicht zu verpassen. Wieder verzehrte ich mich vergeblich.

Nur selten kam Jaqueline in den Gemeinschaftsraum des Hotels. Die Bude war eine Mischung aus Rezeption, Fernseh- und Wohnzimmer für die Hotelgäste. Er war mit mehreren Stilrichtungen seit dem letzten Weltkrieg möbliert, vorrangig mit wuchtigen, durchgescheuerten Polstersessel Marke Sperrmüll. In einer Ecke flimmerte grau der Fernseher. Es gab nur ein Programm. In einer Küchenecke nebenan konnten wir uns auf zwei Gasflammen etwas zum Essen aufwärmen oder Teewasser kochen und damit in den Gemeinschaftsraum gehen, denn die Zimmer waren Hasenställe, in die außer einem Bett und dem Wandschrank nur noch die Drehbewegung um die eigene Achse hineinpasste.

Das Hotel in der Rue de Capucins war, wie viele andere in der Gegend, eine Mischung aus billiger Bordellabsteige und Auffanglager für verlorene Leute, die mit wenig Geld und trüben Zukunftsaussichten nach Marseille kommen. Als Tagelöhner im Hafen, als Nutte oder Bardame, Zuhälter, Tagedieb oder als von der Polizei Gesuchter versuchen sie über die Runden zu kommen. Ich war eine der Seltenheiten, die eine mehr oder weniger geregelte Arbeit hatten.

Da war Ali, der Tunesier, der in einem Restaurant Geschirr spülte. Suzanna, die Polin, arbeitete illegal als Büglerin in einer chemischen Reinigung, und der Algerier Achmed, der fliegende Händler mit seinem ambulanten und nicht genehmigten, aus einem Tapeziertisch bestehenden Straßenstand. Achmed handelte mit Feuerzeugen, Rasierklingen, Kugelschreiber, Kämmen, Bürsten, Haarspangen und Henna-Farben und nebenher tauschte er schwarz algerisches Geld gegen neue französische Francs ein. An seinem nicht genehmigten Stand sah man mitunter Polizisten, denen Achmed zutrug, welche Leute sich im Viertel verdächtig machen oder was es sonst an Beobachtungen zu berichten gab.
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Solange er der Polizei als kleiner Spitzel diente, musste er die Abschiebung aus Frankreich nicht befürchten. Achmed war untersetzt und dick, hatte die listigen, wachsamen Augen eines Bazarhändlers und ein Doppelkinn, aus dem die Bartstoppel wie graue, unregelmäßige Stecknadel standen. Er war in Algerien verheiratet; die Hälfte seines Verdienstes schickte er an seine Frau und die drei Kinder. Einmal im Monat ging er zu einer Niedrigpreisnutte zur Körperpflege und jeden Nachmittag zur muslimischen Seelenpflege mit Gebet in die Moschee in die Rue du Baignoir.

Der andere aus unserer Sippe, Ali, war schwul, klein, hatte eine Hasenscharte und lief mit hängendem Kopf wortkarg und verbissen durch die Gegend. Ein schwuler Tunesier ohne Selbstbewusstsein, der eher an eine Bergziege als an Humphrey Bogart erinnert, ist arm dran, wenn er nicht gerade in einer Transvestitenkneipe den Clown spielt und Narrenfreiheit genießt. Ali verkörperte das personifizierte Trübsal.

Suzanna, die Polin, war Mitte Dreißig und eine dralle Schönheit; sie hatte den korpulenten Hintern und den satten Busen einer polnischen Landarbeiterin, die auch nach dem härtesten Arbeitstag noch erfrischend lacht und ungeniert die obersten Knöpfe der Bluse offen lässt.

Und dann war da Monsieur Pierre! Er hatte mehrere Jobs. Pierre Ruquas war Franzose, angeblich Fünfundvierzig, sah aber durch die tausend Falten und Fältchen zwischen Augen und Ohren und seinem wirren Graubart älter und abgerissener aus, obwohl ihm die dichten Augenbrauen und die Nickelbrille mit Fensterglas, womit er sich manchmal verkleidete, auch ein aristokratisch-intellektuelles Aussehen geben konnten. Über seinen Beruf und seine Herkunft erzählten sich die Frauen im Hotel die abenteuerlichsten Geschichten. Einmal ist er Lehrer, den man wegen einer Liebesaffäre zu einer fünfzehnjährigen Schülerin aus dem Schuldienst in den Knast geworfen hatte, oder er war Professor für alte chinesische Heilkunde, der von der Ärztemafia der Schulmediziner in den Bankrott und als Scharlatan vor den Kadi getrieben worden war. Jedenfalls hatte er im Gefängnis gesessen und ich wunderte mich über seine guten Deutschkenntnisse, über deren Herkunft er nicht sprach.

Einmal pro Woche nahm sich Pierre einen freien Tag, duschte ausgiebig, warf sich in einen marineblauen Sakko, eine gebügelte blau und gelb karierte Hose mit Schlag, die er sich nach der Vorlage eines amerikanischen Modemagazins hatte fertigen lassen, und dafür fast einen Monatsverdienst hingeblättert hatte, und italienische schwarz-weiße Lackschuhe, zwirbelte seinen Schnauzer und ging mit Suzanna aus.
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Zu allem Überfluss zog er noch eine Schiebermütze über den Kopf und wenn man ihm sagte, jetzt sei der Vorstadtprolet aus den dreißiger Jahren perfekt, antwortete er: „Mein Vater war damals Hafenvorarbeiter und er hat meiner Mutter mit einer ähnlichen Mütze imponiert und sie zum Tanz ausgeführt. Das war eine wunderbare Zeit!“ Suzanna gefiel Pierres Aufmachung. Stolz hing sie an seinem Arm und strahlte. Meistens lud er Suzanna zum Essen in ein Restaurant ein, reservierte großspurig und wortreich telefonisch einen Tisch, obwohl er genau wusste, das Lokal würde nicht einmal halb gefüllt sein. Oder er führte Suzanna ins Kino, wo er sich in den abgeschabten Sessel zurücklehnte und mit nonchalantem Gehabe eine Zigarette nach der anderen rauchte, während Suzanna mit Hingabe Bonbons lutschte oder sich ängstlich an Pierres Arm klammerte, wenn Zorro allzu sehr von Tod und Gefahr bedroht war. Danach fuhren sie mit dem Bus in den Tanzpalast am Strand und leisteten sich nachts für die Rückfahrt ein Taxi.

„Wenn ich genug Geld zusammen habe“, versicherte Pierre, „werde ich Suzanna heiraten! Wir mieten uns in einem Vorort am Meer, vielleicht in Bonneveine oder Montredon, eine Wohnung. Dann ist Suzanna französische Staatsbürgerin und muss sich weder in einem zwielichtigen Hotel verstecken, noch illegal für einen Polenhungerlohn arbeiten“.

„Wann wird das sein?“ Ich versuchte, meine Skepsis zu verstecken.

„Bald! Ich warte auf meine große Chance! Ich habe da eine Sache an der Hand, wenn die klappt, weißt du!“ Pierres Optimismus war grenzenlos.

Während der Woche ging Pierre regelmäßig seinem Beruf nach. Er wechselte selten die Reviere. Meistens stand er unten am Alten Hafen, entweder an den Parkplätzen für die ausländischen Touristenbusse, oder, an Regentagen, saß er direkt am Eingang zur Kirche Sankt Peri. Flink machte er sich bei den Bussen an die Touristen heran; hing an ihnen wie eine Klette, kaum dass sie Gelegenheit hatten, sich mit steifem Kreuz aus dem Bus zu zwängen, will ihnen als Blinder mit Krückstock Ansichtskarten oder Kugelschreiber mit dem Bild der Basilika oder der heiligen Madonna verkaufen, hatte aber auch Kugelschreiber mit schlüpfrigen Bildern und Kartenspiele mit Pinups unter dem Mantel.
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Das lief meistens recht gut, aber wenn er auf unwillige Querulanten traf, die ihn beschimpften oder beleidigten, dann klaute er ihnen die Uhr oder gleich die ganze Brieftasche. Bei Regen oder Touristenflaute saß er am Kircheneingang, machte ein erbarmungswürdiges Gesicht, in Lumpen gepackt, hielt die Hand oder eine Mütze auf und ich hatte den Eindruck, als würde er geistig ein bisschen zurückgeblieben träge vor sich hindösen. Aber Pierre sah jede Regung der Menschen konturenscharf.

Zur Kirche St. Peri kommen nur wenige Besucher, meist Frauen auf eine kurze Beichte oder um eine Kerze zu stecken und einen Wunsch an die Mutter Gottes zu senden. Hier werden nur die kleinen Dinge des Alltags erledigt. Für die wichtigen Anliegen des Lebens, zum Beispiel Kindersegen bei Unfruchtbarkeit oder einen größeren Lottogewinn, oder den Sieg von Olympique Marseille bei der französischen Fußballmeisterschaft, dafür macht man schon den weiteren Weg hinauf zur Heiligen Jungfrau in der Basilique Notre Dame de la Garde. Aber dieser Weg war Pierre zu weit und zu mühsam, obwohl die Touristen dort noch zahlreicher und noch unachtsamer sind; er blieb unten am Alten Hafen in der Nähe von Suzanna und dem Hotel. „Wenn ich Fahrgeld und investierte Zeit rechne“, sagte er, „dann kann der Weg da oben zur Schwarzen Madonna sogar zum Verlustgeschäft werden!“ Und so sah ich ihn und Achmed beinahe jeden Abend zwischen Altem Hafen und Araberviertel auf dem Weg zu unserem Hotel, nachdem Bus und Fährboot mich von den neuen Ölraffinerien in Fos zurück nach Marseille gebracht hatten.

Im Laufe der Zeit waren wir im Hotel so etwas wie eine kleine Familie geworden. Man lieh sich gegenseitig Zucker oder einen Kugelschreiber, oder eine Münze für den Lichtzähler. Hin und wieder kam es zu kurzen Gesprächen über das Woher und Wohin, Belanglosigkeiten über Angebot und Preise in der Alimentation Général, seltener auch mal ein paar Worte über das Leben, über Träume, Arbeit oder Hoffnung, über Liebesbeziehungen oder die zahlreichen kleinen Intrigen im Hotel.
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Die Menschen waren selten ehrlich miteinander; fast jeder schmückte sein armseliges Leben aus, niemand wollte wirklich die Misere des Daseins zugeben. Aber die meisten waren freundlich und machten, wenn auch mit ein bisschen Selbstbetrug, das Beste daraus. Schließlich sprach ich mit Pierre über Jaqueline.

„Man sollte Jaqueline helfen!“ Pierre sah mich herausfordernd an.

„Ja! Sollte man!“ sagte ich. „Ist schon komisch. Sie läuft herum wie ein geprügelter Hund mit eingezogenem Schwanz, und dann stöckelt sie wieder so sexy durch die Gegend, das ist die wahre Wonne!“ Wir standen nach der Arbeit an der Bar und genehmigten uns ein paar Petits Rouges.

„Die Kleine hat mit ihrem Kerl wirklich nichts zu lachen!“ sagte Pierre wie nebenbei. Neugierig fragte ich: „Ihren Kerl? Ich hab' ihren Kerl noch nie im Hotel gesehen...“ Ich hatte sogar gehofft, dass Jaqueline überhaupt keinen Kerl hat und meine Chance eines Tages kommen würde.

„Nee! Ins Hotel kommt der auch nicht mehr. Hat Hausverbot! Nach der letzten Schlägerei! Ging damals ganz wüst zu. Er hatte sie grün und blau geschlagen. Da sind Fenster und Möbel zu Bruch gegangen. Das war eine Schau, sag’ ich dir!“

„Und sie ist trotzdem noch mit ihm zusammen?“

„Versteh` einer die Weiber!“ Pierre bedeutete dem Barmann mit einer Kopfbewegung, unsere Gläser nachzufüllen. „Sie hat Angst vor ihm. Sie geht jede Nacht anschaffen! Nicht auf der Straße, sie hat einen festen Platz im Puff bei der Legionärskaserne. Jeden Morgen kommt der Typ und kassiert sie ab. Ihr bleibt kaum ein Franc zum Leben! Der Kerl lebt jetzt mit einer anderen zusammen, eine die nicht arbeitet, aber drei Bälger hat sie und rennt zur Sozialhilfe, und Jaqueline finanziert diesen ganzen Zirkus noch zusätzlich!“

„Sie geht anschaffen?“ fragte ich überrascht.

„Wusstest du das nicht?“ Pierre schien erstaunt.

„Mais non! Aber nein!“ Ich hatte es wirklich nicht gewusst. „Ich dachte, sie arbeitet irgendwo in einer Bar als Serviererin oder als Friseuse, oder irgendetwas, ich hab’ mir darüber nie ernsthaft Gedanken gemacht!“

„Komisch!“ sagte Pierre. „Wo ich doch den Eindruck hatte, dass du scharf auf sie bist!“ Pierre sprach besser Deutsch als ich Französisch.
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„Na ja, irgendwie bin ich’s ja auch!“

„Ist ein prima Mädchen!“ sagte Pierre und wir hoben die Gläser. „Salut!“

„Man müsste sie beschützen!“ überlegte ich. „Aber wie soll das gehen?“

„Wenn du sie von dem Kerl befreist und sie richtig behandelst, dann macht Jaqueline alles für dich!“ Pierre unterstrich seine Worte mit erhobenem Zeigefinger. „Da musst du nicht mehr zur Maloche! Die verdient genug für zwei! Du musst sie ein bisschen ummodellieren, mal zu einem anständigen Friseur und neue Klamotten, und du darfst sie nicht schlagen! Mache einen auf Liebe! Sei auch streng mit ihr, das brauchen die, aber behandele sie gut und sage ihr, dass du sie liebst. Es ist ganz wichtig zu sagen, dass du sie liebst...!“

„Heh, Alter! Ich will doch kein Zuhälter werden!“ Ich lachte und gab Pierre einen freundschaftlichen Stoß in die Rippen. „Ich mag sie und möchte ihr helfen. Das ist alles! Kapito, alter Schwede?!“

„Du bist ein naives Arschloch!“ Pierre klopfte mir kumpelhaft auf die Schulter und ließ noch mal die Gläser nachfüllen. Er war ganz in Ordnung, der gute Pierre, aber was wusste der Alte schon von der Liebe? Ich ließ ihn reden.

Nachts, im Bett meines Hasenstalls, ging ich beim Onanieren noch einmal meine Pläne durch. Ich würde Jaqueline nicht durch Worte überzeugen, sondern durch praktische Beispiele. Arbeiten würde ich! Vielleicht bringe ich es bis zum Vorarbeiter, jetzt wo ich nahezu legal bin. Dann will ich auch kein Künstler mehr werden, sondern Arbeiter! Hauptsache, die Einsamkeit wäre zu Ende und ich hätte eine Familie. Dazu muss man ja nicht heiraten. Bei Liebe kann das auch auf freiwilliger Basis geschehen.

Jaqueline würde unseren Haushalt führen und für uns beide kochen. Abends würden wir durch die Stadt bummeln, Jaqueline natürlich in erotischer Kleidung, die ich ihr kaufen, die wir gemeinsam aussuchen würden, wir werden uns vor Schaufenster küssen und am Strand lieben, umspült von der glutroten Abendsonne und den Meereswellen zwischen Corniche du Prado und Chateau d’If, die fliederfarben das Abendlicht widerspiegeln. Am Wochenende zum Strand, oder gleich ins Theater! Jawohl, Kultur würde ich Jaqueline beibringen! Wer Kultur hat, muss nicht mehr in Kneipen herumhängen! Oder tanzen gehen! Jaquelines Körper war ein Traum, ich hatte ihn schon tausendmal abgetastet, liebkost, ich war sogar hemmungslos geworden, hemmungslos im Traum.
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Ich träumte, alles würde Wirklichkeit, wenn Jaqueline erst mal merkt, es meint einer gut mit ihr, sie wird geliebt, dann wird ihre Traurigkeit verschwinden, sie wird wieder lachen, das ist doch psychologisch absolut logisch. Jaqueline konnte gar nicht anders, bei einem so liebenswerten Kerl, wie ich einer bin. Ich träumte mich in einen romantischen Kitsch hinein, der jede Seifenoper zum Publikumserfolg gemacht hätte.

Die Angelegenheit entschied sich einen Tag vor Sylvester. Irgendwie hatte sich der Kerl unten an der Concierge vorbei und hoch zu Jaqueline ins Zimmer gemogelt. Ich merkte es erst, als ich über mir die Schreie und das Krachen der herumfliegenden Möbel hörte. Jetzt war ich gefragt! Da gibt’s kein Pardon! Eine Frau zu schlagen -, da hilft nur eins: Eingreifen und zurückschlagen und dem Kerl das Maul stopfen!

Ich dachte ein paar Jahre zurück. Ich war wohl so um die Dreizehn gewesen. Mein Stiefvater hatte mich auf einen Stuhl gefesselt, damit ich nicht eingreifen konnte, wenn er im frustrierten Suffkopf auf meine Mutter einschlug. Ich kann heute noch nicht verstehen, warum ich mir das so lange gefallen ließ und warum Mutter das ertrug, ohne sich aufzubäumen. Kann mich nur noch an meine ohnmächtige Wut erinnern, diesem perversen Schwein hilflos ausgeliefert zu sein. Danach, als er befriedigt und seelenruhig im Wohnzimmer in seinen Fotoalben mit der Bildersammlung historischer Uniformen blätterte und im Nebenzimmer Mutter, geschlagen, erniedrigt, auf der Haut und noch mehr in der Seele verletzt, zu mir herüberrobbte um mich loszubinden, da lagen meine Mutter und ich uns in den Armen und heulten Rotz und Wasser. Dann kam der Tag, er kam einfach so, ohne genau erkennbaren Anlass, da schlug ich zurück. Das Fass war übervoll. Ich war an der Grenze des Erträglichen und an der Grenze der Selbstverleugnung angelangt. Ich wollte nicht mehr nachts flennend durch die Stadt rennen oder mich im Bahnhofswartesaal verstecken, bis zu Hause eine trügerische Ruhe eingekehrt war. Als ich dann auf ihn drosch, wie ein Besessener ihm das Gesicht polierte und schrie, du wirst nie wieder meine Mutter schlagen, du Faschist! da merkte ich zum ersten Mal ernüchternd und zugleich erschrocken, dass der Mann beinahe zwei Köpfe kleiner war als ich, ein schmächtiges Stückchen Hampelmann, jahrelang künstlich aufgeplustert.
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Jetzt hing er mit seinem Hemdkragen schlaff wie ein Schluck schmutziger Spülbrühe an meinem Arm und winselte, dass ich zwischen Abscheu und Mitleid schwankte, und da ließ ich das Elendsbündel fallen und war ratlos.

Und jetzt schlug da oben in einem winzigen Hotelzimmer ein verdammter, nichtsnutziger, lausiger, arbeitsscheuer Zuhälter auf ein Mädchen ein, das ich zur Freundin haben, mit der ich mein Leben teilen, für die ich sorgen wollte und die mir einen Brief als Hilferuf geschickt hatte! Und wenn da niemand einschreitet, dann muss ich es eben tun, denn man darf solchen Dingen nicht ihren Lauf lassen, sonst endet das nie.

Im Nu war ich oben!

Rüttelte an der verschlossenen Tür.

„Jaqueline!“ schrie ich. „Ich kooomme!“

Im Treppenhaus standen sie herum und gafften nach oben. Drinnen hörte ich Jaqueline: „Nein! Bitte, bitte nicht!“ Wieder ein Rumsen und Schläge. Bumms! Krach! Der ausgerastete Typ schrie wie ein Tobsüchtiger und schlug weiter auf Jaqueline ein. Ich nahm Anlauf und das mickrige Schloss gab sofort nach. Jaqueline lag gekrümmt und halb unter dem Bett versteckt in der Ecke zwischen Nachtschrank und Fenster. Ihre Hände waren noch abwehrend nach oben gereckt. Ihre Bluse hing in Fetzen über ihrem zierlichen Busen. Blut rann aus der Nase über ihren Mund. Der Typ stierte mich an und ich stürzte auf ihn los, schlug blind auf ihn ein, eine Sache von Sekunden, schrie ihn an, in Brocken von Deutsch, Englisch und Französisch, schlug, bis ich ihn wie einen blutverschmierten Bettvorleger unter mir hatte. So, mein Freundchen...! Ich stieg über ihn. Nur zwei Schritte zu Jaqueline. Streckte ihr meine Hände entgegen. Wollte sie aufheben. „Ist ja alles gut!“ sagte ich. „Beruhige dich! Ich bin da!“ Der Retter! "Alles wird gut, meine Kleine! Alles!"

Jaqueline schnellte hoch und glotzte mich an. Ihr Blick war Gift und Galle und Hass, Schmerz und Irrsinn. Sie gab mir einen Stoß. Ich kippte zur Seite auf das zerwühlte Bett. Jaqueline flutschte vorbei und warf sich schützend über den Kerl. Sie ist irre, dachte ich. Was läuft denn hier ab? Jaqueline schlang ihre Arme um den Hals des Typen.
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Nahm seinen Kopf in die Hände. Strich über seine blutenden Wunden im Gesicht. „Cheri!“ schrie sie. „Cheri!“ Sie drückte ihren Kopf auf seine Brust. Schmatzte mit Küssen sein Gesicht ab. Der Kerl verdrehte die Augen und grunzte Unverständliches. Jaqueline stand ruckartig auf, sprang mich an, hieb mir ihre Fingernägel ins Gesicht, ich schmeckte Blut. „Du Teufel!“ schrie sie mich an. „Du Schwein! Diable! Cochon! Was hast du mit meinem Cheri gemacht?!“ Sie warf sich wieder herum, zu ihm gebeugt: „Cheri! Liebling! Tut es weh? Sag‘ mir, dass du mich liebst! Ich liebe dich! Es wird ja alles gut! Du kannst es haben...! Ja! Hier! Warte! Du kannst es haben!“ Sie sprang auf und mit einem Satz war sie am Kopfkissen, riss es auf, die Federn flogen, ein Bündel zusammengerollter Geldscheine kam zum Vorschein. „Hier!“ flehte sie und hielt dem Typen das Geld vor die Nase. „Hier! Cheri! Es ist dir! Ich liebe dich! Je t’aime! Verzeihe mir! Bitte verlasse mich nicht!“

Im Hausflur und im Treppenhaus standen sie dicht gedrängt. Pierre hatte sich einen Weg gebahnt und kam ins Zimmer. Er nahm mich in den Arm. „Komm!“ sagte er nur. „Viens!“ Ich zitterte und stieg wie betäubt über die beiden Menschenbündel, stolperte mit Pierre nach unten, heulte und schluchzte wie ein geprügelter Hund, zog meine Koffer unter dem Bett hervor und begann zu packen. Es schien mir unmöglich, in dieser Umgebung zu bleiben. Man hatte mir gerade eine der tiefsten Verletzungen meines Lebens zugefügt.

„Aber sie hatte mich doch um Hilfe gebeten“, schluchzte ich. „Sie hatte es mir in einem Brief geschrieben! Hier...!“ Ich holte den Zettel aus dem Nachtschränkchen und reichte ihn Pierre.

Pierre zögerte einen Augenblick. Ich suchte seine Augen. Pierre sah an mir vorbei, wollte mir den Zettel zurückreichen. Als ich wie gelähmt nicht zugriff, legte er ihn auf das Bett. „Wir waren es!“ sagte er. „Wir haben dir den Brief geschrieben! Es war nicht Jaqueline! Es war Suzannas Idee!“

„Ihr?“ Ich starre ihn an. „Warum? Pierre, warum?“

Er stand da. Seine Arme baumelten hilflose herum. Er sprach bruchstückhaft: „Weil ich..., weil ich dich lange beobachtet habe, weil wir..., ich hatte mit Suzanna darüber gesprochen, und da dachten wir, ein junger Typ wie du, der braucht doch was im Leben.
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..! Wir wollten..., wir dachten…“

Die beiden begleiteten mich noch bis auf die Straße. „Was wirst du jetzt tun? Wohin gehst du? Ich kenne ein paar Hotels weiter oben in Bahnhofsnähe. Nicht teuer. Willst du, dass ich mitkomme?“

„Nein! Ist schon okay! Ich finde mich zurecht!“ Ein verkrampftes Lächeln. „Du hörst von mir! Wir bleiben in Kontakt! Ja?“

„Klar, Kumpel!“ Pierre reichte mir die Hand. Suzanna drückte mich an ihren Busen und küsste mich auf die Wange. Ich verließ die beiden, das Hotel und die kleine Gasse und stieg zum Bahnhof hinauf. Die Last meiner beiden Koffer war schwer. Ich hatte schon viel zu viel Eigentum angesammelt.

*

Dies war ein Auszug aus

Michael Kuss

FRANZÖSISCHE LIEBSCHAFTEN.

Unmoralische Unterhaltungsgeschichten.

Romanerzählung.

Fünfte überarbeitete Neuauflage 2013

ISBN 078-3-8334-4116-5.

14,90 Euro.

Als Print-Ausgabe und als E-Book erhältlich in den deutschsprachigen Ländern, in Großbritannien, USA und Kanada.

Im Web: www.edition-kussmanuskripte.de

*

Auch hier bei Webstories: Französische Liebschaften (12): "Das Hotel der Madame van Molen".
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