Romane/Serien · Nachdenkliches

Von:    Tintentod      Mehr vom Autor?

Erstveröffentlichung: 24. Oktober 2010
Bei Webstories eingestellt: 24. Oktober 2010
Anzahl gesehen: 2501
Seiten: 9

Diese Story ist Teil einer Reihe.

Verfügbarkeit:    Die Einzelteile der Reihe werden nach und nach bei Webstories veröffentlicht.

   Teil einer Reihe


Ein "Klappentext", ein Inhaltsverzeichnis mit Verknüpfungen zu allen Einzelteilen, sowie weitere interessante Informationen zur Reihe befinden sich in der "Inhaltsangabe / Kapitel-Übersicht":

  Inhaltsangabe / Kapitel-Übersicht      Was ist das?


9

Zwei Wochen vor Weihnachten verbrachte Rick die meiste Zeit des Tages damit, die lokalen Stellenanzeigen durchzuforsten, bei den diversen Firmen anzurufen und nach Jobs zu fragen. Von einer freundlichen Dame in einer Vermittlungsagentur bekam er den Rat, sich bei den Firmen direkt vorzustellen, um einen besseren Eindruck zu machen.

„Schlagen sie vor, einen Tag auf Probe zu arbeiten, ohne Bezahlung. Wenn sie gut sind, wird niemand nach Referenzen fragen.“

Jeder, der mich ansieht und nicht gerade blind ist, wird nach meinen Referenzen fragen, dachte Rick, aber vielleicht gibt es in irgendeiner Fabrik oder in einer Straßenbaukolonne doch einen kleinen Job für mich.

Er bedankte sich, legte auf und suchte in den yellow pages nach Adressen.



Die Reitmans waren vollkommen dem Weihnachtsfest verfallen, Sidney hatte eine riesige Tanne besorgt, Candy diskutierte mit ihrer Mutter über das perfekte Menü und wen sie aus der Familie zum Essen einladen würden – und wen nicht.

„Ich werde mich verdrücken, wenn es so weit ist“, flüsterte Rick, „in so eine Familienkiste hänge ich mich nicht rein.“

Sie saßen in dem Ohrensessel vor dem Panoramafenster, teilten sich eine große Tasse Kaffee und flüsterten miteinander. Rick hatte seine flache Hand auf ihren Bauch gelegt.

„Es bleibt alles in einem kleinen Kreis. Und die Gäste bleiben nur ein paar Stunden, wir essen zusammen und sie verschwinden wieder. Niemand verlangt von dir, dass du dich verbiegst. Oder dass du einen Anzug trägst.“

„Stimmt“, murmelte Rick, „Anzüge werden noch immer überbewertet.“

„Es würde mir etwas fehlen, wenn du nicht dabei bist. Bisher haben wir Weihnachten etwas anders verbracht. Das hier wird ein richtig schönes traditionelles Neu-Englisches Weihnachtsfest. Du musst dich nur drauf einlassen.“

„Okay“, sagte Rick, bewegte seine Finger auf ihrem Bauch, der nur ein wenig ausgeprägter war als zu der Zeit in New York, der aber stetig wachsen würde, „ich entscheide mich, wenn ich weiß, was es zu essen gibt.“

Aber er hatte sich längst entschieden. Er konnte nicht anders, als zu bleiben, wenn er sein Versprechen nicht gegen die Wand fahren wollte. Er würde vorgeben, sich mit Händen und Füßen zu wehren, aber sie beide wussten, dass er ihr den Gefallen tun würde.
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Den ersten Job fand Rick durch Zufall und ohne ihn zu suchen. Er hatte versprochen, Sidneys Wagen zu waschen und zum Tanken zu fahren, suchte sich die Tankstelle, die am anderen Ende von Blue Hill lag, um ein wenig länger durch die Gegend fahren zu können und entdeckte eine kleine Autowerkstatt neben der Tankstelle. Die Neugierde trieb ihn hinein und er blieb auf einen Kaffee.

„Ich hab auf einem Schrottplatz gearbeitet in New Jersey“, sagte er, „nicht gerade lange, aber ich habe eine Menge alter Karren auseinandergenommen.“

Fred war Halbmexikaner und sah aus wie die lebendige Version der Spielfigur Mario, komplett mit dem runden vorstehenden Bauch und dem dicken Schnauzbart.

Sie redeten eine Weile über neue und alte Modelle, Vor-und Nachteile und über die gute alte Zeit, als man die Stoßstange seines Wagens noch selbst anschrauben konnte.

„Ich kann dir sagen, was in ein paar Jahren kommen wird“, sagte Fred, kratzte sich den ausladenden Bauch und grunzte, „da werde ich alter Kerl nicht einmal mehr in der Lage sein, einen Motor zu reparieren. Sie werden alles so kompliziert machen, dass sich nur noch junge Leute mit Hornbrillen und weißen Hemden an die Autos wagen werden.“

„Dann wird aber auch das Autofahren keinen Spaß mehr machen“, sagte Rick.

„Wie kommt es, dass du den Wagen von Sidney Reitman fährst?“ fragte Fred.

„Ich hab ihn aus dem Vorgarten geklaut und dann erst gesehen, dass der Tank fast leer war. Verdammte Landeier hier, fahren dicke Familienkutschen und sind zu geizig, um den Tank ganz vollzumachen.“ Er grinste breit. Er wollte sehen, ob Fred ihm das abnahm. Aber er fand heraus, dass der Landfunk in dieser Gegend sehr genau und sehr schnell war. Fred zog mit dem Zeigefinger sein Augenlid herunter und erwiderte: „Du bist der Typ, der aus New York gekommen ist. Der Freund von Sophie.“

„Bekenne mich schuldig.“

Erst nach einem weiteren Kaffee kamen sie auf das Thema Job zu sprechen und eine halbe Stunde später schlug Rick ein, an drei Tagen in der Woche in der Werkstatt auszuhelfen. Der wöchentliche Lohn war lächerlich, aber da Rick keine Ahnung hatte, wie solche Arbeit sonst entlohnt wurde, machte er sich darüber keine weiteren Gedanken.
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Das Wichtige war – er hatte einen Job.



Als er Curtis anrief, um ihm frohe Weihnachten zu wünschen, war sein Bruder drüben in Texas tatsächlich noch ahnungslos. Dom hatte ihn nicht vorgewarnt.

„Hey“, rief Curtis, „das ist ja eine Überraschung, dass du dich meldest. Ich hätte erwartet, dass du furchtbar beschäftigt bist um diese Zeit. Gibt es in New York keine Touristen mehr, die du übers Ohr hauen kannst?“

„Ich mache einen kleinen Winterurlaub in New-England.“

Du solltest dich reden hören, dachte Rick, jeder, der dich kennt, wird dir nicht glauben.

Curtis hatte den selben Gedanken – er lachte laut und fragte, ob er das Skifahren entdeckt habe.

„Ich fahre den ganzen Tag auf einem Skidoo durch die Gegend und lasse Carlos neben mir herlaufen.“

„Willst du mir noch mehr von dem Unsinn auftischen oder erzählst du mir, was los ist?“

„Das ist kein Unsinn. Hab ich dir jemals Unsinn erzählt?“

Darauf antwortete Curtis nicht, er machte ein ungläubiges Geräusch ins Telefon und fragte nach Sophie. Er fragte regelmäßig, wie es ihr ging, aber er stellte nie die Frage, die ihn eigentlich interessierte: Seid ihr noch zusammen? Er fürchtete insgeheim, dass es mit Rick wieder bergab gehen würde, sollte er sich von Sophie trennen.

„Wir nehmen gerade eine Auszeit. Ich bin bei ihren Eltern untergekommen. Und du darfst mir drei Fragen stellen und versuchen herauszufinden, was los ist“.

„Drei Fragen?“

„Ja, jetzt sind es nur noch zwei.“

Curtis lachte keckernd und bestand auf drei Fragen und Rick erwiderte, er solle es mit drei Fragen versuchen.

„Lass mich erst einmal kurz zusammenfassen. Ihr beide seid im Haus ihrer Eltern und Weihnachten steht vor der Tür. Ich könnte vermuten, dass sie dich dazu überredet hat, aber ich wüsste nicht, weshalb sie das versuchen sollte. Es sei denn, es hätte sich etwas zwischen euch geändert.“

Rick machte Geräusche einer tickenden Uhr, wie sie in Quizzshows eingeblendet werden, um dem Zuschauer anzuzeigen, dass dem schwitzenden Kandidaten die Zeit davonlief.

„Okay“, sagte er, „du bist nah dran, du tastest dich ran. Du hast noch immer zwei Fragen offen.
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Curtis kannte seinen Bruder und er kannte Sophie mittlerweile gut genug, um die Situation einschätzen zu können. Er hatte immer befürchtet, es könnte mit Rick einmal ein böses Ende nehmen, aber endlich schien er die Kurve gekriegt zu haben. Die Zeiten, als er sich scheinbar mit jedem Manöver näher an den Abgrund getrieben hatte, schienen vorbei zu sein.

„Es ist nichts Ernstes passiert in ihrer Familie, weshalb ihr hingefahren seid?“

„Nichts Ernstes mit der Familie. Wie lautet deine letzte Frage?“

„Und mit dir ist auch alles in Ordnung? Dann vermute ich mal, dass ihr bald zu dritt sein werdet.“ Er hörte Rick applaudieren am anderen Ende der Leitung. „Ich weiß, ich habe keine Frage mehr übrig, Rick, aber freut ihr euch darüber?“



Sophie verpackte die Nachricht an ihre Familie in einen vorweihnachtlichen Umschlag. Sie hatte auf die üblichen Fragen nach Geschenken ausweichend reagiert und gemeint, sie würde sich noch etwas einfallen lassen. Es sollte eigentlich nur eine Kleinigkeit für Rick werden, weil er diese Zeremonien nicht kannte und sie sagte, sie habe eine große Überraschung für die ganze Familie. Weil sie die Neuigkeit nicht am Weihnachtsmorgen loslassen wollte, um für den Rest des Tages kein anderes Thema mehr zu finden, überreichte sie den Umschlag am Frühstückstisch vier Tage vor dem Fest. Rick war eingeweiht und er versuchte sie alle drei im Auge zu behalten, um ihre Reaktionen sehen zu können. Es erschien ihm ein wenig wie ein Verhaltensexperiment.

„Was ist das?“ fragte Sidney. Er reichte den Umschlag an seine Frau, die ihn vorsichtig öffnete, Sophie dabei immer wieder lächelnd ansah, als würde Sophie ihr es vorzeitig verraten.

In dem Umschlag steckte eine gedruckte Karte mit einem kleinen Hand- und Fußabdruck und der Text lautete: Herzlichen Glückwunsch. Ihr werdet Großmutter / Großvater / Tante.

„So“, sagte sie, klopfte auf ihren Bauch und sah in die Runde, „jetzt können wir uns wirklich über nützliche Geschenke unterhalten.“



Candy hatte sofort behauptet, sie habe es schon am ersten Tag geahnt, was mit Sophie nicht stimmte, Schwestern wüssten so etwas, sie habe nur nichts gesagt, weil sie sich nicht sicher gewesen sei.
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„Sie war zwar ein paar Jahre weg, aber so sehr verändert Frau sich nicht, wenn sie PMS hat. Und Sophie hatte immer PMS. Bis auf die Zeit, wo sie hier war.“

Sie warf Rick einen Blick zu, als solle er ihre Theorie über PMS Symptome bei Sophie bestätigen, aber er wusste nicht genau, was sie von ihm hören wollte. Sie mochte gelegentlich seltsame Verhaltensweisen gezeigt haben, aber Rick hatte es nie in Verbindung mit den Tagen vor ihren Tagen gesehen.

Als sie nach einem Spaziergang im Mud Room ihre nassen Schuhe und Mäntel auszogen, murmelte Sidney: „Er ist schon ein seltsamer Kerl“, und seine Frau antwortete: „Nicht so schlimm, wie ich ihn mir vorgestellt habe. So wütend und durcheinander, wie sie die erste Zeit nach ihrer Ankunft war. Ich habe sofort gewusst, dass es etwas mit ihm zu tun haben musste.“

„Ich glaube, sie hat die ganze Zeit über ihn geflucht.“

„Und seit er hier ist, habe ich sie auch einige Male etwas lauter reden hören“, sagte Martha und verdrehte die Augen.

„Und was hat er gemacht? Hat er klein beigegeben?“

„Ich hab nur sie gehört. Nicht ihn.“

„Dann war es kein richtiger Streit“, meinte Sidney.



Rick veranstaltete ein großes Getöse, als er Carlos in die Wanne stecken und baden wollte. Der Hund hasste diese Prozedur und gab alles daran, sich nicht ins Badezimmer schleifen zu lassen. Es war erstaunlich, wie er die vier Pfoten in den Boden stemmen konnte und als Rick ihn hochhob und durch die Tür tragen wollte, die Beine zur Seite ausstreckte und sich gegen den Türrahmen drückte.

„Verdammt“, zischte Rick, „stell dich nicht so an, du dummer Köter. Als wenn dich einer umbringen würde.“

Carlos gab keinen Ton von sich, aber er hatte die Zähne gebleckt und machte ein verzweifeltes Gesicht, als Rick ihn in das Badezimmer zwang und in die Badewanne setzte. Er musste ihn im Nackenfell festhalten, damit er ihm nicht wieder durch die Lappen ging.

Candy erschien ihm Türrahmen und fragte: „Was veranstaltest du da?“

„Sophie hat gesagt, er stinkt.“

Zu Hause hatte er den Hund nur unter die Dusche gestellt, wenn Carlos sich in Fischabfällen oder Ähnlichem gewälzt hatte, aber manchmal hatte er ihn auch einfach an der nächsten Tankstelle gewaschen.
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„Soll ich dir helfen?“

„Es reicht, wenn er nach dem Bad auf mich sauer ist“, rief Rick über seine Schulter, und nach der Waschaktion war nicht nur der Hund auf ihn sauer. Er hatte das ganze Bad unter Wasser gesetzt und Sophie maulte mit ihm herum, bis er sich einen Packen Handtücher nahm und das Wasser aufwischte.

„Könnte schlimmer sein“, rief er ihr über den Flur nach und warf eines der tropfenden Handtücher, es landete mit einem nassen Planschen auf dem Parkettboden, „er könnte mal wieder was gefressen haben, was er draußen gefunden hat und es nach zwei Stunden unter dein Bett kotzen!“

Unten im Haus trat Sophie an die Treppe und rief nach oben: „Dein Hund, Rick, deine Kotze!“

Rick hockte vor dem Badezimmer, hielt Carlos in einem großen Handtuch fest, damit er ihn trocken reiben konnte, murmelte dabei vor sich hin.

„Sie meint das nicht so, mein Dicker, sie ist nur komisch drauf im Moment. Du wirst noch eine Weile den Clown spielen müssen, damit es ihr besser geht, ist das Okay? Den Clown spielen kannst du doch richtig gut, oder?“ Rick hob das Handtuch von Carlos struppigem Kopf. „Starr mich nicht so an, Carlos. Jetzt riechst du wieder gut und darfst im Haus herumlaufen.“

Carlos warf ihm einen letzten anklagenden Hundeblick zu und trottete die Treppe nach unten, flüchtete in die Küche, wo er darauf wartete, dass etwas Leckeres für ihn abfiel.



In dem kleinen Raum neben der Garage, den Sidney sich als Hobbyraum eingerichtet hatte, saßen Sidney und Rick bei einem Kaffee zusammen, Rick drückte gerade eine der selbst gedrehten Zigaretten aus, versuchte den Eindruck zu erwecken, er höre konzentriert zu. In dem unangenehmen Neonlicht, das ihn an schlechte Zeiten erinnerte, sah er Sidneys Gesicht in einem Schlaglicht, das ihn unheimlich aussehen ließ. Er wollte es Sophies Vater schon sagen, als ihm einfiel, dass er selbst vermutlich noch schlimmer aussah.

Wie zwei Statisten in einer Geisterbahn.

„Wenn du mit Werkzeug umgehen kannst“, sagte Sidney, „kannst du mir beim Vogelhaus helfen.“

Das berüchtigte Vogelhaus hatte eigentlich ein Geschenk für Martha sein sollen, weil sie gerne die Vögel im Garten beobachtete und sie jeden Winter fütterte, was so weit ging, dass die Vögel morgens gegen das Küchenfenster pickten, wenn sie die Körner und Fettringe vergessen hatte.
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Ein Vogelhaus auf einem Pfahl stehend würde den Nachbarskatzen trotzen und Martha eine bessere Sicht aus dem Fenster ermöglichen. Sidney hatte es nur nicht mehr geschafft, es noch vor Weihnachten fertigzustellen. Hätte er sich nicht in die Hand gesägt, hätte er den Termin halten können.

„Klar“, sagte Rick, „ich schraube an Autos herum, da wird ein Vogelhaus auch funktionieren.“

Rick verbrachte die nächsten zwei Stunden damit, Holz auf Sidneys Anweisungen zurechtzuschneiden und zusammenzuschrauben und schaffte es, sich dabei bis auf ein paar eingerissene Splitter nicht großartig zu verletzen.

Sidney wollte wissen, wie ihm die Arbeit in der Garage gefiel und Rick dachte einen Moment darüber nach. Er arbeitete noch nicht lange genug dort, um es wirklich sagen zu können, alles war noch zu neu und er wagte nicht zu sagen, dass es überhaupt der erste Job in seinem Leben war und er keinerlei Vergleichsmöglichkeiten hatte. Er konnte nicht sagen, ob der Job gut war oder schlecht, ob er zu wenig oder gerecht dafür bezahlt wurde. Also antwortete er rein nach seinem Gefühl, und teilweise, was Sidney von ihm erwartete.

„Ich schraube gerne an Autos herum“, sagte er, „das ist nicht wirklich Arbeit für mich.“

Es schien nicht einmal anstrengend zu sein, früh aufzustehen.

„Das Baby wird alles auf den Kopf stellen“, meinte Sidney, schraubte gedankenverloren einen weiteren Stützbalken zwischen das Dreibein, „euer Leben wird sich komplett verändern. Aber mach dir keine Gedanken darüber, was sich alles verändern wird, was das Baby alles verdreht und verhindert, es wird einfach passieren. Ihr könnt nichts dagegen tun, und wenn ihr einmal Eltern seid, wird sich alles von selbst ergeben. Ich will dir keine Angst machen, um Gottes Willen, verstehe mich nicht falsch, ich will nur weitergeben, was wir mit den beiden Mädchen erlebt haben. Wie hat deine Familie reagiert auf die gute Nachricht?“

Auf welche gute Nachricht? dachte Rick, welche Familie?

„Ich hab mit meinem Bruder telefoniert, der wird es an alle weitergeben, die es interessieren könnte.“

„Das klingt, als hätte es Probleme gegeben.
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„Nichts, was ich nicht geregelt hätte.“ Rick klopfte sich die Handflächen an der Jeans ab und sagte: „Farbe?“

„Farbe“, sagte Sidney. Er öffnete eine Dose mit dunkelroter Holzfarbe, rührte sie um und sagte zu Rick: „Oben in dem Regal stehen die Pinsel im Marmeladenglas. Nimm zwei von den Neuen.“



Sie kamen gut gelaunt und farbverschmiert ins Haus zurück. Sophie rief ihnen entgegen, dass Bob vorbeigekommen sei und Sidney murmelte: „Der fehlte gerade noch.“

Rick versuchte seine verschmierten Hände sauber zu bekommen und fluchte, bis Sophie ihn stoppte und Pinselreiniger holte.

„Gib her“, sagte sie und er hielt ihr seine Hände über dem Waschbecken entgegen, „du hast alles verschmiert mit der Seife.“

„Wer ist Bob?“

Er spülte das Gemisch aus Farbe, Seife und Entferner mit heißem Wasser weg und rieb sich dann, abschätzend in den Spiegel schauend, einen letzten Farbfleck vom Kinn.

„Dad und er haben zusammen Sport getrieben, bis zu seinem Herzinfarkt, er wohnt zwei Häuser weiter.“

„Sid hatte ’nen Herzinfarkt?“

„Nein, Bob. Seitdem ist er auf dem Gesundheitstrip. Hat die Arbeit aufgegeben und kommt ab und zu rüber, um Dad zu einer Joggingrunde zu überreden. Aber meistens vergeblich. Es gibt Dinge, die Dad einfach nicht über sich bringt.“

„Ich würde auch nicht sinnlos durch die Gegend laufen wollen.“

„Dabei machst du doch den lieben langen Tag nichts anderes“, sagte Sophie, hüpfte vor ihm weg und war durch die Tür und im Flur, bevor Rick nach ihr greifen konnte.

„Ich pack dich, du Schlampe“, schrie er, folgte ihr und knallte die Tür hinter sich ins Schloss, ebenso wie die Tür zu Sophies Zimmer, wo sie sich auf ihr Bett geworfen hatte und in die Kissen kicherte.

Unten im Haus zuckte Sidney zusammen.



Von den ersten Lohnschecks, die Rick in den Fingern hatte, wollte er eigentlich seine Schulden bei Candy zurückzahlen, aber stattdessen fuhr er mit dem Chevy Nova durch die Gegend und suchte nach einem Geschenk für Sophie. Es sollte kein nachträgliches Weihnachtsgeschenk sein, er wollte einfach beweisen, dass er Geld in den Händen hatte und es nicht für Drogen ausgab oder damit in die nächste Bar lief.
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Er hatte in der Garage ein paar Überstunden gemacht, zwei Wagen lackiert und unzähliges eingedelltes Blech behandelt. Was er für Sophie fand, auf einem Flohmarkt weiter unten an der Küste, legte er über das Fußende des Bettes. Sie würde es am Morgen finden, wenn sie vor ihm aufwachte, weil sie auf die Toilette ging.



Nicht nur Sophie war früh wach am nächsten Morgen, sie traf am Frühstückstisch auf Candy, die sich eine riesige Schüssel Cornflakes mit Erdbeeren und Trauben gemacht hatte, bei der Morgenzeitung am Küchentisch saß und aufsah, als Sophie hereinkam.

„Wouh“, machte sie, „das ist ja scharf.“

Sophie grinste, drehte sich einmal um die eigene Achse und setzte sich zu ihrer Schwester. Um ihre Schultern lag ein großes Dreieckstuch, in Dunkelgrün, Grau und Rot gehalten, von dünnen Silberfäden durchzogen, in der Mitte des Tuches, umgeben von verschnörkelten Linien und Mustern, breitete ein stilisierter Vogel seine Flügel aus, den Kopf zur Seite gedreht.

„Rick muss es gestern Abend aufs Bett gelegt haben, er war spät zurück von seiner kleinen Tour nach der Arbeit.“

„So viel Geschmack hätte ich ihm gar nicht zugetraut.“

„Was hat dich so früh aus den Federn getrieben?“

Candy machte eine Flatterbewegung mit beiden Händen und brauchte nichts weiter zu sagen. Sie hatte eine Verabredung am Nachmittag und machte sich jetzt schon Gedanken darüber, was sie tragen, wie sie sich schminken, was sie sagen, wie weit sie es beim ersten Treffen kommen lassen würde. Und wie auch Sophie in ihrem Alter, machte sie sich Sorgen darüber, ob nicht über Nacht ein dicker Pickel gewachsen war, an einer Stelle, die man nicht überschminken konnte. Sophie zog den Schal enger um ihre Schultern zusammen und vermisste plötzlich dieses alte Gefühl, sich schon am Morgen über eine Verabredung mit einem fremden Jungen so zu freuen, dass man nicht mehr schlafen konnte, sich unsterblich verliebt zu fühlen und die Tatsache ignorieren, dass dieses Gefühl vielleicht nur zwei Wochen anhalten würde, weil der Junge sich als totales Arschloch entpuppte.

Sie machte sich ein French Toast und einen Kaffee, und weil es noch so früh am Morgen war, schlich sie sich ins Bett zurück, wo Rick noch immer schlief.
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Unter der Decke stieß sie mit dem Fuß gegen Ricks Beine und er zuckte mit einem undeutlichen Schnaufen hoch.

„Husch“, flüsterte sie, drückte sich an ihn und ließ ihre Hand wandern, „tut mir leid, ich wollte dich nicht wecken.“

„Ich hab geträumt“, sagte Rick undeutlich, „aber ich kann mich schon nicht mehr dran erinnern.“



Im Traum war Rick auf einem Motorrad durch die Gegend gefahren, aber es war nicht das Motorrad, mit dem er und Mascot damals aus Mt. Vernon verschwunden waren, es war eine schwere schwarze Geländemaschine und das Motorengeräusch war noch immer dick und fett in seiner Erinnerung. Er war eine Küstenstraße entlanggefahren und war auf dem Weg nach Hause gewesen. Und das zu Hause war nicht Blue Hill, soviel war sicher. Und daran konnte er sich noch genau erinnern, obwohl er das Gegenteil behauptete.

„Danke für das wundervolle Tuch“, sagte Sophie, die Lippen ganz nah an seinem Hals.
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Kommentare zur Story:

  Schön, beschrieben, wie Rick das familienleben genießt und auch arbeiten geht.  
   Petra  -  17.01.11 19:52

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  Na, bis jetzt verbringt Rick eine recht gute Zeit bei Sophies Eltern. Weihnachten naht und er hat sogar einen Job, für den er allerdings schlecht bezahlt wird. Er scheint glücklich zu sein.  
   Jochen  -  05.11.10 21:56

   Zustimmungen: 0     Zustimmen

  ...immer noch fantastisch geschrieben, einfach ne nette Geschichte...will mal weiterlesen, weil ich einfach gespannt bin, WAS noch so pasiert...beste Grüße  
   Jürgen Hellweg  -  26.10.10 22:53

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