Mandy war gerade auf dem Weg von der Schule nach Hause, als sie zum ersten Mal diese Melodie hörte. So etwas Schönes, Atemberaubendes hatte sie noch nie zuvor gehört. Dieses Flötenspiel hatte etwas Magisches. Es zog sie förmlich an. Und doch konnte sie nicht ausmachen, aus welcher Richtung es kam. Sie blieb einige Zeit stehen und lauschte der Melodie, die ihr so vertraut zu sein schien, sie aber dennoch nicht kannte. Als sie sich schließlich zum weitergehen zwang, wurde sie fast traurig, als das Spiel immer leiser wurde…
„Hast du das gesehen, Li?“ „Was denn, Meister?“ „Das kleine Mädchen. Es hat die Melodie gehört!“, sprach der alte Meister ganz aufgeregt. Es war ihm anzusehen dass er ziemlich geschockt über diese Tatsache war. In den letzten Minuten, in denen er das Geschehene verfolgte, war er sichtlich gealtert. Zum ersten Mal in seinem Leben sah er tatsächlich aus wie 250.
„Aber das ist ja schrecklich! So jung, und dennoch hört sie dieses Flötenspiel. Schlimm, dass ein so junges Ding so früh sterben muss…“ Li senkte den Kopf um seinem Bedauern Ausdruck zu verleihen. Eine Weile schwiegen die beiden.
„Wir müssen das verhindern!“, unterbrach der alte Meister die Stille. „Aber Meister, ihr wollt euch doch nicht mit dem Tod anlegen?!“ Li wurde ganz angst und bange bei dieser Vorstellung.
„Doch, genau das will ich! Jetzt übertreibt ers aber! Sie ist doch noch ein Kind. Sie ist höchstens neun Jahre alt, wenn überhaupt! Ich verstehe, dass er alte Menschen mit sich nimmt, das er Kranke von ihren Leiden erlöst, aber ich verstehe nicht, warum er in drei Herrgottsnamen dieses Mädchen zu sich holen will!“, wütend schnaubte der Alte und starrte zornig in die Ferne.
„Äh, Meister, ihr… ihr könnt den Lauf der Dinge doch nicht so beeinflussen. Bedenkt was ihr alles anrichten könntet! Die ganze irdische Welt könnte aus dem Gleichgewicht geraten. Was, wenn es ihr Schicksal ist, so jung zu sterben?“ Li versuchte seinen Meister von seinem Vorhaben abzubringen. Es stand einfach zu viel auf dem Spiel.
Der Meister grummelte. Er konnte Li ja nicht sagen, dass das kleine Mädchen – Mandy – eine unheimliche Anziehungskraft auf ihn ausübte. Sie hatte etwas an sich, von dem er glaubte, es beschützen zu müssen. Selbst, wenn es sein eigenes Leben kostete.
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„Hallo mein Schatz, wie war die Schule?“ Mandys Mutter begrüßte ihre Tochter an der Haustür. „Hmm… interessant. Wir haben viel gelernt.“, murmelte Mandy wenig begeistert. Ihr ging die Melodie von vorhin nicht aus dem Kopf. Es war, als würde sie sie verfolgen. Leise, ganz leise konnte Mandy sie in ihrem Hinterkopf spielen hören.
Sie zog ihre Schuhe aus, hängte die Jacke auf und stapfte an ihrer Mutter vorbei die Treppe zu ihrem Zimmer hoch.
„Ist alles in Ordnung mit dir? Geht es dir nicht gut? Hat dich jemand geärgert?“, fragte Mandys Mutter besorgt.
Die Antwort hörte sich nicht sehr überzeugend an, aber sie wollte sich erst mal nicht einmischen.
„Nein, alles in Ordnung.“ Mandy schloss leise die Tür hinter sich. Seufzend ließ sie sich aufs Bett fallen und hing ihren Gedanken nach.
„Wo kam diese Melodie her? Wer konnte so gut Flöte spielen?“ Es ließ ihr keine Ruhe.
„Mandy, Essen ist fertig!“ Jäh holte ihre Mutter sie in die Wirklichkeit zurück.
Der Meister hatte sich in seine, nennen wir es Wohnung zurückgezogen, um nachzudenken. Li hatte er geschickt, um Mandy zu finden und natürlich zu beobachten.
„Noch haben wir eine Chance“, dachte er, „noch ist der Tod am Anfang seiner Arbeit, noch können wir ihn aufhalten.“ Er ging auf und ab und überlegte. „Wie könnte der Tod wohl zuschlagen? Und wie konnte er – der große Meister – verhindern, dass der Tod Mandy zu sich holte?“ Fragen über Fragen drängten sich in seinen Kopf. Li hatte ihn schon gefragt, warum er so ein Interesse an der Kleinen hatte, aber er konnte es nicht sagen. Sein Beschützerinstinkt war geweckt. Irgendwie erinnerte die kleine Mandy ihn an ein Mädchen, dass er vor Jahren, eigentlich schon Jahrhunderten, gekannt hatte…
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