Der Hüter des Drachen - Kapitel 4   394

Romane/Serien · Fantastisches

Von:    Robin van Lindenbergh      Mehr vom Autor?

Erstveröffentlichung: 26. Oktober 2009
Bei Webstories eingestellt: 26. Oktober 2009
Anzahl gesehen: 2530
Seiten: 12

Diese Story ist Teil einer Reihe.

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   Teil einer Reihe


Ein "Klappentext", ein Inhaltsverzeichnis mit Verknüpfungen zu allen Einzelteilen, sowie weitere interessante Informationen zur Reihe befinden sich in der "Inhaltsangabe / Kapitel-Übersicht":

  Inhaltsangabe / Kapitel-Übersicht      Was ist das?


Panik trieb mich vom Kloster weg und so hätte meine Flucht beinah ein jähes Ende gefunden. Denn beinah wäre ich noch in der Luft gewesen als die Morgensonne meine Transformation einleitete. Ohne Flügel wäre es sicher eine harte Landung gewesen, aber im beinah letzten Moment war ich zur Erde zurückgekehrt.

Den ganzen Tag über verspürte ich Angst und gegen Mittag sah ich sie dann endlich. In großen Kreisen zogen zwei gesattelte Drachen mit ihren Hütern über mich hinweg. Dank meiner guten Augen sah ich sie rechtzeitig und verbarg mich tief im Gras. Ich wusste, dass ich tags für die Drachen im lebendigen Gras kaum zu sehen war. Minuten vergingen, in denen ich beinah das Atmen vergessen hätte, aber dann zogen die beiden glänzenden Körper ihren letzten Kreis und drehten dann ab.

Endlich wagte ich es, durchzuatmen und bemerkte, dass mein ganzer Körper vor Anspannung zitterte. Den ganzen Tag wagte ich es nicht mehr, das schützende Unterholz zu verlassen. Ein paar Mal nickte ich vor Erschöpfung ein und schreckte jedes Mal panisch hoch. Aus dem Tempeldiener und frisch geschlüpftem Drachen war ein Flüchtling geworden.

Erst nach einer weiteren durchflogenen Nacht wurde ich etwas ruhiger und erkannte, dass ich mit meinen letzten Kraftreserven spielte. Ich brauchte einen sicheren Platz für ein paar Stunden Schlaf, Kleider für den Tag und ich brauchte etwas zu Essen.

Als ich im Morgengrauen erneut die Gestalt gewechselt hatte, brach ich völlig entkräftet zusammen. Ich war kaum noch zu Gedanken fähig, bevor ich mich in das weiche Moos unter einem Baum schleppte und in einen tiefen, erschöpften Schlaf sank.

Man rüttelte mich wach als die Sonne schon hoch am Himmel stand und kurz befürchtete ich, es könne der Prior sein, aber dafür waren die Bewegungen viel zu sanft und freundlich. Ich schlug die Augen auf und blickte in das lächelnde Gesicht eines Mädchens. Auch wenn sie kaum zehn Jahre alt war, war sie das erste weibliche Wesen was ich je in beiden meiner Leben gesehen hatte, denn an meine menschliche Mutter konnte ich mich nicht mehr erinnern.

„Bist du überfallen worden?“ fragte sie ernsthaft besorgt und in diesem Moment schämte ich mich das erste Mal für meine menschliche Nacktheit und wünschte mir die Sicherheit meines Drachenpanzers.
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Sie musste es bemerkt haben, denn sie streifte eilig ihre lange Wolljacke ab, die sie über ihrem Bauernkleid getragen hatte und reichte sie mir. Das Kleidungsstück musste ursprünglich nicht ihr gehört haben, denn es war selbst mir reichlich groß, nachdem ich die Ärmel entrollt hatte. Aber es bedeckte wenigstens notdürftig meine Blöße.

Ich überlegte, was ich ihr antworten konnte und sollte, aber sie kam mir zuvor.

„Du siehst aus, als hättest du Hunger. Mein Vater und ich wohnen unten am Fluss, zehn Minuten von hier. Bitte, komm mit!“ Ein heiseres Husten schüttelte sie in diesem Moment.

„Danke“, sagte ich nur, immer noch nach einer Erklärung suchend, erhob ich meine steifen Glieder und ging ihr nach.

Der Weg war wirklich nicht weit, aber in meinem Zustand hätte es die Besteigung des höchsten Berges sein können. Obwohl das Mädchen immer wieder von Hustenanfällen geschüttelt wurde, ging sie zügig über den schmalen Pfad und ich folgte ihr so gut ich konnte. Völlig entkräftet erreichten wir das Haus.

Es war eine kleine Hütte, wie sie die Bergbauern oft hatten. Ein Haus, das sich nah an den Fels schmiegte und dabei aussah als müsse es sich daran festhalten und würde sich gleichzeitig ducken, um nicht aufzufallen. Ein mit schweren Steinen beschwertes Strohdach hing schief auf den steinernen Wänden.

„Vater!“ rief das Mädchen als wir den Hof vor dem Haus erreichten, wo einige Hühner herumflatterten und in wilder Panik vor mir davon stoben. Ob sie wussten, was ich war?

„Vater, komm schnell und hilf. Ich habe einen Mann gefunden, die Räuber haben ihn überfallen.“ Wieder hustete sie.

„Ich, nein…“ versuchte ich zu verbessern, aber in diesem Moment ging die Tür des Hauses auf und ein bärtiger Mann trat heraus. Einen Augenblick musterte er mich, dann kam er beherzt auf mich zu, stützte mich und führte mich in die Hütte.

Drinnen war es gemütlich warm, denn ein Feuer brannte und darüber hing ein Topf, der so herrlich duftete. Mein Magen begann zu knurren, sodass es mir lauter vorkam als mein Drachengebrüll. Der Mann musste es gehört haben, denn er führte mich direkt an den kleinen Esstisch und ließ mich auf einem der Stühle Platz nehmen.
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Dann füllte er wortlos eine Schüssel mit Eintopf und schnitt mir auch noch eine dicke Scheibe frischen Brotes ab.

Ich bedankte mich und aß gierig, denn etwas so Gutes hatte ich noch nie gegessen. Kaum hatte ich die Schüssel geleert, füllte der Mann sie noch einmal auf und ich kratzte auch die zweite Portion aus bis auf den Grund. Ich fühlte, wie neue Kräfte in mir wuchsen und ich wieder stark wurde.

„Vielen Dank, ich war halb verhungert“, sagte ich.

Der Mann nickte nur. „Du brauchst neue Kleider“, stellte er fest, erhob sich und kam nach wenigen Minuten mit einem alten Hemd, einer Hose und sogar Schuhen wieder und stellte sie auf dem Tisch vor mir ab.

„Das kann ich nicht annehmen“, entschied ich. Besonders, weil ich wusste, dass ich bei meiner nächsten Transformation die Kleider wieder zerreißen würde. „Ihr kennt mich doch gar nicht, wieso helft ihr mir?“

„Du musst von weither kommen, dass du nicht weißt was uns die alten Geschichten über die Gastfreundschaft lehren“, sagte der Alte.

So weit war das Kloster nicht entfernt und ich hatte immer noch nicht die Berge verlassen, aber da ich nie außerhalb seiner Mauern gewesen war, wusste ich nichts über die Menschen, die hier wohnten. Nur gab es irgendwo hier meine Eltern. Also schüttelte ich nur den Kopf.

„Die Geschichten lehren uns, dass man jedem Reisenden, der Hilfe bedurft, helfen soll ohne je Fragen zu stellen. Bedenke, dass es ein Gott sein kann, der dich prüfen will, oder möglicherweise ein Drache.“

„Ein Drache?“ fragte ich erstaunt.

„Ja, es heißt, dass die Drachen in fremder Gestalt zu den Menschen kommen und denen, die ihnen Gutes tun, ebenfalls Gutes vergelten.“ Der Alte lachte. „Aber du siehst mir nicht aus, wie ein Drache.“

Ich wollte die freundlichen Leute nicht anlügen, aber brachte ich sie nicht in Gefahr, wenn ich ihnen die Wahrheit sagte?

„Ich möchte trotzdem etwas für deine Freundlichkeit tun“, wich ich aus. „Ich bin stark – nach der guten Suppe zumindest wieder. Ich kann euch helfen.“

Einen Moment musterte er mich skeptisch und fragte sich wohl, ob ich die Wahrheit sagte und mit meinen neunzehn Jahren etwas zum Leisten im Stande war, was ein Bergbauer nicht alleine konnte.
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In diesem Moment kam das Mädchen mit einem Eimer Wasser zur Tür herein und wurde wieder von einem Hustenanfall geschüttelt. Beinah hätte sie das ganze Wasser verschüttet und so sprang ich auf, nahm ihr den schweren Eimer ab und stellte ihn mühelos neben das Feuer.

„Was hat deine Tochter?“ fragte ich den Alten.

„Sie hat der Winterhusten gepackt und hält sie seit Monaten fest. Normalerweise steige ich für sie auf den Gipfel des Berges und hole dort Messanskräuter, die ihr Linderung verschaffen, aber das Schmelzwasser hat die Brücke über den Bach zerstört. Ich muss sie erst reparieren und ich bin zu alt um den Weg auf den Berg zu schaffen.“

„Lass die Brücke meine Sorge sein“, entschied ich, nahm mir das Bündel Kleider und verließ entschlossen die Hütte.

Nachdem ich mich angekleidet hatte, ließ ich mich von meinem feinen Gehör zum Bach führen, der eher ein reißender Gebirgsfluss war. Nirgends gab es eine Möglichkeit ihn zu überqueren, denn das Wasser schoss regelrecht über die spitzen Steine. Über das Gewässer führte eine alte Brücke, die zum größten Teil morsch geworden war, beinah keine der Planken konnte man noch betreten ohne in den Fluss zu stürzen. Auch die Pfähle im Bachbett waren zum großen Teil zu alt geworden.

Im Kloster hatte ich schon einige Reparaturen und Zimmermannsarbeiten machen müssen und so ging ich gestärkt an die Arbeit. Den ganzen Tag sägte und hämmerte ich bis auch das letzte Brett ausgetauscht oder verstärkt war. Die Brücke würde für lange Zeit halten. Die Arbeit hatte mir Spaß gemacht und so merkte ich kaum, wie der Tag dahinging.

Es war bereits Abend als ich das letzte Brett vernagelte, mir den Schweiß abwischte und befriedigt meine Arbeit begutachtete. Ein bellendes Husten ließ mich herumfahren und ich sah in die freundlichen Augen des Mädchens.

Sie hatte einen Korb in den Armen, aus dem ein Brot hervorschaute. „Vater meinte, du hättest vielleicht Hunger“, meinte sie.

Ich hatte schon wieder Hunger, aber dafür war es bereits zu spät, denn die Sonne berührte den Horizont. Den ganzen Tag hatte ich darüber nachgedacht, dass der Bau der Brücke nicht das einzige war, was ich für diese freundlichen Leute tun konnte.
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„Glaubst du an die Geschichten, die dein Vater über die Drachen in Menschengestalt erzählt hat?“ fragte ich sie.

Sie nickte. „Bist du denn ein Drache?“

„Ja, aber du brauchst keine Angst vor mir zu haben. Ich möchte dir etwas Gutes tun, weil du für mich etwas Gutes getan hast. Also fürchte dich nicht.“

Eilig streifte ich Kleidung und Schuhe ab, denn dieses Mal wollte ich sie nicht zerreißen, und begann meine Gestalt zu wandeln. Das Mädchen sah mich fasziniert an, zeigte aber kein bisschen Angst. Sie wich nur einen Schritt zurück als ich meine Transformation mit einem Brüllen abschloss, ich konnte es nicht zurückhalten, weil mich die Kraft so durchströmte, dass ich sie irgendwie herauslassen musste.

„Du bist wirklich ein Drache!“ freute sie sich und in ihren Augen strahlte etwas. „Wie die in den Geschichten.“

„Und wie in der Geschichte werde ich dir jetzt etwas Gutes tun. Warte bitte hier!“

Mit diesen Worten erhob ich mich und flog auf den nahen Berggipfel zu. Er war einer der höchsten, die es in diesem Gebirge gab und den alten Mann hätte der Aufstieg sicherlich Stunden, wenn nicht sogar Tage gebraucht. Fliegend erreichte ich den Gipfel in wenigen Minuten. Es war bereits ziemlich dunkel, aber mit meinen Drachenaugen sah ich die lebenden Pflanzen. Da meine Vorfahren frei in den Bergen gelebt hatten, kannte ich aus ihrem Wissen das Kraut, das dem Mädchen helfen würde und fand sogar noch einige andere, die wie ich wusste, den Husten des Mädchens für immer besiegen würden.

Glücklich ließ ich mich vom Wind wieder ins Tal an den Gebirgsbach tragen, wo inzwischen sowohl das Mädchen als auch ihr Vater auf mich warteten.

„Du hattest wirklich recht, Sabia, ein wahrhaftiger Drache“, staunte der Alte, als er mich sah.

Ich landete direkt vor ihm und überreichte ihm die Kräuter. „Weil du mir geholfen hast, will ich auch dir helfen“, sagte ich, weil es sich wie die alten Geschichten anhörte, die man uns auch im Kloster erzählt hatte. „Lindere den Husten deiner Tochter mit Messan, wie du es kennst, aber dann zerreibe diese und streiche ihr die Paste über Nacht auf die Brust, das sie die Dämpfe einatmen kann.
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Trockne die Blätter von dieser Pflanze und bereite daraus einen Tee und ich verspreche dir, dass der Husten sie nie wieder heimsuchen wird.“

Unschlüssig starrte der Alte erst mich und dann die Kräuter in seiner Hand an. Eine Träne lief über sein Gesicht. „Ich danke dir, mächtiger Drache.“

„Ich bin es, der sich bedanken muss“, gab ich zurück und wollte mich gerade in die Luft erheben, als das Mädchen mich aufhielt.

„Warte, Drache“, sagte sie und hielt mir einen aus Ziegenleder gefertigten Beutel hin.

„Was ist das?“ wunderte ich mich.

„Deine Kleider, falls du mal wieder ein Mensch werden willst, und ein wenig zu Essen… falls Drachen Essen brauchen.“

Ich musste lächeln und nahm den Beutel an mich. „Ja, wir brauchen Nahrung wie du. Werde gesund, Sabia!“

Mit etwas Wehmut im Herzen erhob ich mich und verließ die guten Menschen.



In den nächsten Tagen zehrte ihm von dem Proviant, den mir das Mädchen eingepackt hatte und erneuerte so meine Kräfte vollständig. Bei meiner panischen Flucht war ich in die falsche Richtung geflogen und hatte mich unbewusst noch weiter vom Kaiser entfernt. Also machte ich einen großen Bogen um das Kloster und mich bereit den langen Weg zum Kaiser in Angriff zu nehmen.

Ich hatte tatsächlich den völlig falschen Weg eingeschlagen, denn es kostete mich drei Nächte, um endlich das Gebirge zu verlassen. Das Reich des göttlichen Kaisers war riesig. Im Kloster hatte ich eine Schulbildung erhalten und auch Karten des Landes gesehen und das kollektive Wissen meiner Drachenvorfahren war ebenso in mir, aber die Realität übertraf bei Weitem meine Vorstellung. Ich folgte gewaltigen Strömen bis ich an ein Meer kam, von dem ich wusste, dass es riesig war und Xian, die Hauptstadt des Reiches am jenseitigen Ufer lag. Mein logischer Verstand fragte sich, ob ich dieses gewaltige Gewässer in einer Nacht überfliegen konnte ohne bei Sonnenaufgang – meiner Schwingen beraubt – sinnlos zu ertrinken. Ich überdachte die Möglichkeiten, aber ein Umfliegen des Meeres wäre ein Umweg mehrerer Wochen gewesen und auf einem Schiff hätte ich meine wahre Natur nicht lange verbergen können. Ich wusste, dass die kaiserlichen Drachen stets in riesigen Segelschiffen übergesetzt wurden, wenn der Göttliche nach ihnen rufen ließ.
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Warum nur lebten sie soweit weg vom Kaiser? Die Botschaften des Kaisers hatten uns stets mit Brieftauben erreicht, die drei Tage vom Hof bis zum Kloster gebraucht hatten. Dann wurden die Drachen eingesperrt und mit Wagen auf den Drachenschiffen des Kaisers über das Meer gebracht. Aber wahrscheinlich war es den Mönchen nur durch die große Entfernung möglich gewesen ihre Untaten so lange vor dem Herrscher geheim zu halten.

In unregelmäßigen Kreisen folgte ich eine Weile der Küstenlinie bis ich gegen Morgen in weiter Ferne eine Hafenstadt am Horizont ausmachte. Mein Wandel stand kurz bevor. So ließ ich mich langsam zu Boden sinken und landete auf einem kleinen, kiesigen Strand. Ich war dem Mädchen so dankbar für den Beutel, der zwar inzwischen kein bisschen Essen mehr, aber immerhin meine Kleider enthielt, sodass ich nicht nackt weitergehen musste. Also kehrte ich in meinen menschlichen Körper zurück und hatte gerade meine Kleider wieder angelegt, als mich jemand ansprach.

„Hast du ihn auch gesehen?“ fragte der Mann mich grußlos und suchte dabei mit seinen Augen den Himmel über dem Strand ab. Er war etwa zehn Jahre älter als mein menschliches Ich, wirkte aber durch seinen üppigen Bart noch reifer. Seine Kleidung machte zwar einen gebrauchten Eindruck, war aber gut gepflegt und die wenigen Löcher ordentlich gestopft. Auf seinem Kopf trug er einen breiten Reisehut, den er jetzt weit in den Nacken geschoben hatte um den ganzen Himmel mit Blicken abzusuchen.

„Wen habe ich gesehen?“ fragte ich, obwohl ich die Antwort erahnte.

„Von der Klippenstraße oben“, er zeigte auf die Klippen über uns, „hätte ich schwören können, ich hätte einen leibhaftigen Drachen gesehen, der genau hier runter gegangen ist.“

„Ich habe keinen Drachen gesehen“, antwortete ich wahrheitsgemäß, denn gesehen hatte ich mich ja nicht. Sein meiner Vereinigung log ich nicht mehr, auch wenn es mir in menschlicher Form möglich war, aber ab und an war es besser für die Menschen in meinem Umfeld, wenn ich ihnen nicht alles sagte. Es wäre nicht gut gewesen, den Mönchen eine zu deutliche Spur zu legen.

„Nicht?“ Der Mann schüttelte den Kopf, nahm seinen Strohhut ab und ließ sich in den Sand fallen.
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„Dann gibt es sehr große Vögel hier. Bist du auch unterwegs nach Balrob?“ fragte er und unterzog mich nun einer Musterung.

„Du meinst die Hafenstadt? Ich wusste nicht, dass es Balrob ist.“

„Perle am Weiten Meer“, sagte er lachend und begann aus seiner Tasche verschiedene Lebensmittel auszupacken. „Aber das dauert noch mindestens einen Tag, wenn nicht zwei bis dahin. Zeit für ein ordentliches Frühstück.“ Herzhaft biss er in ein dick belegtes Brot und schaute mich dabei auffordernd an.

Mit grummelndem Magen dachte ich an meinen leeren Beutel.

„Bitte, Freund, greif zu!“ forderte er mich nach einem weiteren Bissen auf und ich empfand keinen Stolz, dass ich dieses Angebot nicht angenommen hätte.

„Ich bin schon eine Weile unterwegs und mein Proviant ist alle“, gab ich zu, was absolut der Wahrheit entsprach. Durch die langen Flüge brauchte mein Drachenkörper immer sehr viel Nahrung.

„Verstehe“, nickte er. „Wo kommst du her, Freund?“

„Aus den Drenitschbergen.“

Er nickte. „Eine weite Reise für einen Alleinreisenden. Man braucht Mut dafür in den heutigen Zeiten und eine ganze Menge Glück.“

Obwohl Drachen als Glücksbringer angesehen wurden, verstand ich das Prinzip des Glücks nicht mehr. Die Menschen verließen sich auf etwas, das es nicht gab, und richteten ihr Leben sogar danach aus. Ich beschloss dem Mann eine Antwort schuldig zu bleiben.

„Mein Name ist Orin, aus dem schönen Xian“, stellte der Mann sich vor und lächelte dabei. Lächeln schien überhaupt eine seiner Lieblingsbeschäftigungen zu sein, denn er hörte kaum je damit auf. „Ich bin Tuchhändler auf dem Weg nach Balrob und von dort geht es nach hause.“

„Okuon“, stellte ich mich vor. Eine Weile hatte ich darüber nachgedacht, ob mein menschlicher Name noch mein Name war, aber Drachen hatten keine Namen und ich fühlte mich, als ob ich einen brauchen würde. Es gab schlechtere als meinen menschlichen.

„Und wo willst du hin?“ erkundigte sich Orin.

„Ich will nach Xian und wollte mich in der Hafenstadt nach dem besten Weg erkundigen.“ Aber vielleicht war das gar nicht mehr nötig.
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„Wie lange dauert die Überfahrt über das Meer nach Xian?“

„Eine direkte, zwei Tage“, schätzte Orin.

Meine Hoffnung in einer Nacht fliegend das andere Ufer zu erreichen schwanden dahin. Eigentlich hätte ich auch den Umweg um das Meer nehmen können, aber irgendetwas trieb mich möglichst schnell den Kaiser zu erreichen und dem sinnlosen Gefügigmachen der Drachen ein Ende zu setzen. Vielleicht würde ich in Balrob eine Möglichkeit finden.

„Ich finde es schön, dass wir den gleichen Weg haben. Diese Straße ist sehr unsicher. Man wird häufig überfallen. Deshalb bin ich auch schon so zeitig auf den Beinen, da schlafen die Strolche hoffentlich noch. Ich hatte gehofft einen Drachen zu finden, der mir Glück bringt und anscheinend hat er das, wo ich dich getroffen habe.“

„Mich?“

„Einen Wagen mit zwei Männern überfallen sie wohl nicht so schnell, wie einen alleinreisenden Tuchhändler. Ich würde mich sicherer fühlen, wenn ich nicht allein unterwegs wäre. Es sei denn, auch du bist ein Strauchdieb oder Meuchelmörder.“

„Nein, das bin ich nicht. Ich fürchte nur, dass es bessere Reisebegleitungen gibt als mich.“

„Im Moment ist keine hier. Sieh es als Bezahlung für dein Frühstück an“, er wartete mein Einverständnis ab und fügte hinzu als ich zögerte: „Und du musst nicht laufen, wenn ich dich auf dem Wagen mitnehme.“

Damit war für ihn alles beschlossene Sache. Wir beendeten unser Frühstück, stiegen zur Straße rauf und dann hieß er mich vorne auf seinem Wagen aufzusteigen. Dieser war sicher schon einige Jahre alt, denn die blaue Farbe blätterte überall ab. Gezogen wurde das ganze von einem stattlichen Ochsen, der mich misstrauisch ansah, als ich mich dem Wagen näherte. Wie schon die Hühner des Bergbauern schien er zu ahnen, dass ich anders war.

Schaukelnd setzte sich das Gefährt in Bewegung und rumpelte die Klippenstraße entlang. Orin war ein angenehmer Reisebegleiter, der nicht müde wurde mir von den Schönheiten dieser Welt zu erzählen, die er alle schon bereist hatte. Als fahrender Tuchhändler kam er viel herum und schien alles über die Stoffe zu wissen, die sich in schweren Ballen auf dem Wagen türmten.
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Gegen Nachmittag merkte ich aber doch die durchflogene Nacht. Ich hätte mich schonen und ruhen sollen, denn immer wieder nickte ich kurz ein.

„Anstrengende Nacht gehabt?“ fragte Orin mich und ließ mich aus einem kurzen Dämmerschlaf hochschrecken. Wir kamen auf der holprigen Straße nur langsam voran und ich begann zu befürchten, dass wir bis zum Abend nicht in Balrob sein würden.

Ich nickte nur auf Orins Frage und konnte ein Gähnen nicht unterdrücken.

„Ich habe nichts dagegen, wenn du dich hinten etwas hinlegst“, schlug er vor uns wies auf die Stoffballen.

Wieder nickte ich nur und erhob mich vorsichtig um in den hinteren Teil des Wagens zu klettern, als das ganze Gefährt plötzlich ruckte. Ich kämpfte um mein Gleichgewicht und schaffte es dank meiner Drachenkräfte mit einem eleganten Sprung neben dem Wagen auf die Füße zu kommen.

„Nicht das auch noch!“ hörte ich Orin fluchen und nun sah ich auch, was geschehen war. Mein Reisebegleiter hatte ein Schlagloch in der Straße übersehen und nun war das vordere Rad gebrochen. Der Wagen hatte bedenklich Schlagseite bekommen.

„Verflucht!“ Schimpfend kletterte Orin vom Kutschbock und besah sich den Schaden. „Das heißt wohl, dass wir Balrob nicht mehr pünktlich erreichen.“

Resignierend ging er zum hinteren Ende des Wagens und begann die Ballen abzuladen um das Gewicht für den Radwechsel zu senken. Er tat mir leid, wo er doch so freundlich zu mir gewesen war.

„Warte“, hielt ich ihn auf. „Lass die Ballen auf dem Wagen.“

„Dann bekommen wir ihn aber nicht hoch um das Rad zu wechseln.“

Ich dachte an die Geschichte des Bergbauern und entschied, dass ich auch Orin eine gute Tat schuldig war. „Ich möchte dir für deine Freundlichkeit danken. Geh hinunter zum Meer und zähle dort bis einhundert. Wenn du zurückkommst, habe ich das Rad gewechselt.“

Fragend sah er mich an und überlegte wohl, ob er es mit einem Irren zu tun hatte.

„Was hast du zu verlieren?“ fragte ich. „Ich werde dir schon nicht deine Stoffballen heimlich wegtragen.“

Auf dem Wagen lagen um die zweihundert Ballen. Es hätte selbst mich eine Stunde gekostet sie alle wegzutragen.

Kurz zögerte Orin noch, aber dann nickte er und ging kopfschüttelnd davon.
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Ich wartete einen Augenblick um sicher zu sein, dass er außer Sicht war und besah mir dann das gebrochene Rad. Als Drache wäre es mir sicher noch leichter gefallen, den Wagen samt Ladung anzuheben und das Rad auszutauschen, aber auch in Menschenform gelang es mir recht einfach. Kaum hatte ich ihn wieder hingestellt, kam Orin von Strand zurück.

„Unglaublich!“ entfuhr es ihm verblüfft als er das neue Rad an seinem Platz sah. „Einfach unglaublich. Bitte verrate mir, wie du das gemacht hast!“

„Das soll mein Geheimnis bleiben. Sieh es als Lohn für deine Freundlichkeit.“

Orin grinste, schüttelte dann noch einmal den Kopf. „Einfach unglaublich. So stark siehst du gar nicht aus. Komm, steig wieder auf! Ein paar Meilen schaffen wir noch bevor es dunkel wird.“

Trotz allem hatte die Reparatur Zeit gekostet und die Sonne näherte sich bereits dem Horizont. Ich würde Balrob also fliegend erreichen, aber es tat mir beinah leid, dass ich Orin verlassen musste. Seine Freundlichkeit hatte mich an diesem Tag zum ersten Mal seit langer Zeit das Leid der Drachen beinahe vergessen lassen.

„Willst du nicht mehr mit?“ fragte Orin verdutzt als er sah, dass ich keine Anstalten machte auf den Bock zu klettern.

„Nein, ich werde auf einem anderen Weg nach Balrob kommen. Ich danke dir für alles.“ Damit wandte ich mich um und folgte der Straße ein paar Meter, wo sie sich gabelte. Ein schmalerer Weg verließ hier die Klippenstraße und führte wohl in eins der kleinen Fischerdörfer, die an der Küste lagen. Hinter mir hörte ich Orins Wagen anfahren und dann das behäbige Stampfen der Ochsenhufe.

Ich war noch nicht weit gekommen als ich merkte, dass es Zeit wurde. Schnell entledigte ich mich meiner Kleider und verstaute sie in meinem Bündel bevor die Verwandlung einsetzte. Meine Drachensinne kehrten gerade zu mir zurück, als ich merkte, dass ich nicht mehr allein war. Aus dem nahen Unterholz kamen laut johlend vier Männer hervor. Alle hatten bärtige Gesichter und waren ungewaschen, ihre Kleidung bestand nur noch aus Lumpen und sie stanken nach Rum und menschlichen Ausdünstungen.

„Sieh mal an, das Bürschchen hat die Kleider schon für uns abgelegt. Gib sie mir!“ forderte mich der auf, der mir am nächsten war.
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Ein selbstgebauter Speer ruhte in seiner Hand und an der Spitze war eine Flüssigkeit aufgetragen, die verdächtig nach Gift roch. Man konnte hören, dass er betrunken war, aber dennoch hielt er seine Waffe erstaunlich gerade auf mich gerichtet. Auch die anderen waren ähnlich bewaffnet.

„Ihr solltet besser gehen. Ich warne euch“, presste ich hervor, denn ich versuchte meine Transformation zurückzuhalten, was wie der Versuch war Ebbe und Flut aufhalten zu wollen. Schweiß trat mir auf die Stirn.

„Hört ihr das, er warnt uns“, sagte der Mann wieder und begann zu lachen. Auch die anderen fielen ein.

Verdenken konnte ich es ihm nicht, standen sie doch in Überzahl einem nackten Mann ohne Waffen gegenüber. Aber in diesem Moment blieb ihm das Lachen im Halse stecken, denn der sichtbare Teil meiner Formwandlung begann. Ich konnte es nicht länger aufhalten.

Schon als die Männer bemerkten, dass sich meine Haut zu verfärben begann, wichen sie zurück und starrten mich ungläubig mit offenen Mündern an.

„Ein Dämon?“ presste einer der Männer hervor und ich konnte die Panik in seiner Stimme hören. Leider reichte diese nackte Angst aus, um Menschen unüberlegte Dinge tun zu lassen und im Falle dieses Mannes war es der Speer, den er nun nach mir schleuderte. Eine halbe Minute später hätte die Feuersteinspitze meinem dichten Schuppenpanzer nichts anhaben können, aber in diesem Moment war ich noch zu sehr Mensch und konnte während der Transformation nicht so reagieren, wie ich es sonst gekonnt hätte. Der Speer bohrte sich in meine Haut und blieb in meiner Seite stecken. Brennender Schmerz ging von der Wunde aus und verebbte auch nicht während ich weiter in meinen Drachenkörper zurückkehrte.

Wütend riss ich mit meiner Krallenhand den Speer heraus und zerbrach ihn. Keiner der Männer hatte sich mehr bewegt, aber nun hörten sie den markerschütternden Schrei, mit dem ich meine Verwandlung abschloss und ergriffen die Flucht. Ich schickte ihnen einen Flammenstoß hinterher, aber ich merkte bereits, dass etwas mit mir nicht stimmte.

Meine Beine gaben unter mir nach und ich fror als ich auf dem steinigen Boden zusammenbrach. Es fiel mir schwer meine Augen offen zu halten und ich wollte schlafen, hier liegen und einfach nur schlafen.
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Im Dämmerzustand registrierte ich, dass ich nicht allein war und nahm einen bekannten Geruch wahr. Als ich das letzte Mal kurz die Augen öffnete, stand Orin vor mir mit schreckensbleichem Gesicht.

„Ich wusste doch, dass ich einen Drachen gesehen habe“, flüsterte er nicht lächelnd.
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Punktestand der Geschichte:   394
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Kommentare zur Story:

  Sehr spannend. Und wie geht`s weiter?  
   Evi Apfel  -  30.10.09 21:09

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  Hi auch mir hat es wieder sehr gut gefallen, freu mich auf Kapitel 5? :D  
   Michael Drake  -  27.10.09 22:36

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  Womöglich lohnt es sich doch, manchmal zu helfen. Vielleicht wird Orion das Drachenwesen retten wollen? Ich kann auch diesmal nur sagen: Schöner Text.  
   Jochen  -  27.10.09 22:31

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  Mächtig Spannend. Hat mir wieder sehr gefallen, deine Drachengeschichte. Du beschreibst alles so wunderschön bildhaft, dass ich geistig mit deinem Drachen mitfliegen und all diese Abenteuer miterleben konnte. Wirklich ein toller Roman.  
   doska  -  27.10.09 21:23

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Interessante Kommentare

Kommentar von "weltuntergang" zu "Abschied nehmen"

Schweres und schönes Gedicht. Gefällt mir sehr total. Ganz liebe Grüße

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