Nachdenkliches · Kurzgeschichten

Von:    Chrstian Hoja      Mehr vom Autor?

Erstveröffentlichung: 12. Dezember 2007
Bei Webstories eingestellt: 12. Dezember 2007
Anzahl gesehen: 2438
Seiten: 2

„Sieh mich an, Remar. Lass mich raus in den Regen. Remar? Hörst du mich?“

Remar nickte. Sein zerschlissenes Gesicht entspannte sich ein wenig, die geschwollenen Lider lösten sich aus ihrer Verankerung, seine fahlen, nur millimeterbreiten Lippen zuckten.

„Lass mich jetzt gehen. Du musst.“

„Nein“, wisperte er.

„Es ist in Ordnung“, sagte sie lindernd. „Lass mich nur los. Wie etwas, dass du nicht mehr brauchst, Remar.“

„Aber ich brauche dich. Ich würde nie wieder etwas brauchen, wenn du nur bleiben würdest. Oder ich wüsste, dass du zu mir zurückkommst.“

„Das kann ich nicht. Du wirst mir folgen, eines Tages. Sie werden dich retten, Remar. Du wirst lernen, dass es ohne mich geht. Das du ohne mich gehst.“

„Warum retten sie nicht uns beide?“

„Sie werden es nicht schaffen.“

„Wo sind sie?“

„Sie werden kommen, Remar. Später. Jetzt noch nicht. Und sie werden dich nur retten können, wenn du mich los gelassen hast.“

Remars Schädel barst vor Schmerzen, als er sie fester an sich drückte, so fest er konnte drückte, und sich dafür hasste, dass es nicht fest genug sein würde. Er presste ihr Kinn gegen seine Schulter, als wolle er sie darin versenken, ihre Worte ersticken. Sie widerstand ihm mit einer Kraft, von der er nicht wusste, woher sie sie nahm, reckte ihren Kopf in die Höhe und ihren Mund an sein Ohr, infizierte seinen Gehörgang mit einem Parasit der Gewissheit, nein, sie selbst war diese Gewissheit.

„Du musst mich einfach los lassen, Remar.“

Er flocht seine Finger zwischen ihr feuchtes Haar. „Nein“, drang es durch seine einander zermalmenden Zähne. „Nein. Nein.“ Er fühlte eine Wunde an ihrem Hinterkopf und lockerte seinen Griff, sich fragend, ob sie diesen einen kleinen Schmerzimpuls weniger überhaupt zu bemerken imstande war. Er wollte sich nicht vorstellen, dass sie es nicht war. Sie wäre verloren. Fort, noch bevor er es zulassen konnte. „Nein.“

Ihre Lippen küssten sein Ohrläppchen. Die zarte Berührung brannte, als sei sie Salz auf rohem Fleisch.

„Ich zwinge dich nicht, Remar, und ich verlange es nicht von dir. Ich bitte dich. Dein Schmerz wird später nur größer sein, tust du es nicht. Sie werden unternehmen, was nötig ist, um dich zu retten.
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Und hast du mich bis dahin nicht losgelassen wird es später unerträglich für dich werden, wenn sie dir sagen, was sie tun mussten, um dich zu retten. Remar. Lass – mich - los.“

„Nein. Ich werde uns beide loslassen.“

„Das kannst du nicht. Es muss einen Grund geben, dass du mich loslässt. Dieser Grund ist dein Leben. Dein Überleben.“

Remar riss die Hand von ihrem Kopf los und seine geballte Faust schlug gegen die geborstenen Reste der Fensterscheibe, Splitter prasselten auf sie nieder und er hielt den Schrei, der seine Lunge verschnürt hatte, nicht länger zurück. Er platzte aus ihm und das Wrack vibrierte so heftig, dass Remar ahnte, dass es sein letztes, sinnloses Aufbäumen war. „NEIN.“

Sie wartete. Bis die Vibration abgeklungen, sein letzter Widerstand versiegt war. „Du wirst lernen, Remar. Sie werden dir helfen. Sie werden dir helfen, mich durch etwas anderes zu ersetzen. Mit dem du deinen Weg weitergehen, ihn vollenden kannst. Versteh doch, Remar. Du wirst nur gehen, wenn du mich gehen lässt.“

Remar zitterte. Presste sich die Handballen gegen die Schläfen. Gönnte sich nur einen Augenblick des Zurückschauens, nicht mehr als einen Tropfen der Erinnerung. Um dann nach vorne zu sehen. Ja, dachte er. Endlich. Nichts weiter. Keinen Gedanken sonst. Und plötzlich wurde sein Körper still, lag ruhig und geborgen. Vollendete es. Und als Remar losließ, sie aus seinen Fingern glitt, in die kalte, verregnete Nacht hinausstürzte, aus der sie aufgetaucht war und mit sich nahm, von was er sich trennen musste, hörte er von weitem eine Stimme rufen.

„Hallo? Ist dort noch jemand am Leben?“

„Ja“, sagte Remar.



„Herr Remar Besquist?“

„Ja.“

„Mein Name ist Glockkamm. Ich bin Chirurg. Sie wurden gestern Nacht aus einem abgestürzten Autowrack geborgen. Sie standen unter schwerem Schock. Wir konnten sie stabilisieren. Aber leider… mussten wir ihnen schon am Unfallort ihr linkes Bein abnehmen. Es tut mir Leid. Sie wären sonst dort gestorben. Das Bein war zerquetscht. Sie hätten nie wieder damit gehen können.“

Remar schlug die Augen auf. „Ja. Ich weiß“, sagte er. „Ich hatte längst losgelassen.“ Er lächelte schwach.
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auml;chelte schwach.
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Punktestand der Geschichte:   172
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Kommentare zur Story:

  Gute Kurzgeschichte mit einem verblüffenden Ende.  
   doska  -  06.02.09 18:27

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  @ nati:
vielen Dank für den lobenden Kommentar.
Gruß
Christian  
   Chrstian Hoja  -  06.03.08 21:04

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  fantastisch...=)
und wundervolle Schreibweise...=)  
   nati  -  06.03.08 16:28

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  Hallo Sabine, danke für den netten Kommentar und die Bewertung.
lg
Christian  
Chrstian Hoja  -  25.01.08 21:20

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  Hallo, eine wirklich gute Kurzgeschichte. Sehr ergreifend und nachdenklich. Mirgefällt der Hintergrund sehr. Darauf muss man ersteinmal kommen. Auch die Momentaufnahmen wirken sehr lebensnah. Rundum gelungen. Lg Sabine  
Sabine Müller  -  25.01.08 12:51

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  @ darkangel:

ach so, das meinst du .... ging nicht ganz daraus hervor, weil du über die beine schriebst :-)

lg  
Nathanahel Compte de Lampeé  -  02.01.08 22:19

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  @ nathan: zitiere: der text hat mich sehr an eine begebenheit aus meinem leben erinnert ...  
darkangel  -  02.01.08 22:02

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  @ darkangel :

... also mir ist es nicht klar, wie dein kommentar auf den meinen bezogen sein soll ???????
bin gerade etwas verwirrt ! .....

lg
nathan  
Nathanahel Compte de Lampeé  -  02.01.08 21:51

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  Ach sooooo, alles klar!! Danke für den Hinweis, da wäre ich jetzt nicht drauf gekommen!  
Chrstian Hoja  -  02.01.08 21:27

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  war auf nathan bezogenXD  
darkangel  -  02.01.08 21:13

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  Nö, wie kommst du da drauf?? Das Bein is schon ab, die "Gewissheit" hat es quasi "vor" der eigentlichen Amputation mitgenommen. Hab ich in vorigem Kommentar vielleicht nicht richtig erklärt, sorry!!  
Chrstian Hoja  -  02.01.08 19:56

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  oooh noch beide beine dran?

--- ich weiß, ein schrecklicher humor... zzz  
darkangel  -  02.01.08 19:50

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  ... hat mir gut gefallen .... anfangs tat ich mich etwas schwer mit dem lesen, aber je weiter ich las, desto "gefesselter" war ich !

nun, zwei sätze finde ich nicht ganz so geglückt, aber das liegt wahrscheinlich im auge des betrachters und sie sind dir wohl recht wichtig in ihrem kontext, also will ich nichts weiter dazu sagen !

alles in allem ein großes "PLUS" ....
der text hat mich sehr an eine begebenheit aus meinem leben erinnert ...

lieben gruß
nathan  
Nathanahel Compte de Lampeé  -  28.12.07 03:06

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  Hallo und danke für die Kommentare! Das mit dem "sie" erklärt sich wie folgt: "sie" ist "die Gewissheit", die Remar klar macht, was passieren wird und ihn dahin führt, es zu akzeptieren. Hab lange überlegt, ob man das so schreiben kann und ob das Ende deutlich genug ist, aber es muss ja auch nicht immer alles gleich auf den ersten Blick einleuchten ;-)
lg
Christian  
Chrstian Hoja  -  27.12.07 19:34

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  öhm ich habe mir die gleiche frage gestellt... aber warum sollte ein bein nicht weiblich sein:D

gefällt mir wie meinen vorgängern wirklich gut! ausdrucksstark und lebendig geschrieben, mit einem überraschenden ende^^
lg darkangel  
darkangel  -  27.12.07 15:46

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  ach, du liebe zeit, das ist ja eine doppelt traurige geschichte, gut geschrieben, wie immer.
gruß von  
rosmarin  -  12.12.07 18:15

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  Ja, da kann ich Shannon nur zustimmen. Man wird von Deinen Worten eingefangen und muss die Geschichte lesen, bis sie zu Ende ist. Und würde eigentlich gerne weiterlesen.
Gefällt mir sehr gut-
LG
Christa  
CC Huber  -  12.12.07 17:23

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  Hallo Christian,

wieder eine sehr intensive und ausdruckstarke Story von dir.
Herzlichen Dank für das Lesevergnügen.
Allerdings frage ich mich jetzt: Warum "sie"?

Liebe Grüße,

Shan  
Shannon O'Hara  -  12.12.07 13:32

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