Nachdenkliches · Kurzgeschichten

Von:    Livoliv      Mehr vom Autor?

Erstveröffentlichung: 1. März 2007
Bei Webstories eingestellt: 1. März 2007
Anzahl gesehen: 2389
Seiten: 3

Da war ein Kreis im Hof. Ein großer, runder, dicker Kreis, ganz gleichmäßig mit weißer Kreide auf das Pflaster gemalt. „Eigentlich“ dachte die Frau, „viel zu gleichmäßig, als dass Kinderhände ihn gemalt haben können.“ Ein kleines Mädchen mit schlampig gebundenen, blonden Rattenschwänzen und in schmutzigen Jeans drehte sich in der Mitte dieses Kreises, den Kopf ins Genick gelegt, die Augen gen Himmel gewandt. Es schien seines Spiels nicht müde zu werden. Unaufhörlich rotierte es mit ausgestreckten Armen, obwohl es bereits wankte. Die Frau hinter dem Fenster bekam Angst, es könne stürzen.



Abrupt wandte sie den Kopf vom Fenster ab. Im Inneren der Wohnung war es dunkel und schmutzig. „Es ist Zeit.“ sagte sie langsam in die Dunkelheit hinein, „Du solltest dich auf den Weg machen!“ Eine Weile herrschte Schweigen, dann wie Donnergrollen antwortete eine brüchige Männerstimme. „Muss ich mir jetzt von einem Weib sagen lassen, was ich zu tun habe?!“ „Aber ich wollte...“ Sie verstummte. „Wie ein Radio, dem plötzlich der Saft ausgeht“ dachte er. „Was wolltest du?!“ Er knallte die Bierflasche auf den Tisch und erhob sich, ein riesiger grauer Schatten neben dem sie im hellen Rechteck des Fensters noch kleiner und zerbrechlicher wirkte. Ganz nah brachte er seinen großen, viereckigen Schädel vor ihr Gesicht. Mit einer seiner Pranken hob er ihr Kinn, wie um sie zu zwingen ihm in die Augen zu sehen. Aber sie blickte zu Boden und wartete. Diesmal schlug er sie nicht. Vielleicht war das noch schlimmer, als wenn er es getan hätte. Dann, plötzlich brach er in wildes Gelächter aus. Im schwachen Licht, das durch die verdreckten Scheiben ins Zimmer drang, konnte sie sehen wie sein klobiger Körper unter dem Lachanfall erbebte, ähnlich einem Vulkan beim Ausbruch. Fasziniert von diesem Schauspiel konnte sie nichts anderes, als ihn anstarren. Sein Körper zitterte immer noch in beinahe hysterischem Gelächter. „Du hast wirklich Angst, meine kleine Frau!“ sagte er, „Du fürchtest dich wirklich zu Tode vor Papa!“ Mit einem Mal umarmte er sie. Wie ein großer Schraubstock umschlossen sie seine Arme, während sie einfach da stand, stocksteif und zerbrechlich wie ein junges Bäumchen. Dann ließ er sie los. „Ich gehe!“ raunte er, als er sich die Bierflasche griff und den Raum verließ.
Seite 1 von 3       
Die Tür fiel lautstark ins Schloss. Ganz vorsichtig atmete die Frau auf. Sie lauschte auf seine schwerfälligen Schritte, die sich die Treppe hinunter entfernten, immer leiser werdend bis kein Geräusch mehr zu hören war.



Da wandte sie ihren Kopf wieder dem Fenster zu, unten verließ er gerade das Haus. Ohne sie auf ihrem Beobachtungsposten zu beachten, näherte er sich in der für ihn so typischen, trägen Gangart dem Torbogen. Er kickte einen großen Stein mit dem Fuß weg. Der Stein rollte und hüpfte über das Pflaster wie etwas Lebendiges, um schließlich im jenem Kreidekreis liegen zu bleiben, in dem sich noch immer unermüdlich das kleine Mädchen drehte. Der Mann nahm keine Notiz davon. Ohne sich um Mädchen oder Kreidekreis zu kümmern, tappte er weiter. „Von Weitem“ dachte die Frau, „sieht er immer noch gut aus.“ Vage erinnerte sie sich daran, ihn einmal geliebt zu haben.“



Ehe sie weiter denken konnte, verließ sie ihren Fensterplatz und begann, die leeren Bierflaschen und Zigarettenstummeln einzusammeln. Wenigstens hatte er gestern seine Freunde nicht mitgebracht. Sie hatte schon vor langer Zeit aufgehört sich zu fragen, wie das weitergehen sollte: Jede Nacht im Wirtshaus und danach zu Hause weitersaufen. Sie hatte aufgehört sich zu fragen, wie lange er diesmal bei seiner neuen Baufirma arbeiten würde, wie lange er, nachdem sie ihn gefeuert hatten, auch die Tage zu Hause verbringen würde, bevor er wieder einen neuen Job fand. Hatte aufgehört sich zu fragen, wie lange er sie weiter schlagen würde, wie oft sie noch spät Nachts aus der Wohnung flüchten würde. Und sie hatte aufgehört sich zu fragen, warum. Mit einem Lappen wischte sie den Tisch ab. Eine sinnlose Arbeit, in wenigen Stunden würde er zurück sein, um wieder Asche und Bier darauf zu verteilen. Sie trug die Kiste mit den leeren Bierflaschen in die schmuddelige, kleine Küche. Ihr Blick fiel zufällig aus dem Fenster. Sie sah genauer hin, langsam war sie beunruhigt. Das konnte doch kein Mensch aushalten, sich so lange im Kreis zu drehen. Die Arme des Mädchens waren bereits erschlafft. So als würden sie nicht dazugehören, hingen sie leblos von den Schultern. Krampfhaft richtete es seinen Blick immer noch dem Himmel zu. Es wankte und taumelte jetzt stärker als zuvor.
Seite 2 von 3       
Wenn es nicht bald aufhörte, würde es unweigerlich fallen. Sie sorgte sich um das Mädchen, das sich da wie in einem Trancezustand immer wieder um sich selbst drehte.



In einer heftigen Bewegung stellte sie die Bierkiste ab, hätte sie beinah fallen lassen. Dann rannte sie aus der Wohnung, die Stiegen hinunter in den Hof. Als sie vor dem Kreidekreis stand, wusste sie nicht, was sie tun sollte. Das Mädchen schien sie nicht zu bemerken. Unverändert wirbelten die Rattenschwänze im Kreis. „Hey, du!“ schrie sie. Keine Reaktion. „Du wirst fallen!“ Zuerst schien es, als hätte das Mädchen sie nicht gehört. Aber fast unmerklich wurde es langsamer. „Ist meine Sache!“ Das Stimmchen war laut, die Augen blieben gen Himmel gerichtet.„So bleib doch einmal stehen! Ich habe Angst, du tust dir weh!“ „Wenn ich stehen bleibe, fall ich um!“ „Willst du dich ewig weiterdrehen?!“ Das Mädchen antwortet nicht, sondern fuhr fort mit seinem seltsamen Spiel. Die Frau wollte schon hingreifen um es zu stoppen, aber dann fiel ihr ein, dass das sinnlos gewesen wäre. Das Kind musste von selbst aufhören. Mit einem Mal hielt es an. Es wankte und setzte sich schließlich unfreiwillig in die Mitte seines Kreises. „Man muss sich nur trauen“ sagte das Mädchen, „dann ist es gar nicht so schlimm!“ Da hast du Recht.“ entgegnete die Frau, „Man muss sich nur trauen!“ „Bin immer noch schwindlig.“ damit richtete das Mädchen sich auf. Es wischte mit der kleinen Hand eine Öffnung in den Kreidekreis. Durch dieses Tor verließ es seinen Spielplatz. Nun suchte es sich ein Plätzchen im Gras unter dem einzigen Baum, um sich dort nieder zu lassen. „Machs gut!“ sagte die Frau und ging zurück ins Stiegenhaus.



Eine viertel Stunde später sah man sie wieder aus der Haustüre treten. Sie streckte sich im Sonnenlicht. Dann ging sie mit ihrem Koffer zielstrebig auf den Torbogen zu. Das Mädchen saß noch immer im Gras unter dem einzigen großen Baum im Hof. Es beobachtete die Spatzen in dessen Ästen und das Licht, das durch die Blätter fiel.



„Machs gut!“ sagte die Frau nochmals und schritt unter dem Torbogen hindurch, hinaus.
Seite 3 von 3       
Punktestand der Geschichte:   7
Dir hat die Geschichte gefallen? Unterstütze diese Story auf Webstories:      Wozu?
  Weitere Optionen stehen dir hier als angemeldeter Benutzer zur Verfügung.
Ich möchte diese Geschichte auf anderen Netzwerken bekannt machen (Social Bookmark's):
      Was ist das alles?

Kommentare zur Story:

  sehr schön!  
pip  -  27.06.07 18:07

   Zustimmungen: 5     Zustimmen

  Hallo, eine schöne Geschichte. Sie liest sich gut und hat eine tolle Aussage. Gefällt mir. Lg Sabine  
Sabine Müller  -  06.04.07 17:59

   Zustimmungen: 5     Zustimmen

  Danke, Nicolas,
(leider gibts kein Rot-werd-Icon)
Bedeutet mir viel, deine Rezension, zumal sie von einer Jury kommt, die offenbar keine Helge Schneiders oder Guido Horns entsendet.
Mal sehen wo Austria sich revanchieren kann...  
Livoliv  -  05.03.07 13:01

   Zustimmungen: 0     Zustimmen

  Ein ineinander verwobenes Gleichnis, sprachlich souverän vorgetragen und inhaltlich originell. beim grand prix gäb's 12, hier aber 'nur' 5 punkte aus germany...
lg  
Nicolas van Bruenen  -  03.03.07 20:34

   Zustimmungen: 5     Zustimmen

  Meine Premiere auf Webstories:
Diese Kurzgeschichte ist 13 Jahre alt... war Teil meiner Deutsch Matura. Und die Professorin hats mir damals kopiert mit der Anmerkung ich soll sie wo publizieren. Was hiermit geschehen ist. (Kleine Änderungen hab ich dann doch vorgenommen, nachdem meine Word-Rechtschreibhilfe beim Eintippen über das Wort "Kassettenrecorder" gestolpert ist.)  
Livoliv  -  03.03.07 15:05

   Zustimmungen: 0     Zustimmen

Stories finden

   Hörbücher  

   Stichworte suchen:

Freunde Online

Leider noch in Arbeit.

Hier siehst du demnächst, wenn Freunde von dir Online sind.

Interessante Kommentare

Kommentar von "Homo Faber" zu "Der Zug"

Hallo, ein schöner text, du stellst deine gedanken gut dar, trifft genau meinen geschmack. lg Holger

Zur Story  

Aktuell gelesen

  In Arbeit

Funktion zur Zeit noch inaktiv. Über ein Konzept zur sicheren und möglichst Bandbreite schonenden Speicherung von aktuell gelesenen Geschichten und Bewertungen, etc. machen die Entwickler sich zur Zeit noch Gedanken.

Tag Cloud

  In Arbeit

Funktion zur Zeit noch inaktiv. In der Tag Cloud wollen wir verschiedene Suchbegriffe, Kategorien und ähnliches vereinen, die euch dann direkt auf eine Geschichte Rubrik, etc. von Webstories weiterleiten.

Dein Webstories

Noch nicht registriert?

Jetzt Registrieren  

Webstories zu Gast

Du kannst unsere Profile bei Google+ und Facebook bewerten:

Letzte Kommentare

Kommentar von "rosmarin" zu "Kalt und heiß"

Danke, das wünsche ich Dir auch lieber Michael. Gruß von

Zur Story  

Letzte Forenbeiträge

Beitrag von "Tlonk" im Thread "Account nicht erreichbar"

Das hat sich inzwischen erledigt. Trotzdem noch nachträglich ein Danke für die Info. Liebe Grü�e

Zum Beitrag