Plötzlich kamen alle wieder - Teil 12   8

Romane/Serien · Nachdenkliches

Von:    Homo Faber      Mehr vom Autor?

Erstveröffentlichung: 19. Januar 2007
Bei Webstories eingestellt: 19. Januar 2007
Anzahl gesehen: 2133
Seiten: 12

Diese Story ist Teil einer Reihe.

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   Teil einer Reihe


Ein "Klappentext", ein Inhaltsverzeichnis mit Verknüpfungen zu allen Einzelteilen, sowie weitere interessante Informationen zur Reihe befinden sich in der "Inhaltsangabe / Kapitel-Übersicht":

  Inhaltsangabe / Kapitel-Übersicht      Was ist das?


Inzwischen war eine Woche vergangen. Von meinem Vater hatte ich noch nichts wieder gehört, und ich wollte mich von meiner Seite aus auch noch nicht bei ihm melden, erst mal war er dran. Von Kirsten hatte ich auch noch nichts gehört. Ich fragte mich, ob es etwas mit dem „Vorfall“ zwischen uns zu tun hatte. Ich hätte mich ja gern bei ihr gemeldet, aber ich hatte auch ein wenig Angst davor, vielleicht hatte sie es sich durch den Kopf gehen lassen und wollte doch nichts mehr mit mir zu tun haben. Aber ich bekam überraschender Weise einen Brief von Nancy. Damit hatte ich gar nicht mehr gerechnet und auch gar nicht mehr daran gedacht. Im ersten Moment als ich den Brief sah, dachte ich, er sei von Kathy. Für einen kurzen Moment freute ich mich, bis ich nach ein paar Sekunden am Absender erkannte, dass er nicht von ihr kam. Eigentlich hätte ich gar nicht so enttäuscht sein müssen, ich wusste ja schließlich von Anfang an, dass sie sich nie wieder melden würde, trotzdem war die Enttäuschung für mich jetzt um so größer, nachdem ich für einen Moment wieder einen Funken Hoffnung bekommen hatte und dieser Funken nach ein paar Sekunden wieder weg war. Ich fand es viel schlimmer Hoffnung zu haben und sie dann wieder zu verlieren, als von Anfang an keine Hoffnung zu haben. Aber dennoch freute ich mich, von Nancy zu hören, so dass die Enttäuschung dadurch gemildert wurde. Sie schrieb, dass sie meine Nachricht erhalten habe, und sich sehr darüber gefreut habe. Sie sei wirklich sehr wütend gewesen, dass ich sie an dem Abend sitzen gelassen hatte, weil sie dachte, ich hätte es mit Absicht getan, sie nehme meine Entschuldigung aber an. Sie sei sehr überrascht von meinem Brief gewesen und sehr beeindruckt, dass ich mir die Mühe gemacht habe, mich zu entschuldigen. Andere Menschen hätten so etwas mit Sicherheit nicht gemacht. Dass mit der Rechnung sei schon okay, ich brauchte mir darüber keine Gedanken zu machen. Ich war sehr froh darüber, dass die Sache geregelt war, nicht weil ich ihr das Geld nicht zurückgeben musste, das hätte ich gern getan, sondern darüber, dass sie meine Entschuldigung akzeptierte und ich kein schlechtes Gewissen mehr haben musste.

Ein paar Tage später meldete sich Kirsten. Sie fragte, wie es mir gehe. Ich sagte, dass ich mich eigentlich auch hätte melden wollen, aber mich nicht richtig traute.
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Sie gab zu, dass sie sich auch ein wenig unwohl gefühlt hatte und auch erst einmal abwarten wollte. Ich war beruhigt.

Dann erzählte sie mir, dass sie ihren Exfreund wieder getroffen hatte, sich mit ihm ausgesprochen hatte und sie beide versuchen wollten, von vorn anzufangen. Ich tat, als freute ich mich für sie und gratulierte ihr, aber in Wirklichkeit war es eine erschreckende Nachricht für mich. Nicht weil ich mich etwa doch in sie verliebt hatte, das hatte ich keineswegs, aber die Tatsache, dass wir Sex hatten, könnte für eine Freundschaft hindernd sein und ich hatte Angst, dass sie mir aus dem Weg gehen würde. Sie sagte davon zwar nichts, bot mir sogar an, dass ich beim nächsten Mal gern wieder mitkommen kann, wenn sie mit ihren Freunden ausging, aber die Gelegenheit mit ihr allein etwas zu unternehmen würde sich dann wohl nicht mehr bieten. Und wenn ich mal jemanden zum reden brauchte, könnte ich mich auch nicht mehr einfach so bei ihr melden, denn wenn ihr Freund dann da wäre, würde ich ja nur stören.

Ich behielt das, was ich dachte aber für mich. Ich sagte, dass ich gern mitkäme. Aber große Lust dazu hatte ich nun auch nicht mehr. Ich wäre nun völlig verkehrt am Platz.

Nun hatte ich zwar eine Bekannte gefunden, nur hatte ich jetzt nichts mehr davon. Was machte es schon für einen Sinn, wenn ich mitginge, aber mich total fehl am Platz fühlte. Ich beschloss mich von meiner Seite nicht bei ihr zu melden, sondern zu warten, bis sie sich meldete, und wahrscheinlich würde sie mich bald sowieso vergessen. Ich war also wieder einsam, genauso wie ich es vorher auch war.

Einen Tag danach meldete sich mein Vater. Er fragte, ob ich Zeit und Lust hätte, ihn in den nächsten Tagen zu besuchen oder so mit ihm zu treffen. Offensichtlich war er wirklich bemüht und interessiert unser Verhältnis wieder herzustellen. Da ich abends nichts zu tun hatte und er auch nicht, fuhr ich gleich zu ihm hin.

Westerfilde, wo er wohnte, gehörte zu den schöneren Bezirken in Dortmund, zumindest empfand ich so. Die Häuser in der Straße, in der er wohnte, sahen sehr ordentlich aus. Er lebte in einer Mietwohnung. Sie war nett eingerichtet und sehr gepflegt, er hatte sich wirklich wieder im Griff. Aber das musste er ja auch, wenn er beruflich selbständig war. Aber es war immer noch so, als sei er eine fremde Person.
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Es gab selbst gemachte Pizza. Sie schmeckte nicht schlecht, genau genommen sogar gut. Ich konnte mich nicht erinnern, dass er früher gekocht hatte, außer fertige Malzeiten, die nur noch aufgewärmt werden mussten.

„Das Kochen hast du ja richtig gut gelernt“, lobte ich ihn. „Früher konntest du das nicht.“

„Ja, ich hab in den letzten Jahren vieles dazu gelernt. Ich musste es auch. Waschen und Bügeln konnte ich früher auch nicht.“

„Wie hast du es eigentlich damals, als du, na ja, dein Leben nicht so ganz im Griff hattest, gemacht?“, versuchte ich es dezent zu formulieren, ich wollte Begriffe wie Alkohol und Säufer vermeiden.

„Du meinst als ich Alkoholiker war und mich gehen lassen habe? Du kannst es ruhig aussprechen, die Phase ist ja jetzt vorbei“, erwiderte er. Dann fuhr er fort. „Tja, ich hab damals nur aus der Pommesbude und von Fertigmenus gelebt. Wie die Wachmaschine funktioniert, habe ich durch Lesen herausgefunden. Gebügelt hab ich nicht richtig. Bin dann meisten wie der letzte Penner herum gelaufen. Es war wirklich besser für dich, dass du mich so nicht gesehen hast.“ Er lachte ein wenig über sich selbst.

„Und wie und wann bist du da wieder heraus gekommen?“, fragte ich.

„ Fast zehn Jahre hab ich mich so gehen lassen. Arbeit hatte ich natürlich keine, nur hier und da mal einen Hilfsjob. Hab sonst nur von Sozialhilfe gelebt. Dann ist mir endlich klar geworden, dass es so nicht mehr weitergehen kann und bin in eine Klinik gekommen, wo ich eine Entziehungskur und eine Therapie gemacht habe. Dann hab ich von vorn angefangen. Als ich dann nach zwei Jahren immer noch keine Arbeit gefunden hatte, hab ich mich entschieden, mich selbständig zu machen. Ich wollte endlich wieder arbeiten, und ich habe es geschafft. Ein Jahr später bin ich dann in die Wohnung gezogen, vorher hatte ich in einer Sozialwohnung gelebt. Und es geht mir gut.“

„Das freut mich echt, dass du es geschafft hast“, sagte ich und meinte es wirklich ernst.

„Danke, ich bin auch froh darüber“, sagte er. „Und meinst du, wir können nach der langen Zeit auch noch mal von vorn anfangen?“, fragte er dann.

Ich dachte kurz nach. Eigentlich war er eine fremde Person für mich, ich wusste nicht, die verlorenen Jahre konnten wir mit Sicherheit nicht nachholen, aber eigentlich waren wir ja schon wieder dabei wieder von vorn anzufangen.
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„Ich denke schon“, antwortete ich. „Aber es wird lange dauern bis es wieder so wie früher wird.“

„Ja, ich weiß. Aber ich werde diesmal nicht wieder diesen Fehler machen“, versprach er.

„Das weiß ich“, sagte ich, und ich glaubte es auch wirklich.

„Danke, dass du mir die Chance gibst, es wieder gutzumachen“, freute er sich. „Also, dann auf einen Neuanfang“, sagte ich und wir stießen mit Cola an.

Richtig glücklich war ich anschließend trotzdem nicht. Auch wenn ich wieder einen Vater hatte, blieb jedoch die Tatsache, dass ich keine Freunde hatte, und immer noch einsam war.



Die Tage vergingen, alle waren voller Einsamkeit. Von Kirsten hörte ich nichts, und von Kathy sowieso nichts. Ich war unzufrieden, auch mein Job machte mir in den nächsten Tagen keine Freude, ich langweilte mich nur und hatte keine Lust zu arbeiten. Zu tun gab es genug, aber die Kundschaft war einfach langweilig. Es machte keinen Spaß, sich mit ihnen zu beschäftigen. Sonst waren meine Kundinnen immer die Schönsten, aber das vermisste ich in diesen Tagen. Vielmehr war ich sogar teilweise genervt von manchen Damen die mir an diesen Tagen begegneten.

Eine Frau in meinem Alter probierte alles etwa zehn Mal an und war irgendwie nie zufrieden, allerdings nicht was uns betraf, sondern was ihre Figur betraf. Sie hatte zugegebener Maßen keine Top – Figur wie ein Model, aber trotzdem immer noch eine schlanke und sehr feminine Figur und sie konnte wirklich gut alles tragen, was sie anprobierte. Aber sie war der Ansicht, dass sie eine unmögliche Figur habe und sich absolut nicht erlauben könne so herumzulaufen. Sie wisse gar nicht, was sie anziehen solle und sei total verzweifelt. Ich gab mir größte Mühe ihr klarzumachen, dass es an ihrem Aussehen absolut gar nichts auszusetzen gebe und sie problemlos alles tragen konnte. Sie lächelte dann immer nur, sagte, es sei alles lieb gesagt von mir, aber ich könne ruhig offen zu ihr sein, sie würde es mir nicht übel nehmen. Ich wusste nicht, wie ich es schaffte immer noch höflich zu bleiben. Ich war schon kurz davor zu sagen, dass sie Recht habe und ihr wirklich nichts stand, auch wenn es gar nicht wahr war, aber so wäre ich sie endlich losgeworden.
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Sie war zwar lieb und nett, aber das nützte auch nichts mehr.

Eine Stunde probierte sie alles an und jammerte mich voll, dann gab sie schließlich auf.

„Danke, dass sie so geduldig mit mir waren“, sagte sie dann. „Ich werde Sie als Verkäufer weiter empfehlen. Ein paar Freundinnen würden hier das Richtige finden.“ Wenn sie gewusst hätte, dass ich nur nach außen hin so geduldig mit ihr war.

„Ihre Freundinnen sollten Sie lieber davon überzeugen, dass Sie keinen Grund haben mit sich unzufrieden zu sein“, sagte ich ihr noch.

Ich war richtig erleichtert nachdem sie weg war. Ich fragte mich nur, was mit ihr passiert war. Sie musste irgendwann mal ziemlich schlechte Erfahrungen mit einem oder mehreren Typen gemacht haben, dass sie solche Minderwertigkeitskomplexe hatte. In gewisser Weise tat sie mir auch leid.

Dann hatte ich eine Begegnung mit einer Mitte – Vierzigerin, die wirklich alle übertraf. Sie versuchte mich als Idioten darzustellen. Die erste Frage stellte sie bereits in einem Ton, als wollte sie schon Kritik äußern, obwohl es noch gar keine Gelegenheit für Kritik gab. Sie kam sich wohl besonders wichtig vor, sie erinnerte mich an Pias Stiefmutter. Sofort entwickelten sich Hassgefühle gegenüber dieser Person. Ich versuchte mich dennoch zu beherrschen und höflich zu bleiben. Aber das änderte sich.

„Ich habe irgendwie das Gefühl, dass Sie überfordert sind und Schwierigkeiten haben sich in die Materie zu versetzen. Sind Sie neu hier?“, meinte sie plötzlich. Was erlaubte diese Person sich, diese Frechheit zu besitzen und mir dies ins Gesicht zu sagen. Nach außen hin blieb ich noch beherrscht, aber innerlich kochte ich.

„Nein, bin ich nicht!“, antwortete ich bestimmt und war gespannt, was sie jetzt sagen würde.

„Dann sind Sie anscheinend nicht geeignet für diesen Beruf. Würden Sie mir bitte jemanden holen, der etwas kompetenter ist?“, versuchte sie mich weiter zu provozieren. Jetzt reichte es. Tanja, meine Kollegin, war auch da und bekam einiges vom Gespräch mit.

„Gnädige Frau“, sprach ich. „Sie sehen doch meine Kollegin, wenn Sie von ihr bedient zu werden wünschen, warum gehen Sie nicht selbst dorthin, ich denke, den Weg dürften Sie doch allein finden, ohne dass ich sie extra herbestellen muss.
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Aber davon abgesehen ist dies keine Frage von Kompetenz, es gibt eben immer irgendwo Menschen, denen einfach nicht zu helfen ist.“

„Wie bitte?“, fragte sie laut. Sie dachte wohl, sie könne mir Angst machen.

„Ja, Sie haben richtig verstanden. Aber ich kann es natürlich trotzdem für Sie gern noch einmal wiederholen.“ Ich sprach es ruhig aus, aber sehr zynisch. „Also, wie reden Sie denn mit mir? Jetzt werden Sie auch noch unverschämt. Glauben Sie bloß nicht, dass ich mir das gefallen lasse. Ich möchte gern Ihren Chef sprechen, er wird ja wohl da sein“, verlangte sie.

„Aber ja, Sie sprechen sogar schon mit ihm. Ich bin der Chef“, belehrte ich sie. Natürlich meinte sie den obersten Chef, Herrn Tohmann also, aber sie wusste ja nicht, wer das war. Damit hatte sie überhaupt nicht gerechnet und war für einen Moment sprachlos.

„Das ist Ihr Chef?“, fragte sie Tanja. Ich hoffte, sie sagte jetzt nicht, dass es noch Herrn Tohmann gab.

„Ja, er ist mein Chef“, antwortete sie. Sie deckte mich, und hatte nicht einmal gelogen, denn ihr Chef war ich ja.

„Wie kann jemand wie Sie Chef werden? Ich glaub, hier bin ich wohl falsch“, sagte die Frau, nachdem ihr jetzt nichts mehr einfiel.

„Es steht Ihnen jederzeit frei zu gehen. Wo die Tür ist, wissen Sie, nehme ich an“, sagte ich.

Wütend und ohne etwas zu sagen ging sie. Ich war froh, dass ich so beherrscht geblieben war und mich trotzdem nicht von ihr für dumm verkaufen lassen habe. Ich atmete auf, als sie draußen war.

„Sag mal, du kannst doch so nicht mit Kunden reden“, regte sich Tanja auf. „Was meinst du, wenn das Herr Tohmann erfährt?“, fragte sie dann. „Und wirst du es ihm sagen?", fragte ich. „Nein, natürlich nicht. Aber was wäre, wenn sie ihn verlangt hätte.“ „Danke, dass du ihn nicht erwähnt hast.“ „Kein Problem. Aber beherrsche dich beim nächsten Mal, bevor du noch irgendwann deinen Job verlierst. Was ist denn plötzlich los mit dir, so kenne ich dich ja gar nicht.“ Natürlich hatte sie Recht, man musste immer freundlich zu Kunden bleiben, egal wie unverschämt sie waren. Aber ich fand das nicht fair.

„Ich konnte einfach gerade nicht freundlich bleiben, wäre ich es geblieben, hätte ich die nächsten Nächte vor Wut nicht schlafen können.
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Wie kam die dazu, mich so blöd anzumachen?“, regte ich mich auf.

„Ich fand das auch nicht okay von ihr, schick das nächste Mal, wenn wieder so eine hier ist, sie einfach zu mir“, sagte Tanja.

„Okay, ich gehe mal ins Büro, hab dort noch einiges zu tun“, sagte ich dann.

Ich hätte nicht gedacht, dass ich irgendwann mal lieber die Büroarbeit machte. Aber in dem Moment hatte ich einfach keine Lust mehr auf Kundenkontakt und brauchte eine Pause davon. Ich saß erst einmal für einen Moment einfach nur da und versuchte abzuschalten. Ich hatte Tränen in den Augen. Bis Feierabend blieben noch zwei Stunden, ich blieb die ganze Zeit im Büro. Ich nutzte die Zeit, um Ablage zu machen, die sich angesammelt hatte. Ich hasste diese Tätigkeit, aber jetzt kam sie mir gerade recht.



Abends trank ich wieder Bier. Ich wusste nicht, was ich sonst tun sollte. Ich hatte gar keine Lust am nächsten Tag wieder arbeiten zu gehen, wie in den letzten Tagen auch. Ich hatte vor, wieder Büroarbeit zu machen, und zwar so lange bis es dort nichts mehr zu tun gab. Wie Herr Thomann wohl reagiert hätte, wenn er erfahren hätte, wie ich mit der Kundin umgegangen war. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass er ernsthaft sauer geworden wäre. Ich hatte noch nie erlebt, dass er mal sauer war. Ich hatte ihn nicht einmal irgendwann mit schlechter Laune erlebt. Er war zu beneiden, ich wäre auch gern jeden Tag gut gelaunt wie er.



Mit der Ablage wurde ich am nächsten Tag komplett fertig. Nach einer Stunde lag nichts mehr herum, das gab es selten. Selbst das, was neu hinzugekommen war, hatte ich direkt mit abgelegt, sonst sammelte ich es immer erst. Aber es gab noch genug im Büro zu tun, so dass ich heute nicht in den Verkauf musste. Tanja kam in mein Büro und sagte, dass mich jemand sprechen wolle. Ich hoffte, es war nicht Sebastian, der mich zur Rede stellen wollte.

„Wer ist es denn?“, fragte ich.

„Sie hat sich nicht vorgestellt“, antwortete sie.

Sie? Dann war es nicht Sebastian. Dann war es wahrscheinlich Kirsten, sie wollte ja immer mal vorbei kommen. Oder vielleicht war es Melanie und wollte, nachdem wir uns kurze Zeit zuvor begegnet waren, mit mir reden, aber daran glaubte ich nicht wirklich.
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Ich tippte doch eher auf Kirsten. Ich ging also mit nach vorn.

Weder Kirsten noch Melanie wartete dort auf mich. Ich konnte es kaum glauben, dort stand Bianca! Mit ihr hatte ich überhaupt nicht gerechnet. Lächelnd sah sie mich an, als ich heraus kam. Ich war außer mir vor Freude, als ich sie dort stehen sah. Endlich kam sie mal zu Besuch aus Wien.

„Bianca!“, rief ich voller Freude und spürte, wie ich übers ganze Gesicht strahlte.

„Hi“, sagte sie.

Wir sahen uns erst einmal gegenseitig für einen Moment an. Wir hatten uns ja seit zwei Jahren nicht mehr gesehen. Sie sah reifer aus, aber sonst hatte sie sich in den zwei Jahren nicht verändert.

„Das ist ja eine Überraschung, das hätte ich überhaupt nicht gedacht. Ist das schön, dich mal wieder zu sehen!“, freute ich mich und strahlte immer noch übers Gesicht, während ich sie weiterhin noch genau ansah.

„Ich wollte mich erst melden, aber dann dachte ich, ich komme einfach mal ganz spontan vorbei“, sagte sie.

Ich glaubte, einen schwachen Wiener Akzent bei ihr heraus zu hören, der auf ihre Sprache abgefärbt sein musste, während sie dort wohnte.

Ich nahm sie mit in mein Büro, um ungestört mit ihr reden zu können.

„Wie geht es ihr denn?“, fragte sie dann.

„Danke, gut, und dir?“, antwortete ich. Dabei hatte ich nicht gelogen, es ging mir plötzlich wirklich gut.

„Mir geht es auch gut“, antwortete sie. „Ich hab alles hier so richtig vermisst.“ „Ich freu mich echt, dich wieder zu sehen“, sagte ich.

„Ich freu mich auch.“ Wir sahen uns immer noch an.

„Seit wann bist du hier in Dortmund?“, fragte ich.

„Seit gestern Mittag.“

„Wie lange bleibst du?“ Ich hoffte, sie würde etwas länger bleiben.

Sie lächelte. „Nun, erstmal für die nächsten Tage, Wochen, Monate, Jahre und dann wer weiß, vielleicht bis an mein Lebensende.“

„Das heißt, du bleibst hier?“, fragte ich nach und war innerlich voller Freude. „Ja“, lachte sie. Ich hoffte, das war kein Traum, es war einfach zu schön, um wahr zu sein. Bianca war wieder da.

„Und was ist mit deinem Freund?“, fragte ich.
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„Wir sind leider nicht mehr zusammen“, sagte sie ein wenig traurig.

„Das tut mir leid“, sagte ich.

Ich wusste nicht, ob ich es nur aus Höflichkeit sagte, oder ob es mir wirklich leid tat. Natürlich hätte ich es ihr gegönnt, glücklich zu sein, aber wäre sie noch mit ihm zusammen, wäre sie nicht zurückgekommen.

„Es ist schon okay, wir sind auch im Guten auseinander gegangen.“

„Wie kam es zu der Trennung?“

„Nun ja, es lief alles wirklich gut, nachdem wir ein Jahr zusammen waren, sind wir auch zusammen gezogen, vor zwei Monaten haben wir beide gemerkt, dass wir beide irgendwie nicht wirklich zueinander passen und es nicht auf Dauer funktionieren kann. Dann haben wir uns entschieden, dass wir uns lieber trennen sollten, bevor wir irgendwann im Streit auseinander gehen.“

„Ja, das ist dann wahrscheinlich das Vernünftigste. Ist das der Grund, dass du zurückgekommen bist?“

„Nicht direkt, die Trennung war ja nicht so schmerzhaft, und wir verstehen uns noch gut, ich wäre normalerweise in Wien geblieben, aber hab dann in den nächsten Wochen immer mehr gefühlt, dass hier mein zu Hause ist und hab dann vor zwei Wochen spontan entschlossen, wieder zurückzuziehen. Hätte ich mich damals nicht verliebt, wäre ich auch gar nicht nach Wien gezogen. Und bei dir? Gibt es wieder jemanden?“

„Nein, auch nicht“, antwortete ich kurz. Ich wollte ihr nicht gleich an Ort und Stelle sagen, wie einsam ich mich fühlte.

„Wohnst du wieder bei deinen Großeltern?“, fragte ich dann, um auszuweichen. „Ja, genau, erstmal zumindest. Irgendwann demnächst werde ich mir auch eine eigene Wohnung nehmen.“

„Wenn du heute Abend Zeit und Lust hast, können wir uns ja sehen, dann haben wir auch mehr Zeit zum reden“, schlug ich vor.

„Ja, gern, wollte ich auch vorschlagen.“

„Ich hätte ab 18 Uhr Zeit, wenn du Lust hast, komm doch einfach zu mir.“ „Gern, hast du noch dieselbe Adresse?“

„Ja, wohn noch immer dort.“

„Dann sehen wir uns heute Abend, ich freu mich“, lächelte sie.

„Ich mich auch“, fand ich ebenfalls.

Ich brachte sie noch zur Tür.

Ich ging zurück in mein Büro und brauchte erstmal eine Pause.
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Ich fühlte mich so glücklich, dass sie wieder da war. Zuerst war mein Vater wieder da und jetzt Bianca. Plötzlich kamen alle wieder. Für einen Moment musste ich vor Freude weinen. Ich hatte eine Freundin wieder, ein Teil meines alten Lebens war wieder da. Ich freute mich richtig auf den Abend. Ich wollte sie auch danach fragen, ob sie noch mit Melanie Kontakt hatte.

Ich war richtig gut gelaunt und hatte wieder richtig Lust nach vorn in den Verkauf zu gehen. Tanja fiel auf, dass ich plötzlich so gut gelaunt war.

„Das war Bianca, die nach Wien gezogen war“, erklärte ich ihr. Ich hatte ihr ja davon erzählt, als Pia gestorben war. Sie erinnerte sich.

„Sie ist wieder da, sie bleibt hier“, erzählte ich voller Freude.

Sie schmunzelte ein wenig, als sie sah, wie ich mich darüber freute.

„Das freut mich für dich“, sagte sie.

Es war das erste Mal seit über zwei Jahren, dass ich aus tiefsten Herzen lachte.



Ich machte abends Wiener Schnitzel mit Pommes. Als sie kam war alles vorbereitet und der Tisch gedeckt.

„Essen ist schon fertig“, sagte ich, als sie hereinkam.

„Hm, das duftet aber gut, aber du musstest doch nicht extra kochen“, sagte sie. „Na ja, ist ja nichts besonderes, sind nur Wiener Schnitzel und wahrscheinlich nicht mal annähernd so gut, wie die in Wien.“

„Glaub ich aber doch, bei dir hat mir immer alles geschmeckt“, lachte sie.

Wir begannen zu essen.

„Sie schmecken wirklich gut, richtig schön zart, noch viel besser als die Echten“, lobte sie.

„Das glaub ich zwar jetzt nicht, aber trotzdem danke“, lachte ich.

Sie erzählte erst einmal von Wien, wie es dort so ist und was sie dort so gemacht hatte. Sie hatte dort ein paar Semester Germanistik und Anglistik studiert, wollte das Studium hier fortsetzen. Einen Nebenjob hatte sie auch schon bekommen, und zwar in der Firma, wo ihr Vater gearbeitet hatte.

„Hast du eigentlich noch Kontakt zu Melanie?“, fragte ich schließlich.

„Ja, hab mich gestern mit ihr getroffen, hatte ihr aber schon ein paar Tage vorher gesagt, dass ich zurückkomme. Sie freut sich auch, dass ich wieder da bin.
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Vorher hatten wir aber auch nicht viel mehr Kontakt als ich zu dir hatte, nur zwischendurch geschrieben und telefoniert.“ „Ich hab seit Pia tot ist, keinen Kontakt mehr zu ihr“, erzählte ich traurig und ein wenig verärgert.

„Ja, ich weiß, sie hatte es mir erzählt“, antwortete sie.

„Sie ist mir plötzlich aus den Weg gegangen, und ich weiß nicht einmal warum. Und ich hatte sie immer für eine Freundin gehalten“, bemerkte ich.

„Das war sie auch, es ist nicht so wie du denkst“, sagte Bianca.

„Warum war sie dann so verändert und kalt?“, fragte ich.

„Sie kam auch nicht klar damit, dass Pia plötzlich nicht mehr da war und ich auch nicht mehr hier wohnte. Sie konnte auch dich nicht leiden sehen, das war alles zu viel für sie, sie hat sich daher total abgesondert und wollte einfach nur vergessen“, erklärte sie. Das war für mich keine richtige Entschuldigung.

„Ich hätte nicht so gelitten, wenn sie da gewesen wäre. Und ich wäre auch für sie da gewesen, wir hätten uns gegenseitig helfen können. Sie hätte wenigstens mit mir darüber reden sollen, dann hätte ich mich nicht ständig fragen müssen, ob sie eine wirkliche Freundin war. Sie hat mich allein gelassen, als ich eine Freundin brauchte.“

„Ja, ich weiß, es war nicht richtig von ihr, sie wusste selber, dass es nicht richtig war, sie hatte mir selbst geschrieben, dass sie sich mies dabei fühlte, aber einfach nicht anders konnte.“ Ich sagte nichts.

„Ich hab sie vor zwei Wochen am Friedhof getroffen, es war das erste Mal, das wir wieder miteinander geredet haben“, erzählte ich dann.

„Sie hat mir davon erzählt, Pias Vater kam dann auch, deshalb ist sie dann so plötzlich wieder gegangen.“

„Ja, das hatte ich mir schon gedacht. Ich hätte mich gern mit ihr ausgesprochen, ich hab sie gehasst, dass sie mich allein gelassen hat, aber es war irgendwie schön, ihr wieder zu begegnen“, gab ich zu.

„Das ist schön, dann hast du ihr verziehen“, stellte Bianca fest.

„Ja, ich glaub schon“, entschied ich.

„Das ist gut“, lächelte sie.

„Ja“, entgegnete ich und lächelte auch ein wenig.

„Denkst du noch viel an Pia?“, fragte sie dann.
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„Ja, ich hab sie nie vergessen.“

„Mir fehlt sie auch“, sagte sie darauf.

Ich erzählte ihr, dass ich mich nie getraut hatte, ihr zu sagen, wie schlecht es mir ging.

„Du hättest es mir doch sagen können“, sagte sie und streichelte meine Hand. Ich erzählte ihr auch von Kathy, von Kirsten, dass mein Vater wieder da war, und dass ich mich trotzdem so einsam fühlte.

„Du bist nicht allein“, sagte sie dann. „Jetzt nicht mehr, jetzt bin ich wieder da.“ Ich strahlte daraufhin wieder übers ganze Gesicht. Dies zu hören tat gut.

„Und das mit Melanie wird auch wieder“, fügte sie hinzu. Ich nickte.

„Was hältst du, wenn wir zur Kirmes fahren?“, schlug sie dann vor. Das war eine gute Idee, ich war einverstanden.



Kurze Zeit später befanden wir uns auch schon kreischend auf einer wilden Achterbahnfahrt. Früher war ich oft mit Pia, Bianca, Melanie und manchmal einigen anderen Bekannten auf der Kirmes. Ich könnte den ganzen Tag nur Achterbahn fahren, es gab mir ein Gefühl von Freiheit. Während der Zeit waren alle Sorgen, jeder Stress, der ganze Ärger, den man hatte, vergessen, für einen Moment war man einfach nur glücklich. Aber jetzt war ich es sowieso. Ich fuhr noch eine weitere Runde, für Bianca war das schon genug.

Abends brachte ich sie nach Hause. Abgesehen von den zwei Tagen, die ich mit Kathy verbracht hatte, war dies mein erster schöner Tag nach über zwei Jahren, und ich wusste, es war nicht der letzte schöne Tag. Am Wochenende wollten wir uns wieder sehen und etwas unternehmen.

„Bianca“, rief ich noch, als sie auf dem Weg zu ihrer Haustür war. Sie drehte sich um.

„Schön, dass du wieder da bist“, sagte ich dann.

„Ich bin auch froh, dass ich wieder hier bin“, freute sie sich. Ich winkte ihr zum Abschied und fuhr los.

Mein Leben hatte endlich wieder Sinn. Ich vermisste Pia noch immer, aber jetzt war ein Teil von ihr wieder da. Ich lag lange wach, ich konnte nicht einschlafen. Ich hatte auch ein wenig Angst davor, dass es nur ein Traum war.
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Kommentare zur Story:

  Freue mich schon, wenn der nächste Teil on ist... Gruß Sabine  
Sabine Müller  -  30.01.07 20:05

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  Endlich geht es weiter :-) Wieder eine gelungene Fortsetzung. Lg Sabine  
Sabine Müller  -  21.01.07 16:40

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