Kurzgeschichten · Erinnerungen

Von:    holdriander      Mehr vom Autor?

Erstveröffentlichung: 10. September 2006
Bei Webstories eingestellt: 10. September 2006
Anzahl gesehen: 5341
Seiten: 4

Mit dreizehn Jahren kam sie nach Berlin. In Stellung bei Familie Studienrat Krause. Die ersten fünf Jahre verließ sie das Haus nur, um mit der kleinen Tochter des Hauses spazieren zu gehen, zum Einkauf und zum Kirchgang.

Aber als sie achtzehn wurde, freundete sie sich mit anderen Dienstmädchen an. Sie erzählten ihr von den Tanzlokalen und wie viel Spaß man dort haben kann und luden sie ein, mitzukommen und auch einmal die Soldaten an der Nase herumzuführen. Beim ersten Mal hatte Minna auch viel Spaß. Besonders die Musik erfreute sie. Die Rhythmen gingen ihr ins Blut. Und sie tanzte sich richtig heiß. Auf einem verschwiegenen Hinterhof hatten die Mädchen heimlich mit ihr das Tanzen geübt, Rheinländer, Walzer und Polka.

An ihrem nächsten freien Tag waren leider alle Freundinnen verhindert. Also beschloss Minna, allein zu dem Tanzlokal zu gehen. Bald hatte sie einen Kavalier, einen Gefreiten. Sie dachte an das Lied „Gehen se weiter, gehen se weiter, Sie sind ja nur Gefreiter! Denn nur von Offizieren lass ich mich verführen“ und musste lachen. Nein, so oberflächlich war sie nicht!

Der Soldat spendierte zwar nur billiges Bier, aber immerhin. Und er sah so gut aus in der Uniform! Und küssen konnte der! Ja, das war etwas anderes als ein Kuss auf die Wange! Er brachte sie brav nach Hause und im dunklen Torweg gab sie sich ihm hin, als Versicherung, dass sie sich wieder sehen. Sie war so naiv, zu glauben, dass nach einer derartigen Intimität nur die Hochzeit folgen konnte und war froh, so schnell einen Mann gefunden zu haben. Leider kam er nicht zum nächsten Rendezvous und sie hat ihn nie wieder gesehen.

Zum Tanzen ging sie trotzdem. Warum einem Mann nachtrauern, den man nur einen Tag lang kannte? Diesmal tanzte sie mit einem schneidigen Unteroffizier. Er war zärtlicher als der Soldat. Lag etwa doch Wahrheit in dem Gassenhauer? Kaum, denn auch der Ranghöhere kam nicht zum Stelldichein. Wieder nichts mit heiraten, wieder umsonst das Höschen befleckt.

So ging es ein paar Monate, bis sie genug von den Uniformierten hatte. Der letzte, mit dem sie tanzte, war Maurer. Sie versprach sich eine goldene Zukunft, denn in Berlin schossen die Häuser wie Pilze aus dem Boden; es waren die so genannten Gründerjahre. Aber auch dieser Mann versetzte sie. Dafür wurde ihr morgens immer so übel .
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. .

Im Mai wurde ihre Tochter Anna geboren. Die Stellung wurde ihr schon vorher gekündigt. Eine mitleidige allein stehende Schneiderin nahm sie auf. Natürlich nicht völlig unentgeltlich, sie durfte für sie arbeiten. Kleider säumen, Knöpfe annähen, verpatzte Nähte auftrennen.

Das war alles nicht so schlimm, aber woher sollte Minna einen Vater für ihr Kind bekommen? Ein Kind muss einen Vater haben! Kinder ohne Vater nehmen Schaden an Leib und vor allem Seele! Ein Vater musste her.

Sie betrachtete alle Männer sehr genau. Sie musste wählerisch sein, denn wenn sie schon völlig unbeabsichtigt ein Kind in die Welt gesetzt hatte, so sollte es ihm wenigstens wohl ergehen. Es durfte keiner sein, der soff. Auch sollte er nicht allzu stark rauchen, das stinkt. Und vor allem durfte er kein Kinderschänder sein, das wäre das letzte. Aber man sah es diesen Kerlen ja nicht an, was in ihrem Innersten vor sich geht.

So wurde sie immer misstrauischer. An Bewerbern fehlte es nicht, aber sie konnte sich nicht entscheiden. Bis sie den Dr. hc. Bergner kennen lernte. Ein Mann von Welt, das sah man ihm schon von weitem an. Diese herrlichen blauen Augen! Das schwarzlockige Haar! Der aufrechte Gang und seine hohe Bildung – da musste ein Mädchen einfach schwach werden.

Und dann war es doch wie immer – ein paar Küsse, zielloses Begrabschen, zwei Minuten Missionarsstellung. Wenigstens zahlte er hin und wieder die Alimente für seinen Sohn Erwin.

Nun hatte Minna zwei Kinder und noch immer keinen Mann. Anna war inzwischen recht selbständig, konnte gut auf den Bruder aufpassen. Minna hatte unterdessen nähen und sticken gelernt, hatte sich fest etabliert im kleinen Salon ihrer Vermieterin. Da nun ein weiteres Kind existierte, wurde das Zimmer zwar nicht größer, aber teurer. Jedoch nicht so teuer wie eine eigene Wohnung.

Viele Jahre weinte Minna dem Herrn Doktor nach, sah sich aber weiterhin aufmerksam nach einem Ehekandidaten um, denn Kinder brauchen einen Vater! Und wie sollte sie ihrem Sohn beibringen, wie man sich rasiert und das „dritte Bein“ pflegt? Sie war ja immer nur einen Tag mit einem Mann zusammen gewesen! Und ihr Vater war im Krieg geblieben, genau wie der Onkel. Und Brüder hatte sie nicht, nur fünf Schwestern. Die waren in Mecklenburg und Minna hatte keinen Kontakt zu ihnen.
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Da war guter Rat teuer. Doch dann zog schräg gegenüber ein netter älterer Herr ein. Er war so gepflegt, rauchte nicht, trank nur gute Weine und hatte nie ein liederliches Weibsbild bei sich. Hin und wieder gab er Geselligkeiten für Freunde. Da war oft die eine oder andere vornehme Matrone dabei. Minna begann sich mehr und mehr für diesen Herrn zu erwärmen und entbrannte trotz aller inneren Gegenwehr in heißer Liebe zu ihm. Es ging so weit, dass sie ihn auf offener Straße ansprach. Höflich hörte der Herr Kommerzienrat zu und es entwickelte sich eine lockere Beziehung.

Bald liebte sie den Herrn noch mehr, denn er begrabschte sie nicht, machte nicht einmal anzügliche Bemerkungen. Was für ein gebildeter Mann! Und wie viel ihr Sohn von ihm lernte! Der Herr Kommerzienrat war weit gereist und konnte aus aller Herren Länder Wissenswertes berichten. Er kannte sich in der Literatur aus, in der Geschichte und Botanik. Er nahm den Erwin sogar mit ins Theater!

Minna ging beim Kommerzienrat ein und aus, erbot sich, für ihn zu putzen und zu kochen, beides lehnte er höflich, aber bestimmt, ab. Nur wenn sie einen Kuchen buk, verzehrte er gern ein Stück. Sie lernte seine Freunde und Bekannte kennen und fand die meisten recht nett, besonders die Frauen. Das waren Künstlerinnen, eine Malerin, eine Schriftstellerin und eine Sängerin. Dass Frauen singen, das wusste Minna. Meist waren das aber ziemlich verrufene Personen. Nicht, dass Minna je mit so einer Person bekannt gewesen wäre, Gott bewahre! Eine Malerin – na gut, warum nicht? Wenn sie die Zeit dazu hat . . . Aber eine Schriftstellerin? Geht denn das? Kann eine Frau so gut denken wie ein Mann? Denn zum Schriftstellern musste man doch denken können! Bald konnte sie sich mit diesen Frauen über nichts mehr unterhalten, die lebten ja in einer ganz anderen Welt.

Ebenso der Herr Kommerzienrat. Umso verbundener war sie ihm, dass er sich so toll um Erwinchen kümmerte. Er versah Vaterstelle an ihm und hatte große Freude daran. Auch mit Anna ging er sehr verantwortungsvoll um, brachte ihr vornehme Manieren bei und vermittelte auch ihr einiges an Bildung, was weit über das Schulniveau hinausging.

Minna konnte sich glücklich schätzen. Endlich hatte sie einen Vater für ihre Kinder! Aber er dachte leider nicht ans Heiraten. Warum nicht, fragte Minna.
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Der Altersunterschied war doch nicht so groß, es gab Ehen, wo die Frau bequem die Tochter des Mannes hätte sein können! Also, warum nicht? Es fiel ihm keine weitere Ausrede ein. Wieder einmal saß Minna heulend auf ihrem leeren Bett.

Ihre Tochter – inzwischen achtzehn Jahre alt, fragte nach der Ursache? Minna schniefte: „Na, weil der Wolfhardt mich nicht heiraten will!“

Prustend ließ Anna sich neben die Mutter plumpsen: „Du willst deeen heiraten? Das ist nicht dein Ernst! Der ist doch schwul, Mann!“

Da bekam Anna die erste Ohrfeige ihres Lebens und zog aus.

Kaum, dass Erwin zur Tür herein kam, überfiel ihn die Mutter: „Was hat Wolfhardt mit dir gemacht? Hat das Schwein dich angefasst? Rede, Bengel!“

Erwin wusste nicht, wie ihm geschah. Was war plötzlich mit der Mutter los? Sie himmelte den Nachbarn doch sonst immer derart an, dass es schon beinahe peinlich war. Angefasst? Er wusste, was damit gemeint war. Nee, angefasst hatte ihn der Wolfhardt nicht, nur manchmal über das Haar gestrichen. Das macht der Lehrer in der Schule auch bei den artigen Kindern. Er konnte die Mutter beruhigen.

Dennoch war sie von Stund an nicht mehr dieselbe. Sie saß nur noch auf dem Bett und stierte vor sich hin, aß nicht und schlief nicht. Sie landete im Armenhaus, wo sie bald an Unterernährung starb.

Anna heiratete einen Maurer, bekam drei Kinder und führte eine relativ harmonische Ehe, Erwin studierte an der Bergakademie auf Kosten des Herrn Studienrats, wurde Geologe, heiratete ein Fräulein von Kintzig und hatte zwei Töchter.
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Kommentare zur Story:

  Du hast es erfasst, Jochen.
lg  
   holdriander  -  05.04.09 23:09

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  Ja, so ist das manchmal mit den Menschen. Sie kriegen nicht einmal mit, dass ihnen geholfen wurde, weil sie aus ihrem spießerhaften Denken einfach nicht mehr heraus können- oder einfach nicht wollen?  
   Jochen  -  05.04.09 22:42

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  Nun, das ist auch so eine Geschichte, die mir erzählt wurde. Wenn ich mal ne eigene Idee habe, teile ich es dir mit.
lg  
holdriander  -  17.10.06 18:41

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  Die Geschichte ist dir besser gelungen, als Clown oder Magier". Hier habert's nur ein bisschen am Ideenreichtum.  
John John Dorian  -  16.10.06 18:21

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  Vielen Dank fürs lesen und kommentieren.
Ja, jede Zeit ist spannend und aufregend - man muss nur was daraus machen und nicht an der Straßenecke herumlungern. aber aus dem Alter sind wir ja eh raus . . .
lg  
holdriander  -  10.09.06 22:55

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  Uiuiuiui, echte spannend, die damalige Zeit! Liebe Holdriander, du hast einen wunderbaren Schreibstil und darum kommt das Ganze auch sehr gut- ohne Fingerzeig - rüber. Tja, so ist das manchmal mit den Menschen, sorgen sich am falschen Ende, statt stolz darauf zu sein, was ihnen trotz alles Schwierigkeiten bereits gelungen ist.  
doska  -  10.09.06 22:10

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Interessante Kommentare

Kommentar von "weltuntergang" zu "Abschied nehmen"

Schweres und schönes Gedicht. Gefällt mir sehr total. Ganz liebe Grüße

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