Romane/Serien · Sommer/Urlaub/Reise · Erinnerungen

Von:    Kajolee      Mehr vom Autor?

Erstveröffentlichung: 23. Januar 2005
Bei Webstories eingestellt: 23. Januar 2005
Anzahl gesehen: 2716
Seiten: 9

Können Sie sich vorstellen, dass ein normales Getränk wie Pfefferminztee Ihr ganzes Leben verändern kann? Nein? Mir ist es passiert.



Vor einem Jahr trank ich literweise Mint Tea in einem kleinen Dorf in Nepal. Nicht, dass ich krank gewesen wäre oder so. Nein, ein kleines Mädchen brachte ihn mir. Ihr Name war Asha, und sie war eine vierjährige Waise, die bei ihren Großeltern in Tukuche, einem kleinen Dorf inmitten des Himalaya auf ca. 2800 m Höhe, lebte. Jedes Mal wenn sie mich sah, flitzte sie schnell ins Haus und brachte mir einen Becher heißen Pfefferminztee. Sie hatte mich dabei beobachtet, wie ich an unserem ersten Tag in ihrem Dorf vor unserer Lodge hockte und genüsslich eine Tasse davon trank. Sie folgerte wohl daraus, dass ich diesen speziellen Tee unheimlich gern mochte. Am Anfang war ich überrascht und freute mich über ihre Aufmerksamkeit. Doch schon bald erklärte mir unsere Wirtin, dass Asha auf der Suche nach einer neuen Aamaa, einer Mutter war! Und wie es aussah, hatte sie vor, mich mit dem Tee zu ködern und mich zu adoptieren…



Meine Freundin Rika, mit der ich für vier Wochen in Nepal auf Trekking-Urlaub unterwegs war, amüsierte sich köstlich über diese ungewöhnliche Begegnung. Sie konnte mich gar nicht genug damit aufziehen, dass ich – die ich ja von Kindern nicht allzu viel wissen wollte – von einer Vierjährigen dazu gezwungen wurde, mich mit diesem ‚Thema’ auseinander zu setzen.

„Ach, sieh doch nur, Mareile, wie sie dich anhimmelt. Was, um alles in der Welt, findet sie nur an dir? Was hast du getan?“ Rika sah mich prüfend an. „Warum gerade du? Warum nicht ich, wo ich doch eher auf Kinder zugehe und mit ihnen spiele und balge, während du nur lächelnd im Hintergrund bleibst und ab und zu ein paar Photos schießt?“

Rika schüttelte ihren schwarzen Lockenkopf und blickte empört in die Ferne. Ich hatte den Eindruck, dass sie sogar ein wenig eifersüchtig war. Grinsend ignorierte ich ihren kleinen Ausbruch und umarmte sie fest. Da sie gut einen Kopf kleiner war wie ich, stämmiger gebaut und mit einer niedlichen Stupsnase ausgestattet, hatte ich immer schon das Bedürfnis, ‚die große Schwester’ zu spielen und ärgerte sie damit nur noch mehr. Schließlich war ich nur fünf Minuten älter als sie.
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Allerdings glaubten die Leute schon immer, ich sei mindestens ein Jahr älter als Rika, da ich – groß und schlank, lange blonde Haare und eisblaue Augen, wohl den Eindruck vermittelte, wie ein Fels in der Brandung allem unerschütterlich gegenüber zu stehen.



Also, wie kam es zu dieser besonderen Begegnung mit Asha? Der erste Kontakt ist mir besonders im Gedächtnis geblieben:

„Hallo, wer bist du denn? Mein Name ist Mareile. Ma-rei-le. Und deiner?“ Ich zeigte mit dem Finger auf mich, als ich meinen Namen wiederholte. Asha stand zwei Meter vor mir, hatte schüchtern den Blick gesenkt und blinzelte ab und zu unter ihrem dichten schwarzen Pony hervor. Sie lächelte leicht, war aber unsicher. Ich bemerkte, wie sie auf den Becher Tee in meiner Hand starrte und schließlich zeigte sie mit ihren schmutzigen Fingerchen darauf.

„Mint Tea“, sagte ich und strich mir mit einer Hand über den Bauch. „Hm, lecker.“

Plötzlich hob sie mit einem Ruck den Kopf, ihre schwarzen Augen strahlten mich verzückt an. Ihr Gesicht leuchtete auf, als ob ich etwas unglaublich Schönes gesagt hätte. Sie kicherte. Dann gluckste sie so komisch, dass auch ich anfing, zu kichern. Daraufhin lachte sie, erst leise – dann immer lauter und schließlich brüllte sie vor Lachen, hielt sich wiehernd die Seiten und Tränen liefen ihr die Wangen herunter. Ich war baff. Ihr fröhliches Gelächter wirkte so ansteckend, dass ich mit einstimmen musste. Eigentlich wusste ich gar nicht, was so komisch an Mint Tea war, aber es war egal. Wir kringelten uns vor Lachen und schauten uns dabei so verschwörerisch in die Augen, als ob ich gerade einen absoluten Insiderwitz erzählt hätte.

Mitten in diese Lachorgie platzte Ashas Großmutter hinein. Sie hatte uns gehört und kam neugierig aus dem Nachbarhaus heraus. Sie sprach Asha an, doch die reagierte nicht. Da packte sie sie beim Arm und versuchte, sie wegzuziehen. Ich protestierte und sagte nur schnell: „Nein! Ist okay!“

Jetzt sah die Großmutter den Becher Tee, den ich vorsichtshalber neben mich auf die Treppenstufe gestellt hatte. Da lachte auch sie und versuchte mir in holprigem Englisch zu erklären, warum Asha so reagierte. Später erzählte mir unsere Wirtin dann die ganze Geschichte. Eine traurige, aber schöne Geschichte.
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Ashas Eltern starben vor zwei Jahren bei einem Erdrutsch. Ihre Mutter trank immer Mint Tea, das ganze Haus duftete danach. Asha selbst trank diesen Tee nie, sie meinte wohl, der wäre nur ihrer Mutter vorbehalten. Es war eine Art Ritual, dass sie jeden Morgen frisch gekochten Mint Tea vor die Tür stellte. Vielleicht hoffte sie, dass so ihre Mutter den Weg nach Hause finden würde, aber genau wusste man es nicht - denn Asha sprach nicht. Was nun in ihrem kleinen Kopf vor sich ging, als sie mich mit dem Tee auf den Stufen vor dem Haus sah, vermochte niemand zu erraten. Ich auch nicht.



Sobald ich mich also in der nächsten Zeit draußen blicken ließ und mich irgendwo hin setzte, kam Asha mit einem Becher heißen Mint Tea und bot ihn mir lächelnd, aber immer noch schüchtern an. Ich nahm ihn jedes Mal, obwohl ich spürte, dass ich es nicht hätte tun sollen. Sie blieb dann so lange bei mir, bis ich den Becher ausgetrunken hatte und nahm ihn mir lächelnd wieder ab. In unsere Lodge folgte sie mir nie.



Wir planten, eine Woche in Tukuche zu bleiben. Während der ersten drei Tage versuchte ich vergeblich, aus Asha ein paar Worte herauszulocken. Aber sie sprach nicht. Sie sah mich nur an, lächelte und strahlte mich mit ihren schwarzen Augen verzückt an. Sie kämmte jeden Morgen aufs Sorgsamste ihr schwarzes, dichtes Haar und legte viel Wert darauf, ihre Kleidchen nicht zu beschmutzen. Sie wollte einen

guten Eindruck machen. Sie war sich sicher, dass ich ihre neue Mutter werden würde. Auf jeden Fall machte sie deutlich, dass ich sie mitnehmen sollte.



Als Rika und ich an einem wolkenfreien Tag den Gipfel eines nahe gelegenen Berges erklimmen wollten, stapfte sie wild entschlossen hinter uns her. Ich versuchte ihr klar zu machen, dass sie nicht mitkommen könne. Doch sie ließ sich nicht abwehren. Ihre Großeltern waren auf dem Markt im nächsten Dorf, unsere Wirtin ließ sich auch nicht blicken und so trottete das kleine Mädchen zufrieden hinter uns her. Rika grinste mich an und meinte ein wenig sarkastisch: „Wie ein Hündchen. Pass bloß auf, dass sie dich nicht beißt. Auch wenn sie sauber aussieht, hat sie bestimmt Flöhe oder anderes Ungeziefer.“

„Sehr witzig“, schnaubte ich verärgert.
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„Du hast die Tollwut vergessen.“

„Nein, im Ernst, Mareile. Du musst jetzt langsam mal was unternehmen. Wir wollen in zwei Tagen weiter. Und wir werden nicht hierher zurückkommen. Es muss was geschehen, sonst brichst du ihr noch das Herz. Du musst ihr klar machen, dass du keine geeignete Mutter für sie bist.“

Plötzlich fühlte ich einen Stich in meiner Brust. Ich wäre keine geeignete Mutter? Nun, gut. Ich wollte keine eigenen Kinder. Für mich hing davon nicht das Glück der Welt ab. Aber wie hatte Rika das gemeint? Würde ich etwa keine gute Mutter abgeben?

„Wieso sagst du das? Glaubst du, ich könnte nicht für Asha sorgen?“

„Nun tu doch nicht so! Wie sollte das denn gehen? Von den bürokratischen und rechtlichen Hindernissen mal abgesehen – was willst du mit ihr in Deutschland anfangen? Du arbeitest acht Stunden am Tag, manchmal länger. Du hast deine Hobbys, deinen Sport. Du hast deine Freunde und nicht zu vergessen, deine stets vorhandene Unrast. Wenn du nicht wenigstens einmal im Monat verreisen kannst, kann man dich doch ins Irrenhaus einweisen! Was willst du in deinem Leben mit einem Kind?“

Rika hatte Recht. Ich war den ganzen Tag auf Achse. Selbst als ich mich vor einem halben Jahr von meinem Freund trennte, verzichtete ich schweren Herzens auf unsere gemeinsame Katze, da ich absolut keine Zeit dafür hatte. Asha würde ebenfalls nicht in meinen ‚Terminplan’ passen. Hinzu kam, dass sie nicht sprach. Konnte sie es nicht oder wollte sie nur nicht? Würde sie denn jemals Deutsch lernen oder wäre sie dazu nicht imstande? Ich ertappte mich dabei, wie ich sämtliche Ärzte in Bremen durch ging. Wer käme für eine Therapie in Frage?

„Mareile Schlobohm! Höre sofort auf, dir ernsthaft Gedanken über eine Adoption zu machen! Ich sehe es an deinem Gesichtsausdruck – du kannst mir nichts vormachen.“

Rika war wütend. Die majestätischen Gipfel des Annapurna um uns herum verblassten und wurden auf einmal unwichtig. Der kalte Wind riss an unseren Jacken und wehte uns den unvermeintlichen Staub in die Augen. Irritiert blinzelte ich, bis ich einigermaßen wieder sehen konnte. Wo war die Sonne geblieben? Rika schritt energisch zwei, drei Meter vor mir aus – sie kämpfte mit ihrem Ärger. Schlagartig wurde mir klar, dass ich unsere weitere Reise in Frage stellte.
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Rika hatte wohl schon viel früher gespürt, dass ich mit den Gedanken nicht mehr richtig bei unserem Trekking-Urlaub war. Und sie wusste, wenn ich mich in irgendetwas verbissen hatte, gab es keine Alternative. Doch, wie um Himmels Willen, sollte ich in den nächsten drei Wochen eine so gewaltige Aktion wie eine Adoption in Gang setzen? Mir wurde klar, dass ich etwas Unmögliches im Sinn hatte. Rika hatte ganz Recht, ich gab mich einer Träumerei hin. Aber für Asha war es keine Träumerei – für sie war es bitterer Ernst. Das wurde mir noch klarer, als ich mich nach ihr umdrehte, und sie sich keine zwei Meter hinter mir gegen den Wind stemmte. Dieses kleine, schmale Mädchen kämpfte mühselig gegen Staub und Wind, um nicht den Anschluss zu verlieren. Ich musste lächeln und hatte auf einmal gehörigen Respekt vor ihr. Asha wusste genau, was sie wollte. Und sie war bereit, dafür zu kämpfen. Notfalls gegen alle Stürme dieser Welt!



„Rika, warte! Wir müssen reden!“

Doch meine beste Freundin seit der Kindergartenzeit lief einfach weiter. Was sollte das denn jetzt? Hatte sie mich nicht gehört oder war sie so verärgert, dass sie sich bewusst von mir absetzte? Während ich ihr noch hinterher blickte, fühlte ich auf einmal eine kleine Hand in meiner Rechten.

Ich sah hinunter, und Asha lächelte mich schüchtern an. Ihr kohlrabenschwarzes Haar war völlig vom Wind zerzaust und mit Staub verklebt. Ihre Augen tränten und ihre Nase lief unaufhörlich. Sie lächelte zwar, aber ich sah, wie sie mühsam Luft holte. Eine Vierjährige kann zwei 34jährigen Frauen eben nicht im gleichen Tempo folgen. Die Anstrengung raubte ihr den Atem. Mitleidig strich ich ihr über den Kopf, was in Nepal eigentlich nur die Eltern machen oder höher gestellte Persönlichkeiten. Ashas Lächeln wurde zu einem zufriedenen Grinsen und unwillkürlich schalt ich mich deswegen. Verdammt, sei nur nicht zu vertraut mit ihr!

Verzweifelt schaute ich Rika hinterher. Hatte sie gar nicht mitbekommen, dass ich stehen geblieben war? Doch auf einmal wandte sie sich nach Rechts zu einem Teehaus. Kurz schaute sie sich nach mir um und ging dann hinein. Aufatmend folgte ich ihr, Asha weiterhin an der Hand - und ohne Mühe hielt sie mit mir Schritt.
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Kurz darauf standen auch wir geschützt vor dem lästigen Wind im Teehaus und schüttelten den Staub von uns ab. Rika hatte sich bereits an einem langen Tisch auf eine Bank gesetzt und sah mich erwartungsvoll an. Ihre Wut war wie weggeblasen, stattdessen konnte ich echtes Interesse und Neugier in ihrem Gesichtsausdruck erkennen. Ich war erleichtert!

„Willst du auch Tee?“ fragte sie mich lächelnd. „Oder hast du erst einmal genug davon?“ Sie kicherte und schaute schnell aus dem Fenster. Biest!

„Nein, danke. Ich mag ihn immer noch sehr gern.“ Und schon bestellte ich drei Becher bei der herbei eilenden Bedienung. Das junge Mädchen sah Asha ein wenig irritiert an, doch dann ging sie zum Küchenbereich. Für Nepalesen ist es nicht normal,

dass Einheimische mit den Touristen zusammen am Tisch sitzen, vor allem nicht, wenn es ein kleines Kind ist!

„Was nun?“ fragte Rika mich. „Wie soll es weiter gehen? Ist das Kind weitere Überlegungen wert, oder brechen wir früher auf und lassen sie hinter uns, hm?“

Ich ließ mir Zeit mit der Antwort und schaute aus dem Fenster in die staubige Ebene hinaus. Der Wind hatte zugenommen und vom Weg war nichts mehr zu erkennen.

„Tja, schwer zu sagen. Einerseits finde ich den Gedanken mehr als verlockend, einem kleinen Waisenmädchen eine etwas gesicherte Zukunft geben zu können, als es sie jetzt vor sich hat. Andererseits weiß ich nicht, wie ich das bewerkstelligen soll. Es gibt ja noch eine andere Möglichkeit, als die der Adoption. Aber wäre mir damit wohler? Wäre ihr damit mehr geholfen? Ich weiß es nicht. Echt.“

Als der Tee vor uns hingestellt wurde, lächelte Asha und schaute mich zufrieden an. Für sie war die Sache klar. Sie brauchte nicht lange zu überlegen.

„Du meinst, sie hier zu lassen und ihre Vormundschaft zu übernehmen?“

Rika blies sachte über den heißen Tee und sah mich dabei aus den Augenwinkeln an. „Sozusagen nur geldliche Zuwendung? So was in der Art?“

Ich fühlte mich auf einmal unwohl in meiner Haut. Geldliche Zuwendung. Das hörte sich sehr nach ‚Abschieben’ an. Rika, in ihrer Funktion als angehende Richterin wusste genau, wie sie so etwas formulieren musste. Sie traf meinen empfindlichsten Nerv. Ich war gereizt.
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„Nein, so nicht!“ antwortete ich dann doch etwas barscher als gewollt. „Schließlich sitzt sie hier quicklebendig neben mir. Sie ist keine anonyme Zahl in irgendeiner Broschüre. Ich kenne sie, das ist was anderes.“ Ich hatte unwillkürlich die Hände ineinander gekrallt und klopfte unruhig mit dem Fuß gegen das Tischbein.

„Also? Was dann?“

In diesem Moment griff Asha nach meiner Hand. Sie hatte meine gereizte Stimmung bemerkt und sah mich mit großen, erstaunten Augen an. Wo war die Harmonie zwischen uns Freundinnen geblieben? Sie konnte nicht wissen, dass Auseinandersetzung nicht immer gleichbedeutend mit Streit war. Ich war gerührt - und lächelte sie beruhigend an. Ich entspannte mich sofort wieder und da ließ sie meine Hand los, widmete sich ihrem Tee und pustete ein paar Mal über den heißen Becher. So sah sie wie ein ganz normales Kind aus, stellte ich fest und grinste in mich hinein.

„Nun, auch wenn sie nicht spricht, ist sie zumindest ganz aufmerksam. Scheint mir ziemlich gescheit zu sein, die Kleine.“

Überrascht schaute ich Rika an. „Ach, ja?“

„Mit der richtigen Betreuung und professioneller Therapie könnte man sicher auch herausfinden, ob sie stumm ist oder nur nicht spricht, weil sie durch den Verlust der Eltern einen Schock erlitten hat. Das wäre zumindest eine Möglichkeit. Man könnte auf diesen Erkenntnissen aufbauen und sie zur Schule schicken.“

Rika sah die Kleine prüfend an. „Später“, fügte sie noch hinzu, als ihr einfiel, dass Asha ja erst vier Jahre alt war.

Jetzt war es an mir, meine Freundin prüfend anzuschauen. Rika neigte nicht zu selbstlosem Handeln, wenn es um die Probleme fremder Leute ging. Oder wollte sie mir nur einen Gefallen tun, damit ich so schnell wie möglich wieder den Kopf frei bekam für unseren gemeinsamen Urlaub? Ich konnte mir keinen Reim auf ihr Verhalten geben und fragte sie danach.

„Wieso zweifelst du an meinem Interesse? Schließlich bin ich genauso davon betroffen wie du. Du überlegst doch schließlich, ob du Asha helfen kannst oder nicht. Also werde ich dich doch damit nicht allein lassen!“ Sie war irritiert. Und ich auch.

Wir kannten uns seit über dreißig Jahren, waren immer gemeinsam durch Dick und Dünn gegangen und zweifelten jetzt am Mitgefühl und der Fähigkeit der jeweils Anderen, sich für ein vierjähriges Mädchen zu engagieren? Ich war erschrocken.
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Hatten wir uns in den letzten Jahren doch so weit von einander entfernt, dass wir uns nicht mehr so gut kannten? Rika kam nur noch ab und an nach Bremen, sie studierte in Göttingen und verbrachte ihre Praktikumszeit in Berlin. Und ich jettete durch die halbe Bundesrepublik und engagierte mich für die Rechte der Frauen in der Arbeitswelt. Zeigte uns dieses kleine Mädchen jetzt, dass unsere Freundschaft nicht mehr so tief war, wie wir es annahmen? Oder mussten wir erst einmal wieder lernen,

einander zu vertrauen und die Gefühle der Anderen Ernst zu nehmen? Ich vermutete es. Und es machte mich traurig.

„Du hast wieder diesen Dackelblick. Höre sofort auf damit! Du bist keine Zwanzig mehr!“ empörte sich Rika und stieß mir ihren Ellenbogen unsanft in die Rippen.

„Es geht hier um die Zukunft eines Kindes, also höre auf, dich selbst zu bemitleiden. Wir sind nur Nebensache, kommen wir zum Kern des Problems.“ Und damit schaute sie Asha direkt an.

Ich musste lachen. Wie früher las Rika meine Gedanken und rückte mir mit wenigen Worten den Kopf wieder zu recht. Meine Zweifel waren wie weggeblasen.



„Okay. Welche Möglichkeiten gibt es also? Fangen wir an.“ Ich holte einen Schreibblock heraus und einen Stift. Asha sah uns neugierig zu, behielt aber ihren Becher Tee immer fest in ihren schmutzigen Fingerchen.

„Adoption kommt erst einmal nicht in Frage. Du würdest durch das Auswahlverfahren fallen“, zählte Rika an ihren Fingern ab. „Einzelheiten erkläre ich dir später!“ ergänzte sie hastig, als sie meine gerunzelte Stirn bemerkte.

„Das nächste wäre dann also die Vormundschaft. Wäre möglich, da die Großeltern hoch betagt sind und wahrscheinlich das Zeitliche segnen, bevor Asha volljährig wäre. Man braucht natürlich das Einverständnis der Großeltern. Das wäre als Erstes zu klären.“

„Nun, ich denke, wir müssten sowieso erst einmal mit den Großeltern sprechen. Wenn sie von vornherein gegen mich eingenommen sind, brauchen wir gar nicht erst weiter überlegen. Dann habe ich sowieso keine Chance.“

Wir sahen uns nachdenklich an.
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Es hing alles von den Großeltern ab. Inwieweit würden sie Asha an eine Fremde ‚abgeben’? Wie stehen sie überhaupt dazu? Haben sie sich darüber vielleicht schon einmal Gedanken gemacht? Schließlich wissen sie, wie schwer Asha es haben wird, wenn sie erst einmal nicht mehr für sie da sein können…



In welchem Moment ich die Entscheidung fällte, für Asha die Verantwortung zu übernehmen, kann ich im Nachhinein nicht mehr genau sagen. Die Dinge nahmen ihren Lauf. Es folgte das Gespräch mit den aufmerksam zuhörenden Großeltern, wobei unsere Wirtin uns bei der Übersetzung half. Wir vertrauten ihr, dass sie alles richtig weiter gab, denn sie redete uns gut zu und bestärkte uns in unserem Vorhaben. Asha saß die ganze Zeit über auf meinem Schoß und spielte mit meinen Händen. Während wir also über Einzelheiten diskutierten, rechtliche Schritte überlegten und sachlich und logisch alle Konsequenzen durchgingen, füllte Ashas bedingungsloser Glaube an mich mein Herz mit Wärme und Zuneigung. Plötzlich wurde mir klar, dass ich im Begriff war, Mutter eines vierjährigen nepalesischen Mädchens zu werden!



Heute, nach einem Jahr, stehen wir vor der ersten großen Bewährungsprobe unserer neuen Beziehung. Ich habe eine Auszeit von meinem Job genommen und bin im Begriff, für ein halbes Jahr zu Asha und ihren Großeltern zu ziehen. Wenn wir es tatsächlich schaffen, ein Mutter-Tochter-Verhältnis aufzubauen, werde ich den Antrag auf Adoption stellen. Ich möchte Asha jeden Tag um mich haben, so als ob sie mein leibliches Kind wäre. Ich möchte an ihrer Entwicklung teilhaben und nicht über Briefwechsel darüber informiert werden! Asha spricht noch immer nicht, ist aber viel aufmerksamer und begeistert sich für alles, was mit mir und meinem Leben im fernen Germany zu tun hat. Ich weiß, dass ich mir damit viel Arbeit und sicherlich auch viel Ärger einhandeln werde. Aber, herrje, Asha brachte mir Mint Tea!
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Kommentare zur Story:

  Da bin ich auch dabei. Ich verstehe übrigens nicht, dass diese Geschichte damals überhaupt keinen Kommentar erhalten hat.  
   Petra  -  03.05.11 16:11

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  Das Leben schreibt eben die besten Stories. Ich war direkt gerührt. Schön, dass eine bereits schon so lange verschwundene Story wieder entdeckt worden ist.  
   Else08  -  03.05.11 16:09

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  Da ist ja wieder etwas sehr altes und gutes hervorgewirbelt worden. Kann mich nur anschließen. Klasse geworden.  
   Jochen  -  03.05.11 15:55

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  Bezaubernd, ich bin hin und weg. Welch eine Story.  
   doska  -  03.05.11 15:41

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