Romane/Serien · Nachdenkliches

Von:    JaliscoB      Mehr vom Autor?

Erstveröffentlichung: 23. September 2004
Bei Webstories eingestellt: 23. September 2004
Anzahl gesehen: 2076
Seiten: 9

Blanche kniete sich hin um die Rosen wieder aufzuheben. Zum ersten Mal weinte sie aus einem Schmerz heraus, den sie selbst in ihrem Inneren als Akt von Resignation verspürte.

Schließlich passiert es auch in einer herzlichsten Atmosphäre dieser Stadt dauernd, dass ein Einzelner plötzlich zusammenfährt und in seiner gerade noch fließenden Bewegung verletzt, steckenbleibt. Meistens versucht man dahin zu entkommen, wo freies Atmen gegen eine vermeintliche Todsicherheit eingetauscht, und die offenkundig verwundete Persönlichkeit in einer anonymen Magie aufgefangen und verborgen werden kann.

Berührungsangst steigert sich in dieser Stadt, in dieser erzwungenen Offenbarung von Überlebensfähigkeit, mit einem beliebigem Unmaß an Berührungsangst, Identitätsverlust, Paranoia,Verkehr, Flucht.

Wut stieg in ihr hoch, weil dieser Kerl, der sie aus Eile umstieß, es nicht für nötig hielt ihr zu helfen, geschweige denn sich bei ihr zu entschuldigen. Sie war zu erschöpft um sich weiter darüber zu erregen. Er lief in Windeseile die Treppen zur Metro hinunter ohne sich umzusehen. Blanche war sich nur zu bewußt, das sie bloß ihren Finger in die Luft strecken muss, schon blieb die Scheiße daran kleben. Vorsichtig nahm sie die Rosen wieder auf, als sie an ihre Schulter ein vorsichtiges Klopfen vernahm. Sie drehte sich leicht erschrocken um, und sah ein Mann im dunklen Anzug mit weißem Hemd, korrekt gebundener Krawatte, der wie ein Manager der New Ökonomie aussah, vermutete Blanche zumindest, und der sich mit Julien vorstellte. Julien entschuldigte sich bei Blanche und kniete sich zu ihr runter, um ihr beim Aufsammeln der Blumen zu helfen. „Entschuldigen sie mein schlechtes Benehmen, ich war in Eile“, waren die ersten Worte die Blanche hörte. Sie war verstimmt, steckte verärgert die aufgesammelten Blumen in einen Eimer und sah Julien mit einem unverbindlichen Lächeln an. Juliens Augen waren sehr dunkel. Verschiedene Farben mischten sich in ihnen, aber sein Blick wirkte gleichermaßen klar und direkt aber auch ängstlich und unsicher.

„Warum sind sie dennoch zurück gekommen?“, fragte Blanche, weiterhin verärgert. „Ich hatte schlicht Panik, erklärte Julien“. Er entschuldigte sich nochmals bei ihr und erzählte ihr, dass er auf dem Weg zu einem wichtigen Geschäftstermin im Wirtschaftsministerium war, als er mit dem Auto wegen der vielen Sommerbaustellen im Stau stecken blieb.
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So blieb ihm nichts anderes übrig, als mit der Metro zu fahren, gleichwohl er dabei ein schlechtes Gefühl hatte. Blindlings stürmte er auf dem Boulevard zwischen den Menschenmassen hindurch hin zur Metro, wo er auf sie traf. Dann kamen sie nur zurück, weil sie Angst hatten mit der Metro zu fahren und nicht um sich bei mir zu entschuldigen? Aber sie kennen nicht die Angst die ein Blumenmädchen hat das hart ihren Lebensunterhalt verdienen muss. Blanche fand Julien arrogant und wollte wieder Blumen verkaufen. Der heiße Sommer ist schlecht fürs das Geschäft. Der Tag war ohnehin nicht ihre Tageszeit, sie lebte mehr bei Nacht, denn sie liebte es in sommerlichen Nächten an den Quais entlang zu schlendern und die Menschen zu beobachten. Dann öffnete sich ihre Haut und atmete. Sie ist eine jener liebenswerten kleinen Französinnen die man zur Freundin haben müsste. Eine dunkelhaarige, lebensfrohe Elfe, die am Morgen in der Künstlerbude Café au lait braut und Pariser Luft genießt. Ihre milchige Haut wirkt synthetisch perfekt, darunter trägt sie ein pechschwarzes Sommerkleid, schwarz-weiße Ringelstrümpfe bis zu den Knien und hat eine riesige Sonnenbrille um den Hals hängen. Eine Illusion die es zu verstehen gilt. Sie ist 22, wispert und haucht wie ein erotischer Mädchentraum und wirkt mit ihren großen kastanienbraunen Augen wie die Hoffnung auf alle Fragen. Dennoch keine Illusion die es zu kaufen gibt. Sie wohnt in Marne-la-vallé bei Paris, eine vor dreißig Jahren erbaute Stadt der Zukunft deren Utopie verblichen ist wie die Hoffnung am Ende ihrer emotionalen Talfahrt. Geblieben ist eine städtebauliche Ruine, die keine gemütliche Behausung darstellt und Zufluchtsort für vorwiegend Asylanten aus Irak und Afghanistan ist. Julien entschloss sich zu tun, was er noch nie getan hat, er kaufte alle Rosen die den Unfall überlebt hatten und lud Blanche ein „Haben Sie heute um die Mittagszeit schon was vor?“ Sie schüttelte automatisch den Kopf. Darüber musste sie nicht nachdenken. Jetzt da alle Rosen verkauft waren hatte sie unverhofft Zeit.

Es tat gut, nicht mehr in der Hitze zu sein. Das Bistro war klimatisiert. Sie saßen sich gegenüber und während Blanche das Bistro genau durchscannt, bestellte Julien für beide einen Pernod.
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Je länger sie sich in der Bar umsah, desto unwirklicher empfand sie die übrige versammelte Gemeinschaft. Es waren Börsenjuppies, Snobs und Normalos, die sich hier zu ihren Stammtischtreffen versammelten. Instinktiv fühlte sie, sie gehöre nicht hierher. Sie entschloß sich durchzuhalten und abzuwarten und alles sich zukommen lassen. Da sie keine Uhr besaß, und sie nicht unhöflich erscheinen wollte, ließ sie die Zeit Zeit sein, und wartete gespannt auf eine für sie hoffentlich interessante Unterhaltung mit diesem für sie unbekannten Mann.

“Erzählen Sie mir von sich, was machen Sie noch außer Blumen zu verkaufen“?! fragte Julien, als der Garcon die Pernods brachte. Blanche erklärte ihm, sie habe noch einen weiteren Job in einem Künstlercafé im Quartier Latin. Sie habe Ihr Studium aufgegeben, damit sie ihre Familie unterstützen kann, die aus ihren Großeltern, den Eltern und ihren fünf Geschwistern besteht, von denen alle jünger sind als sie selbst. Sie lebten alle zusammen in Marne-la-vallé bei Paris auf fünfundsiebzig Quadratmetern, die selbst dafür noch zu teuer wäre. Aber dennoch einen gewissen Luxus darstellte. Ihre Eltern sind ohne Arbeit, Ihr Vater beinahe seit zwei Jahren, während sich ihre Mutter noch um die Zwillinge, zwei Jahre alt, kümmern muss. Die geringe Rente der Großeltern, ihr Großvater leidet an Alzheimer, und ihr Verdienst aus ihrer Arbeit im Café und als Blumenverkäuferin sind die einzigen Einnahmequellen. Aber sie liebe es mit dieser Familie zu leben. „Das Leben ist unplugged“, wie sie stets zu sagen pflegte, wenn es um die Authentizität von irgendetwas ging. Sie hatte das Wort für sich adaptiert. Wir kommen sehr gut miteinander aus. „Was haben Sie studiert?“, fragte Julien neugierig. „Ich habe Wirtschaftsinformatik und Arabisch studiert. Es bot sich an, da viele in Marne-la-vallé Araber sind, war die Möglichkeit gegeben diese Sprache zu lernen“. Weiter erklärte sie, dass sie sich sehr für die Ägyptische Kultur interessierte und gerne in Museen geht, wenn es Zeit und Geld zulassen, sie den Louvre besucht. Paris ist voll von Museen der verschiedensten Art, immer aber eine Fundgrube der Kulturgeschichte. „Und was lesen Sie am liebsten?“, Julien weiter.
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Das sei mit einem Wort nicht zu erklären, entgegnete Blanche, aber in letzter Zeit lese sie viele Kunstbücher, die sie sich in den Bibliotheken ausleiht. Sicherlich hatte sie sich ein gedankliches Konstrukt vorgestellt, mit dem sie die Möglichkeit eines neuen Lebens ausprobiert. Aber sie verwarf den Gedanken schnell aus Rücksicht zu ihrer Familie.

„Was sind Sie von Beruf?“ fragte Blanche. „Meine Arbeit hat viel mit Zukunftsvorhersagen im technologischen Bereich zu tun“, sagte Julien. „Vor fünf Jahren nach Beendigung meines Studiums in Wirtschaftswissenschaften, erhielt ich über Beziehungen meines Vaters, die Gelegenheit für das Wirtschaftsministerium in Sachen Zukunftstechnologie tätig zu sein. Eigentlich wollte ich in das Unternehmen meines Vaters einsteigen. Die Firma meines Vaters exportiert einfach ausgedrückt Verpackungsmaterial. Meine Kindheit verlebte ich sicherlich wohlbehütet in einem Gutshof in l`Aigle in der Normandie. Ich besuchte die französische Grundschule Ecole Paris und machte mein Abitur im Gymnasium Lycée Charles de Gaulle in Paris. Seit drei Jahren habe ich eine Wohnung an der Champs-Élysées“. Er blickte auf, als ihn plötzlich einfiel dringend telefonieren zu müssen. Julien entschuldigte sich kurz bei Blanche und ging aus dem Bistro um zu telefonieren. Nachdenklich runzelte Blanche ihre Stirn und entdeckte eine große Uhr im Bistro, die sich zeitlos, beinahe organisch in den Hintergrund einfügte. Bisher kannte sie niemand der so war wie Julien. Sie spulte automatisch Szene für Szene ihrer Erinnerung zurück, um einen Vergleich anstellen zu können. Es gelang ihr nicht. Sie fühlte sich unsicher und unklar, gar nicht mehr unplugged, sie spürte, das in ihr etwas vorging was sie sich nicht erklären konnte. Ihr wurde ganz heiß im Gesicht, sie spürte ein Pochen bis zum Hals. „Blanche, Blanche“ rief Julien. Erst beim dritten Mal reagierte sie. „Entschuldigen sie, ich war in Gedanken“. Julien teilte ihr mit, er müsse dringend weg. „Hören sie, ich würde sie gerne wiedersehen“, sagte er mit einem gewissen Selbstbewußtsein. „Wollen wir dann nicht zusammen zu Abend essen? Ich reserviere einen Tisch in einem Restaurant das ausgezeichneten Fisch serviere“. Gab ihr den Namen des Restaurants, Geld und rief ihr zu: „Um 8 Uhr, und bitte zahlen sie die Rechnung, Salut“ und verschwand derart, wie er sie vor ein paar Stunden umgerannt hatte.
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Blanche konnte den Gruß gar nicht erwidern, geschweige denn ihm mitteilen, ob sie denn überhaupt gedenke die Einladung anzunehmen. Sie trug ihr Gefühlschaos wie ein offenes Taschenmesser im Gesicht herum, im Zwischenraum dieser Unmöglichkeit angesiedelt befand sich ihr Zwiespalt zwischen Annahme und Verweigerung.



Das Restaurant, in dem Julien einen Tisch hatte reservieren lassen, war nicht weit weg von der Metro-Station Rochefort-Denfereux entfernt, also jener Station wo Blanche ihre Rosen zu verkaufen pflegte. Es lag etwas versteckt in der Rue Daguerre 21, in dem früher ein berühmter Pariser Feinkostladen

Chez Feuillet stand. Das Restaurant übernahm einfach den Namen, das eröffnete bessere Möglichkeiten. Blanche war etwas früher da, sie fühlte sich so besser. Nachdem sie am Eingang Juliens Namen genannt hatte, wurde sie an einen Tisch geführt, der im hinteren Bereich des Restaurants lag und eine gute Übersicht bot.

Sie trug ein nachtblaues Trägerkleid aus Satin und hatte ihre Haare mit einer schmalen Silberspange hochgesteckt. Julien kam pünktlich. Er wirkte verändert, beinahe wie ein Chamäleon verändert war sein Aussehen. Es sah so gar nicht nach seiner Yuppieaufmachung aus – er trug Jeans und ein lässig über der Hose getragenes schwarzes Seidenhemd und dazu passende Sneakers.

Als Blanche im sah, lächelte sie ihn an und er erwiderte ihr Lächeln. „Hoffentlich mußten Sie nicht zu lange auf mich warten“ sagte er. „Nein, kein Problem, sie waren ja sehr pünktlich. Ich bin aber gerne immer etwas früher da bei einem Date“. Julien setzte sich Blanche gegenüber. „Schön, dass sie gekommen sind, ich hatte beinahe die Befürchtung, ich müsste allein zu Abend essen“. Sie sah ihn mit großen strahlenden Augen an und lächelte. „Man lernt nicht jeden Tag jemand kennen, der einem alle Blumen abkauft. Was haben sie damit gemacht?“ Das Eis war gebrochen. „Ich konnte sie nicht mit nach Hause nehmen, so habe ich sie meiner Sekretärin gegeben, die sich sehr darüber freute“. „Erlauben Sie mir für uns zu bestellen?“ Blanche hob ihr hübsches Medusenhaupt und antwortete, „ja gerne“, als wäre sie froh nicht selbst wählen zu müssen.
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Julien wählte sorgfältig die Speisen aus, dazu Rotwein und Wasser. „Ich für meinen Teil bevorzuge Rotwein zu Fisch“, sagte er in einen unerwartet bestimmten Tonfall. Blanche war ein wenig irritiert und ignorierte seine Aussage. Vielmehr wollte sie wissen, was er in seinem Job der mit Zukunftsprognosen zu tun hat denn genau macht. Julien nahm einen Schluck Rotwein und erklärte „Es geht darum herauszubekommen wie die Welt in fünfundzwanzig Jahren aussehen könnte. Es ist eine Denkaufgabe im Raum, die viele Wissenschaftler aus allen Bereichen beschäftigt, auch wenn Zukunftsvorhersagen in vielen Bereichen am aller ehesten als Fünfjahresprognosen gemacht werden. Es geht um Überwachungsstaat, Nano-, Gen- und Quantentechnologievisionen, Künstliche-Intelligenz-Szenarien, Kriegsszenarien usw. Sie können sich sicherlich vorstellen, daß viele Wissenschaftler vor vollmundigen Ankündigungen und Prognosen zurückschrecken. Entsprechend schwammig fallen so auch ihre Ergebnisse aus. Aber wirkliche Wissenschaftler sind dünn gesät, sie werden ersetzt durch eine Generation von Laptopjunkies, die den Wald vor lauter Bäumen nicht sieht“. „Das hört sich nach lückenloser Kontrolle der Menschheit an“ antwortete Blanche. „Macht ihnen das den keine Angst?“ „Nein, im Gegenteil, nur ein lückenloses Sicherheitssystem gewährleistet einen Schutz der Bevölkerung z.B. vor Terroranschlägen wie sie vor ein paar Monaten in Madrid geschahen“. Ist das der Grund warum Sie heute mittag nicht mit der Metro gefahren sind“? „Wenn ich ehrlich bin, ja ich denke schon“, sagte Julien und sah gleichzeitig in Augen voller entsetzen von Blanche. „Ich meide nicht nur die Metro, sondern alle Plätze die potentielle Gefahrenquellen sein könnten“. „Sehen sie, sagte sie, es kann uns überall treffen, auf der Straße, ein Dachziegel, ein Überfall etc. ein kann aus Versehen geschehen, aus heiterem Himmel, es kann auch gezielt mit Kalkül passieren, sie können sich vergiften hier im Restaurant oder sie können von jemanden auf der Straße einfach umgestoßen werden, dafür gibt es keinen Schutz“. Julien beharrte auf seine Meinung der Notwendigkeit von präventiver Sicherheit und Abschreckung. „Aber damit schränken sie das ein, was eine Stadt wie Paris, was das Menschsein ausmacht.
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Das die Stadt chronisch schwindsüchtig ist, obwohl sie zuwuchert, kann nicht geleugnet werden. Es ist nicht nur ein Ort des totalen Verbrauchs, der totalen Unfähigkeit zu recyclen - es ist eine Explosion, ein Ereignisreichtum es ist pure Lebensenergie. Sicherlich manchmal scheint es, als werde dem Einzelnen in der Stadt eine Hülle übergestülpt, die im Handumdrehen eine Seelenfinsternis verursacht. Die allerdings tritt als ihr exaktes Gegenteil in Erscheinung, als kraftvolle, freie, selbstbewusst leuchtende Aura uneingeschränkten Spielraums, an dessen Handhabe sich zeigt, wer lebt und wer nicht – das ist unplugged – reales leben“. Julien wollte in diesem Moment was sagen, aber Blanche war in Fahrt. „Die Stadt ist ein Ort, dessen Eigenleben, dessen Vitalität der einer biologischen Zelle ähnelt. Jede führt, um zukünftig zu bleiben, zahlreiche Bewegungen gleichzeitig aus. Jede bewahrt, erinnert und verteidigt ihre Form; jede setzt sich entschieden zur Wehr, wenn sie ihr Dasein bedroht sieht, und jede spannt alles für sich ein, was ihr zur Fortpflanzung verhilft, verstehen Sie?“

„Diese Impulse, diese Elektrizität benötige auch ich zum Leben – das ist unplugged – und all das wollen sie mit Restriktionen Ihrer Zukunftsvisionen zerstören“? Blanche war die Aufregung ins Gesicht geschrieben, sie war errötet und nahm ein Glas Wasser zu sich. Julien kam sich vor als wäre er von einem Sturm überrollt worden, ohne die Chance zu haben sich irgendwo zu verstecken. „Darf ich ihnen ganz ehrlich sagen, was ich denke, fragte Julien? „Selbstverständlich alles.“ „Ich bin der Meinung, dass man in allem was wir tun Kompromisse machen müssen. Es wird sicherlich getan werden, was getan werden muss, bestimmt aber ist das, was sie so euphorisch vertreten, bereits vielmehr verändert, als sie sich es vorstellen können. Es geht nicht allein darum das man einschränkt, kontrolliert und überwacht, es gilt einfach ein Hochmaß an Sicherheit gewährleisten zu können.

Aber um Ihnen zu zeigen das ich auch ein Mensch bin erzähle ich ihnen, das ich als Junge in der Normandie zusammen mit den Mädchen auf den Steinboden vor den Häusern Himmel und Erde (le jeu de la marelle) gespielt habe“. Blanche lachte sofort lauthals auf, während Julien bereits den Kellner ein Zeichen gab und ihn um die Rechnung bat.
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„Wollen Sie noch auf ein Glas Rouge zu mir kommen, fragte Julien. Auf diese Frage hatte Blanche den ganzen Abend gewartet, ohne sich klar darin zu sein, wie sie antworten sollte. Dennoch lenkte sie ein, vielleicht aus Neugier, aus Abenteuerlust, vielleicht weil sie vor allem Bestätigung sucht für ihre versteckten Sehnsüchte, alle Hemmungen fahren lassen zu dürfen. Auf der Fahrt zu Juliens Wohnung dachte Blanche daran auf einer grünen Wiese zu liegen, in deren Mitte ein Wassersprenger Kreise zieht, als würde er die zyklische Zeit messen, die den linearen Zeitvorstellungen, mit denen wir heute leben, vorangegangen sind.



Julien reichte Blanche ein Glas Rotwein „Ich dachte nicht, dass ihre Wohnung so groß sein würde“, sagte Blanche und drehte sich tänzerisch um die eigene Achse und breitete ihre Arme aus als wolle sie die ganze Welt umarmen. “Es ist ein wirklich großes Penthouse mit ca. 170 qm und beinahe alles in Küche und Bad ist halb automatisch“. Blanche dachte unverzüglich daran, das sie und ihre Familie in Marne-la-vallé gerade mal 75 qm zu zehnt haben. „Haben sie eine Frau oder Freundin“? Julien hatte plötzlich einen Gesichtsausdruck, als huschten Geister vergangener Augenblicke vorbei und streiften ihn wie ein Luftzug voller Farben und Klänge. Normalerweise dauerte ein solcher Augenblick Bruchteile von Sekunden oder höchstens eine Traumphase lang, aber Julien war mehr als einsam. „Ich war verlobt, aber das ist Schnee von gestern“. „Fühlen sie sich nicht einsam in diesem Penthouse“? „Ich habe immer etwas zu tun und daher kümmere ich mich nicht darum“, sagte er. "Liebe ist das, wo immer einer leidet und der andere sich langweilt. – Das sage ich ohne Zynismus, ohne Ironie. Aber sie, sagte er, wirken so frei und lebendig ohne Schäden und ohne Wunden.“

„Wissen sie Julien, sagte Blanche, der Zufall hat uns einen Augenblick der unerbittlichen Wahrheit geschenkt. Ich dachte unser Zusammentreffen - es ist mehr als ein Szenario der Desillusionierungen, der Gleichgültigkeiten - ein Reigen der Vergeblichkeit, welcher doch immer wieder eine tiefe Sehnsucht nach Erfüllung sucht. Sie sind intelligent und erfolgreich und sie haben eine große Furcht. Die Frucht alles zu verlieren was sie besitzen. Aber das ist nicht wirklich viel. Meine Familie und ich leben auf 75 qm und wissen nicht wie wir von einem Tag auf den anderen Leben sollen.
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Begreifen sie wovon ich rede? Wir haben alle unsere Ängste, doch unsere Ängste unterscheiden sich von den ihren, sie sind nicht paranoider Art, dennoch sind wir glücklicher, denn wir haben uns, wir haben etwas das viel mehr wert ist als ein großen Penthouse und einen Traumjob – wir empfinden Liebe füreinander“. Julien, „zeigen sie trotz aller Härte Mut zu Gefühlen und Emotion und lassen sie zu, wogegen sie künstlich Ankämpfen –Liebe“.

Blanche nahm ihre Tasche, trank das Glas Rotwein leer, legte einen Arm um Julien, küsste ihn und verlies das Penthouse.

Blanche wusste, das dies einer jener Begegnungen war, die nur zustande kommen, wenn sich vieles verbindet, um sie zu ermöglichen - sie scheinen zufällig zu sein und sind doch viel mehr durch das, was sie an dauerndem und sich ständig vermehrendem Gewinn stiften. So hatte sich die Szenerie ihres Lebens in unglaublich kurzer Zeit vollkommen verändert. Blanche, die Frau auf der Jagd nach Abenteuer verschwand im Lichterchaos der Stadt.

Juliens Beziehungen kaschierten die Leere nicht, die ihn dazu trieb, sich panisch an die Oberfläche von Dingen zu klammern die er für wichtig hielt. Er war ein Gefangener seiner Ängste und Illusionen.

Er für seinen Teil kündigt sich insgeheim an, er werde sich in wenigen Stunden in eine Frau verlieben die er noch nicht kennt. Sie haben sich nur gestreift, ganz kurz, nur den Bruchteil eines Millimeters von einander entfernt ohne zu wissen, das das Schicksal oder der Zufall sie ein zweites mal zueinander führen wird. Dort hängt er seinen Träumen von Veränderung nach, während er die Wirklichkeit seines Misserfolges nicht erkennt.

Blanche wäre dann das gedankliche Konstrukt, mit dem er die Möglichkeit eines neuen Lebens ausprobiert.



Es ist nur eine Kurzgeschichte. Es ist alles konstruiert - aber es schmerzt trotzdem. Etwas ist geschehen mit dieser Stadt, mit diesen Menschen, mit der Liebe und dieses Etwas birgt eine sublime Traurigkeit. Dennoch ist alles unplugged.
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Punktestand der Geschichte:   12
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  Und ziemlich langweilig.  
Chris Stone  -  26.02.05 18:17

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