Aktuelles und Alltägliches · Kurzgeschichten

Von:    Thomas Redfrettchen      Mehr vom Autor?

Erstveröffentlichung: 30. Mai 2004
Bei Webstories eingestellt: 30. Mai 2004
Anzahl gesehen: 2604
Seiten: 3

Silberne, glänzende Stücken schwimmen in der roten Schale. Wie kleine Brocken des Mondes gleiten sie von dem metallenen Löffel, mit dem ich in der Schale umherrühre. Jede Berührung des Randes erzeugt ein klingendes Geräusch, wenn ich stärker schlagen würde, könnte man ein Echo hören. Wäre bloß nicht diese Musik, die aus dem Fernseher neben der Schale dringt. Beide Gegenstände und dazu noch eine zehn Jahre alte Matratze, dessen Eisenfedern mich traktieren, wenn ich auf der Seite liege, liegen auf dem braunen, ebenfalls uralten Linoleumboden, unweit von der Zimmertür. Ich nehme einen leicht süßlichen, doch wie ich weiß ungesunden Geruch war, der von dem Lösungsmittel ausgeht, mit dem Reste der selbstklebenden Auslegware entfernt wurden. Im Schein des Fernsehers sieht man noch einige Krümel auf dem sonst blanken Boden.

Ich erinnere mich daran, wie ich vor dem Teppich saß und ihn mit einem Messer in transportablen Stücken schnitt. Ich erinnere mich an den Dreck, der sich in fast zehn Jahren angesammelt hatte und beim Ablösen des Teppichs deutlich zum Vorschein kam. Zuvor standen helle Holzschränke mit türkisen Streifen im Raum, links ein Schreibtisch mit zwei Vitrinen und rechts das Bett mit diversen Schränken davor, darüber und dahinter. Jetzt, wo das alles zusammen mit dem giftgrünen Sofa abtransportiert wurde, wirkt das Zimmer immer noch klein.

An den Wänden hängt seit fast zehn Jahren dieselbe Tapete, oben sind noch kleine Bärchen zu sehen. Man kann deutlich erkennen, wo Möbel standen und wo nicht. Brau-graue Flecken zieren die Wände. Nur das nötigste blieb im Zimmer stehen: Der Computer, ohne den ich selbst die letzten Tage vor dem Umzug nicht überleben könnte, der Fernseher, der mich neuerdings immer wieder an die Musikkanäle fesselt und vier Umzugskartons mit einigen Alltagsgegenständen darin. Und natürlich noch die Matratze samt Bettzeug, auf der ich gerade liege.

Von unseren letzten Vorräten habe ich mir eine kleine, unscheinbare Dose mit Ananasstückchen unter höchster technischer Anstrengung geöffnet. Ich musste überrascht feststellen, dass 340 Gramm Bruttogewicht eine ganze Schale füllen. Aber ich muss sie schließlich aufessen oder Ärger kassieren, weil ich den wertvollen Platz im Kühlschrank belege.
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Doch schon nach einigen Stücken wird mir schlecht. Zudem habe ich nun Fasern zwischen den Zähnen und keine Lust mir die Zähne zu putzen. Noch morgen werden sie mich an meinen Ausflug in die Küche des Dosenessens erinnern.

Müde blicke ich auf den Fernseher. Die Musik verschwimmt in meinen Ohren zu Gequake, als ob ich sie unter Wasser hören würde. Eine kleine Anzeige am unteren Bildschirmrand weist mich darauf hin, dass sich das Gerät in einer Minute von selbst ausschalten wird. Schade, denke ich mir, als es plötzlich Knackt und der zuvor von Bildern strahlende Apparat zu einem schwarzem Kasten wird.

Die Stücken in meiner Schale sind nun nicht mehr silbern. Draußen ist es düster, wahrscheinlich Neumond oder so etwas. Auf jeden Fall reflektieren die weißen Platten der Außenbeschichtung des Hochhauses gegenüber nicht viel Licht. Dies ist eine der letzten Nächte, in der ich versuchen könnte, sie zu zählen. Doch zunächst muss ich ein bisschen Ananas nachlegen. Auf der Dose stand „Leicht gesüßt“. Dem kann ich nichts entgegensetzten. Aber es weckt in mir die Vorstellung über den Weg der Südfrucht in meine Schale. Ich frage mich, wie man sie erntet, würde auch sofort in meinem Lexikon nachschauen, wenn es nicht schon irgendwo in einem Umzugskarton verschollen wäre.

Es ist nicht still. Wenn man bewusst weghört, nimmt man das Ticken der Uhr in meinem Zimmer um so mehr war. In manchen Nächten bin ich fast verrückt geworden durch das ewige „Klick“. In dem leeren Raum gibt es auch noch einen schönen Widerhall. Gegen diesen Psychoterror hilft nur Ablenkung, wieder durch Musik. Die Droge, die mich in den letzten Tagen davor bewahrt, lauthals loszuschreien und diesen Umzug zu verwünschen.

Es ist kein harter Bruch, das Schuljahr ist fast zu Ende und nach den wohl nicht so erholsamen Ferien beginnt die elfte Klasse. Hier in Mitte halten mich eigentlich nur meine Freunde. Im Süden Berlins erwartet mich eine eigene, neu eingerichtete Etage, eine ruhigere Wohnlage, ein besseres Gymnasium und vor allem genug Chancen für einen Neuanfang in diesem. Aber gerade vor diesem Neuanfang habe ich Angst. Im Allgemeinen ängstigt mich Veränderung. Alles hat an seinem Platz zu sein oder in seiner geordneten Bahn zu laufen.

Diese Fruchtstücken passen nicht ins Konzept, nicht zum allabendlichen Ablauf.
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Und so schmecken sie mir auch. Doch ich zwinge mich das letzte mit dem gesüßten Wasser hinunterzuspülen, bevor ich mich auf den Rücken drehe. Ohne hinzusehen betätige ich die Tasten des CD-Players, der dann in gewünschter Lautstärke meine beste und einzige CD abspielt. Jeden Beat kenne ich auswendig, kann sogar abmessen, wieviel Zeit seit dem Start der CD ungefähr vergangen ist.

In der richtigen Schlafposition und mit den richtigen wirren Gedanken sowie der Hoffnung auf ein schönes, weiteres Leben schlafe ich schließlich ein.
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Punktestand der Geschichte:   40
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Kommentare zur Story:

  joar, gefällt mir...^^ ich mag solche detailbeschribungen auch gerne, die machen die umgebung erst lebendig!  
darkangel  -  24.01.07 17:39

   Zustimmungen: 5     Zustimmen

  Jaja, der Umzug.. nicht immer eine schöne Sache. War bei mir gleich nach derr 4. Klasse.. neue Stadt, neues Umfeld und alles viel größer und unbekannter.
Aber an die letzen ruhigen Stunden in meinem Zimmer kann ich mich auch noch erinnern. Sehr schön beschrieben, hab mich wieder wunderbar an die Zeit von vor knapp 8 Jahren zurück versetzen können.
Klasse, hast Potential en mass , würd ich mal sagen ^^  
Crack  -  06.02.06 19:49

   Zustimmungen: 5     Zustimmen

  jaja..umzügee....ich hasse sie ja! ich meine..erstmal der ganze stress, dann eine neue gegend..neue leute...ich glaub´, ich hasse auch veränderungen *g*.
also, du hast das mal wieder verdammt gut geschrieben..aber wen wunderts? von dir bin ich nichts schlechtes gewöhnt ;)
ich liebe es ja, wenn du etwas so detailliert beschreibst..du hasst es einfach drauf, junge *g*! und ich sag dir, du wirst dich einleben..auch an der neuen schule....ich mein, du wirst eh lernen ohne ende, elfte isn scheiß schuljahr find ich..komm ich jetz auch! ey, auf jeden fall wenn du jemals ein buch schreibst, ich werde die erste sein, die es kauft!
-5 pkt.-

ps: schön mal etwas neues im portrait zu lesen...und sooo schlimm is das foto gar nich, stell dich nich so an *gg* ;) is doch cuuute ;)  
sMiThY  -  07.06.04 21:53

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  du solltest wirklich mal ein buch schreiben!!! dein potenzial erscheint riesig.

ich bin in meinem leben schon 5! mal umgezogen und war in noch mehr verschiedenen klassen. für mich persönlich war es immer eine neue herausforderung, und immer und überall ging es gut. man findet überall vernünftige leute. ich glaube, das die erfahrung die man mit dem umzug gewinnt, den verlust des lebens vor dem umzug deutlich ins abseits stellt (kanns nicht richtig ausdrücken).
ciaociao
-full house-  
zizou  -  01.06.04 23:05

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  Umzug - Zeit des Neuanfangs, der Änderung.
Abschiednehmen von Altbekanntem, die letzten wehmütigen Momente in vertrautem Zimmer, Ort, ja - auch Kindheit...
ich musste auch oft übersiedeln, drei Mal Schule wechseln, neu anfangen...es ist immer schlimm im Anfang, aber in einem Monat hast du dich eingelebt, dann kennst du einige Leute und dein Leben beginnt wieder normal zu werden.
Kopf hoch, Thomas, deine Freunde sind ja noch in derselben Stadt, und du wirst noch neue dazu gewinnen.
ich wünsche dir einen stressfreien Umzug und einen guten Start in der neuen Umgebung!
Gruß,
Heidi  
Heidi StN  -  30.05.04 19:57

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Hallo, besonders die letzte strophe gefällt mir. Wäre das leben nur schön und man hätte alles, wäre man auch nicht glücklich. lg Holger

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