Nachdenkliches · Kurzgeschichten

Von:    Heiko Sonnleitner-Seegmüller      Mehr vom Autor?

Erstveröffentlichung: 11. März 2004
Bei Webstories eingestellt: 11. März 2004
Anzahl gesehen: 1905
Seiten: 3

Jo verließ sein altes, vom Schmutz der Zeit grau gefärbtes Haus. Auf den Straßen herrschte tiefes Schweigen und die erstarkende Kraft der aufgehenden Sonne vermochte es noch nicht, die dichten Nebelschwaden auf den Straßen zu vertreiben.

Langsam lief der Mann auf sein Fahrzeug zu, welches einsam auf dem grauen Asphalt stand. Nur sein eigenes, leises Atemgeräusch erklang gleichmäßig in den von rauschendem Schweigen erfüllten Ohren.

Jeden morgen verließ der ältere Mann sein Haus um die gleiche Uhrzeit. Auf die Minute genau. Jeden morgen das gleiche geliebte Ritual. Seit langen Jahren.

Jo ließ seine Blicke über die Fassade seines Hauses gleiten, dann wandte er sich um und betrachtete sich die hohen Bäume, welche seinen beinahe ritualisierten Weg Tag für Tag begleiteten. Unbestimmte Unsicherheit keimte in seinem Inneren auf. Betrachtete er sich diesen Ausschnitt der Welt, so erschien ihm alles vertraut, gewohnt. Dennoch empfand er ungewisse Fremdheit und je genauer seine Blicke wurden, desto mehr verstummte jene Vertrautheit, die seinem Leben einen für ihn beruhigend Halt gab.

In wirren Gedanken versunken öffnete Jo unter einem quitschenden Stöhnen die Tür seines alten, blauen Automobils. Noch immer schweiften seine suchenden Blicke über die Ebene und tauchten in das undurchdringliche Weiß des dichten Nebels. Die Tür schloss sich. Für einen Moment blieb der Unsichere regungslos sitzen und betrachtete sich durch die vom Tau benetzten Scheiben die regungslose Umgebung.

Ohne die Blicke von diesem Panorama abzuwenden, schob er das kalte Metall des Schlüssels in das Schloss. Das dumpfe, dröhnende Geräusch des erwachten Motors stieg in die Luft; verdrängte dieses rauschende Schweigen, welches noch vor einigen Sekunden allgegenwärtig war.

Die Räder bewegten sich.

Die Unsicherheit würde nun ein Ende nehmen. Wie jeden morgen würde er zur Arbeit fahren; wie jeden Tag würde er seine Arbeit beenden und auf dem ersehnten Heimweg noch einige Nahrungsmittel einkaufen. Wie immer würde er am Abend heimkehren und war nicht mehr gezwungen sein Heim zu verlassen. Er liebte diese Abgeschiedenheit. Er liebte dieses kleine Reich, weit entfernt von der hektischen Zivilisation.

Je weiter der Mann sich von seinem Haus entfernte, desto dichter umgab das weiße Gebilde jenes Fahrzeug, das Jo aus der Unsicherheit führen sollte.
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Mit jedem Meter verschlang der Nebel mehr und mehr den grauen, nassen Asphalt.

Konzentriert, mit starrem Blick verfolgte der Fahrer die Straße. Minute um Minute. Langsam fahrend.

Wieder lichtete sich der Nebel.

Jo atmete tief die von der Heizung gewärmte Luft ein. Entspannter ließ er sich weiter in den Sitz zurücksinken.

Ein kurzes Ziehen nach vorne. Hektisch kreisten seine Blicke über die hölzernen Giganten am Wegrand. Unsicherheit. Angst.

Nichts erinnerte mehr an die seit langer Zeit vertrauten Eindrücke die sich ihm nun hätten offenbaren müssen. Jo verspürte einen unstillbaren Drang. Flucht. Suchend flogen seine Blicke über die Fremde. Ein Zittern erfasste seinen schmächtigen Körper. Immer mehr überschlugen sich seine Gedanken.

Fast panisch ließ der Mann den Motor aufheulen; fuhr er los.

Ein Haus tauchte am rechten Wegrand auf. Noch niemals zuvor war ihm ein Haus auf seinem einsamen Weg aufgefallen. Immer deutlicher und deutlicher erschienen die Mauern vor seinen Augen. Unbeirrbar richteten sich seine Blicke auf dieses Gebilde. Es konnte nicht sein. Es durfte nicht sein. Es musste eine unscheinbare Abzweigung auf seinem täglichen Weg gewesen sein. Eine Abzweigung, die ihm noch niemals zuvor, in all den Jahren, aufgefallen war. Wie sollte er sonst wieder hierher zurück gekommen sein. Aus welchem Grund sollte er wieder an seinem Haus ankommen. Es gab nur dieses Möglichkeit.

Ohne anzuhalten fuhr Jo weiter. Zum ersten mal in seinem Leben schien er seine Gewohnheiten zu verlassen. Unsicherheit, Angst.

Wieder tauchte er in den Nebel ein. Wieder waren seine Blicke konzentriert. Wieder fuhr er aus dem Nebel. Wieder kam er an sein Haus. Dieser Weg. Wieder und wieder fuhr er diesen Weg.

Seine Augen weiteten sich. Unendliche Angst erfasste jede Faser, jede Zelle seines Körpers. Was sollte er tun?

Immer und immer wieder kehrte er an diesen Ort zurück. Unzählige male.

Resigniert hielt Jo den Wagen an. Seine Augen starrten geradeaus. Seine wirren Gedanken schienen sich zu überschlagen. Noch immer hielt ihn dieses unkontrollierbare Zittern gefangen. Noch immer blieb er regungslos, das Lenkrad fest umklammert, sitzen.
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Seine Blicke streiften noch einmal die hölzernen Kolosse, das tiefe Grau der Straße, das nasse, dunkelgrüne, hohe Gras. Noch einmal tasteten sich seine resigniert wirkenden Augen die alte Fassade entlang. Dann richtete sich seine ungebrochene Aufmerksamkeit auf jenes Schild, das er bereits vor vielen Jahren über dem schmalen Eingang dieses Gemäuers montierte. Minutenlang, ohne Unterbrechung las er jene Worte, die ihn sein Leben lang unbemerkt begleiteten.



„Willkommen Gefangener deiner eigenen Welt.“
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Punktestand der Geschichte:   90
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Interessante Kommentare

Kommentar von "Sebastian Krebs" zu "Ein Wort zum Valentinstag"

Durchaus nette Geschichte, die einen wohl wahren Kern behandelt. Fünf Punkte und ein Trullala!

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