Pillengesichter (die ersten Seiten von Teil 1)   8

Romane/Serien · Aktuelles und Alltägliches

Von:    Axel Pinot      Mehr vom Autor?

Erstveröffentlichung: 15. Januar 2004
Bei Webstories eingestellt: 15. Januar 2004
Anzahl gesehen: 2154
Seiten: 11

Diese Story ist Teil einer Reihe.

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   Teil einer Reihe


Ein "Klappentext", ein Inhaltsverzeichnis mit Verknüpfungen zu allen Einzelteilen, sowie weitere interessante Informationen zur Reihe befinden sich in der "Inhaltsangabe / Kapitel-Übersicht":

  Inhaltsangabe / Kapitel-Übersicht      Was ist das?


Teil I



Winter





MARTIN

Über Nacht hat es geschneit und das tut es noch immer. Dicke Flocken fallen an meinem Fenster vorbei auf die Erde. Eine ganze Zeit lang bleibe ich in meinem Bett sitzen und schaue mir dieses Bild an, und obwohl es sich ständig verändert, bleibt eine schwebende Gleichmäß- igkeit, die mich schon am Morgen irgendwo berührt. Es könnte ein schöner Tag werden.

Schnee schmilzt, kaltes Wasser läuft irgendwann an meinem Gesicht herab, als ich mit dem Fahrrad zur Schule trete. Ich bin spät dran und beeile mich nicht. Schnee knirscht unter den Reifen der Räder, ein unendliches Knacken. Es ist Freitag, und was auf mich zukommt, weiß ich nur grob: das Schulgebäude, eine Collage aus Hässlichkeit und Hochmut mit Angestellten, die sich Lehrer nennen, und am Ende nicht einmal Angestellte, sondern so genannte Beamte sind. Und Leistungs- kurse, deren Leistung es ist, ein bißchen über das wie zu erfahren und nichts über das was. Und eine Klasse, deren Schüler meine Mitschüler sind, ich aber eigentlich nicht kenne. Ich weiß gar nicht, was in mir diese Gedanken macht, jetzt sind sie halt da, nicht mehr und nicht weniger. Vielleicht ist es das unendliche Knacken, das mich so denken lässt. Ich weiß nicht was es ist. Eigentlich weiß ich meistens nicht was es ist, und das ist ja auch kein Wunder, denn ich lerne ja auch nur wie etwas ist.

Zehn Minuten sind es von meiner Wohnung in die Schule, meistens nehme ich das Fahrrad. Zumindest im Winter, weil ich den Choke an meinem Auto nicht verstehe oder er mich nicht, ich weiß es nicht.

Ich schließe mein Fahrrad an einem rostigen Gestell ab und stapfe hinein in die mit Linoleum ausgelegte Eingangshalle. Ich schaue auf das Brett mit dem aktuellen Stundenplan, es könnte etwas ausfallen. Es fällt oft etwas aus. Es fällt nichts aus. Fünf Stunden, ich werde sie überleben. Was auf mich zukommt, weiß ich nun schon genauer: Zwei Stunden Chemie, bei einem tatterigen Greis, dessen Leidenschaft in ferner Vergangenheit wohl einmal diese Wissenschaft gewesen sein muß. Und es erwartet mich eine Litanei, die mich schon vor Jahren müde gemacht hat zuzuhören. Danach wird zwei Stunden die Stubenfliege – meine Englischlehrerin – surren, bis zur Klingel, die sie wie eine Patsche erledigt.
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Neben mich stellt sich der Tobias, er sagt, das mit heute abend geht in Ordnung.

Ich weiß nicht, ob ich mich darüber freuen soll.

Silvester, kaum drei Wochen her, irrten wir ziellos von einer Party zur nächsten. Eine absolute Katastrophe. Der Abend war so mies, dass ich nicht einmal Lust hatte, mich zu betrinken. Schließlich hockten wir auf einer Feier zwischen beknackten Typen und angetrunkenen, hysterischen Weibern, die uns zum Tanzen animieren wollten. Wie wir dort hineingerieten, ist mir bis heute schleierhaft. Für mich gab es nichts zu tanzen. Aus der überlasteten Stereo-Anlage dröhnten verzerrte Laute, wie aus einem Reißwolf die Töne einer Drehorgel. Irgendwann, das neue Jahr war schon einige Stunden alt, ich hatte längst genug und betrachtete mein Bett als meinen Freund, den man schnellstens besuchen mußte, sagte der Tobias, er würde sie jetzt nehmen. Neben mir stolperte so ein blöder besoffener Punk über meine fast volle Bierflasche, natürlich ohne etwas zu bemerken. Bier macht keine Flecken, aber das war mir egal, es hätte auch Rotwein sein können. Wir rauchten einen Joint nach dem anderen, ohne dass sich mein desolater Zustand auch nur im Geringsten veränderte. Meine Augen wurden immer röter (die vom Tobias, sie sahen nicht viel besser aus) und wären sie nicht von der Hälfte meiner Lider verdeckt gewesen, vielleicht hätten sie etwas Dämonisches gehabt. Mit dem Teufel aber hatten sie nichts zu tun, der kam nämlich geradewegs aus den Lautsprechern und grölte mich höhnisch an. Motörhead, glaube ich war’s – mindestens.

Der Tobias saß mit einem Mal direkt neben einem dieser dicken Lautsprecher und grinste mich an, und es war kein Grinsen, es war ein Lächeln – es war unglaublich. Ich schleppte mich zu ihm herüber. Seine Augen waren jetzt nicht mehr rot, sie strahlten so weiß wie nach einem Kochwaschgang und seine Pupillen waren fast schwarz und es schien mir, als drohten sie ihm wie Murmeln gleich aus dem Kopf zu kugeln.

Er sagte, bau‘ doch noch einen, und legte seine kalte und schweißige Hand in meine. Ganz wohl war mir nicht dabei, aber ich ließ es geschehen. Man konnte diesem Gesicht nichts abschlagen. Wie ein kleines zufriedenes Kind auf das man aufpassen muß, kam er mir jetzt vor.
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Vorsichtig nahm ich meine Hand aus seiner. Ich baute den Joint, den zehnten oder zwanzigsten, ich weiß es nicht mehr. Noch nie zuvor habe ich ein dankbareres Gesicht gesehen, als ich ihm die Haschischzigarette zum Anrauchen herüberreichte. Er zog daran, und sein Gesicht strahlte vor Güte und Gleichmut. Ich fühlte mich geehrt.

Es war früher Morgen, und ich schon mehr oder minder scheintot, als ich den Tobias bei jemandem mit dem Namen Jonas ablieferte. Da würde noch was abgehen, sagte er. Und ob ich nicht mitkommen wollte, fragte er noch. Ich muß ausgesehen haben wie ein Kumpel nach dreißig Tagen nonstop Untertage und wünschte ihm viel Spaß. Der Tobias tänzelte davon. Wie gesagt, es war unglaublich.

An den Wintermorgen sind die Fenster in den Klassenräumen nicht geöffnet, weil es draußen kalt ist und die Heizungen glühen, und so vermengen sich die Eigengerüche der Menschen, die hier ein- und ausgehen zusammen mit den Gasen, die aus dem frisch gelegten Kunststoff-Teppich dringen, zu einer eigentümlich chemisch-säuerlichen Mischung, irgendwo zwischen Meister Proper und kaltem Schweiß. Und bevor ich meine Jacke über einen dieser Folterstühle hänge, kommt in meinem Kopf eine Übelkeit auf, eine Übelkeit gepaart mit einer Müdigkeit, die mich schon jetzt bereuen läßt, dass ich heute überhaupt aufgestanden bin. Es hätte doch ein schöner Morgen werden können.

Der tatterige Greis betritt das Klassenzimmer und schaut als erstes in jenes grüne Heft, das sich Klassenbuch nennt. Es heißt tatsächlich so, Klassenbuch, das muß man sich mal vorstellen, als würde da etwas über uns drinstehen. Von einer Sekunde zur nächsten wird der Raum um einen Geruch reicher, ein Geruch, der allen anderen überlegen ist und sich dick und schwer über die anderen legt. Ich habe wirklich keine Ahnung, woher der Mann dieses Aroma hat, jedenfalls bringt er es jedesmal mit, jedesmal wenn er dieses Zimmer betritt, und es riecht jetzt tatsächlich nach Leberwurst, nach alter, müder Leberwurst, auf einem Brötchen vielleicht, das in einem Schulranzen absichtlich vergessen worden ist.

Der Greis sagt, Martin, würden Sie die Freundlichkeit besitzen, dieses Geschmiere von der Tafel zu entfernen.
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Ich bin mir ziemlich sicher, ihm kurz einen gelangweilten Blick zuzuwerfen, bevor ich dumme Sprüche von der grünen Wand wische. Als ich wieder sitze, beginnt der Greis irgendetwas von Bloom-Zahlen zu erzählen, oder sind es Isomere? Ich weiß es nicht und interessiere mich auch wirklich nicht dafür, aber ihr Nacken, denke ich, ihr Nacken ist schön.



















TOBIAS

So gegen zwölf beginnt sich die Zeit immer ins Endlose auszu- dehnen. Es ist ein grausames Phänomen, und ich weiß nicht viel über Einstein, aber spätestens jetzt denke ich wieder, dass er wohl Recht hatte, mit dem was er die Relativität der Zeit nannte. Bewegung, so schnell oder langsam sie auch ist, deformiert den Raum in dem sie abläuft. Und dieser Raum hier, denke ich, ist schon verdammt deformiert. Irgendwo, so kommt es mir jetzt vor, schallt in weiter Ferne etwas von ERP, und ich höre Stimmen, die von Hilfsprogrammen und Hunger sprechen.

Ich ertappe mich dabei, wie ich mir Anja ohne Kleider vorstelle, und obwohl ich mich zwinge, nicht mehr zu ihr herüber zu schauen, kommt dieses Bild doch immer wieder, die nackte Anja in einem sommergrünen Wald, umgeben von Buchen und Tannen. Und sie steht im Unterholz und über ihr die gewaltigen Gipfel der Bäume, in denen sich die Sonnenstrahlen zu wundersamen Fächern brechen. Ihre langen blonden Haare verhängen eine ihrer Brüste und lassen die andere darum umso schöner erscheinen. Es ist eine wundervolle Brust, umhüllt von einer makellos zarten Haut und gekrönt durch eine Mamilla, die sich kaum merklich zur Sonne empor streckt. Ich liebe dieses Wort, Mamilla, man kann es sich so schön auf der Zunge zergehen lassen, M-A-M-I-L-L-A. Ein bißchen Mama und ein bißchen La, La, La. Sonderbar wozu ein Wort imstande ist. Seitdem ich es zum erstemal gehört habe, lasse ich keine Gelegenheit aus, es auch zu benutzen, und es paßt oft in der letzten Zeit, aber nur die wenigsten wissen, was es bedeutet. Ich kläre die Unwissenden gerne auf.

Gegen die Bilder kann ich nichts tun, und ich will es auch gar nicht. Anjas nackte Füße sind beinahe vom Moos verborgen auf dem sie steht und eine silberne Kette schmückt die eine ihrer schlanken Fesseln.
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Ihre Scham ist von einer fast zärtlichen Böschung aus feinen, leicht gekräuselten Härchen bedeckt, eine zärtliche Böschung, auf der ich mich ausruhen möchte, die durchscheinend ist, ohne durchsichtig zu sein.

Früher haben mich meine Eltern immer dazu gezwungen, irgendwo an der Ostsee mit ihnen FKK Urlaub zu machen, ein Trauma, das mich bis heute verfolgt. Es gab da Frauen, die trugen ganze Urwälder mit sich herum. Und schon damals dachte ich, dass man dagegen doch etwas tun könnte – zumindest im Sommer. Daran, und an mein unbändiges Verlangen nach meiner blauen Badehose mit dem Freischwimmer-Abzeichen kann ich mich noch gut erinnern.

Anja dreht sich weg und läuft durch das Dickicht in den Wald, und solange ich kann, verfolge ich ihre Umrisse, solange bis sie ganz verschwunden sind und das grelle Neonlicht im Klassenzimmer den Wald in meinem Kopf verbrennt.

Der Martin meint, sie sei arrogant, aber der Martin hat ein Problem mit Frauen, das weiß ich, das merk‘ ich ihm an. Und Anja ist nicht arrogant, nur schön, da braucht es vielleicht so eine Art Schutzschirm, die manche als Arroganz mißverstehen. Der Martin ist ein bißchen verklemmt, denke ich. Ich kenne Anja seitdem mein Vater diese Stelle am Institut bekommen hat und wir hierher gezogen sind, und das ist schon ein paar Jahre her, fünf oder sechs vielleicht, ich weiß es nicht genau. Obwohl wir nicht viel miteinander unternehmen, verstehen wir uns, das merke ich irgendwie, wie, das weiß ich auch nicht so genau, und es spielt auch keine Rolle.

Ich hoffe, dass der Fred das heute alles auf die Reihe kriegt. Die Organisation solcher Dinge, ist nicht gerade seine Stärke. Es wäre ja nicht das erste mal, dass so ein Plan in die Hosen geht. Dinge, auf die man sich ganz besonders freut, gehen am Ende leider schief. Es wird der zweite Versuch sein. Und ich bin gespannt, wie der Martin reagieren wird. Am Ende ist er auch neugierig, obwohl er mir bis heute nicht so recht glauben will, was damals mit mir passiert ist. Er wird es erfahren, am eigenen Leib.

Eigentlich eher zufällig werfe ich einen Blick auf die Seiten meines aufgeschlagenen Buches und lese Wörter wie Pufferzone, Absatzmarkt und Wirtschaftseinbruch.
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Sie sind mit Bleistift dick unterstrichen, man kann sie gar nicht übersehen. Und während ich mir mit einer Hand durch meine Haare fahre, segeln sie plötzlich wie Blätter von einem Baum auf die Seiten herab, ein Haar nach dem anderen. Erst zögerlich, doch dann, als ich beginne, meinen Kopf etwas zu raufen, ist es eher wie ein Baum im Herbststurm. Das schockiert mich wirklich, und ich blase die Haare unauffällig vom Papier, was mich irgendwie beruhigt und die Sache fast ungeschehen macht.

Vom Lehrerpult höre ich jetzt klar und deutlich die Frage nach der Funktion des Marshallplans. Ich zögere keinen Augenblick, die Wörter Pufferzone, Absatzmarkt und Wirtschaftseinbruch in ein paar nette belanglose Sätze zu verpacken. Der Mann hinterm Pult nickt sichtlich zufrieden. Das mit der Schule habe ich ziemlich gut im Griff.











MARTIN

Am Abend treffen wir uns beim Fred. Die Beschaffung illegaler Betäubungsmittel ist eine komplizierte Sache, der Fred hätte die richtigen Connections, hat der Tobias gesagt. Ich kenne ihn kaum. Er wohnt bei seinen Eltern im Keller. Sein Zimmer ist immer aufgeräumt, weil fast nichts drinsteht. Ein Bett, ein Telefon, eine Stereoanlage und das Hanf-handbuch, das ist so ziemlich alles was man bei ihm finden kann. Wir sitzen auf dem schmuddeligen Teppich vom Fred und spielen Tipp-Kick, um die Zeit tot zu schlagen. Ich bin unruhig und mit meinen Gedanken nicht auf dem Spielfeld, keiner von uns hat sie dort. Die Spiele verflachen. Mehrmals klingelt das Telephon, alles verzögert sich. Gelangweilt kicken wir mit den Metallmännchen eine Art kleine Plastikkugel hin und her. Wenn schwarz oben liegt, darf ich schießen, bei weiß der Fred. Und eigentlich liegt immer weiß oben, aber ich kümmere mich nicht wirklich darum. Auch den Schüssen vom Fred fehlt der letzte Kick. Im Grunde bin ich froh, dass weiß immer oben liegt. Nebenbei rauchen wir Wasserpfeifen, die uns müde machen.

Es vergehen zwei Stunden und dutzende von Telephonaten, bis ein ausgemergelter Typ im Zimmer vom Fred steht und eine kleine durchsichtige Tüte aus seiner Tasche zieht. Hundert oder mehr Tabletten mögen darin sein. Jeder von uns kauft so ein Ding, der Fred nimmt zwei.
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Qualität hat halt ihren Preis, meint der Dürre, als ich mich bewußt beiläufig über den stolzen Preis von fünfzig Mark mokiere. Ich erinnere mich an das Gesicht vom Tobias an Silvester. Wie er dasaß, neben dem dröhnenden Lautsprecher, mit diesem Lächeln auf seinem Gesicht. Das Ding, etwas kleiner als eine Kopfschmerztablette, aber genauso weiß, ich stecke es in die kleine Tasche meiner Jeans.

Dann können wir ja fahren, sagt der Fred.

Es hat wieder angefangen zu schneien, dicke Flocken werden von der Windschutzscheibe in ihrem Flug gebremst. Mühsam schieben die alten Wischer den Schneematsch beiseite. Die Räum- und Streufahrzeuge kommen mit ihren Arbeiten nicht nach. Wir fahren über die geschlosse- ne Schneedecke einer Landstraße, die vermutlich noch nie vom Winter- dienst erreicht wurde und wahrscheinlich auch nie wird, obwohl von fahren eigentlich keine Rede sein kann, eher von gleiten und gegen- steuern. Neben mir sitzt der Fred und sucht in meinen Kassetten nach einer anständigen Muse, wie er sagt. Er wechselt die Kassetten im Sekundentakt, findet nichts was ihm gefällt, und das nervt, paßt aber zur unruhigen Fahrt, die weder er noch der Tobias wirklich zu bemerken scheinen. Ich versuche den alten Opel auf der Straße zu halten. Weihnachten hat mein Vater das Ding vor der Haustür abgestellt. Ich mußte mich darüber freuen. Ein giftgrüner Opel Ascona, mit einem Schaltknauf so lang wie ein Golfschläger. Eine schöne Bescherung. Zum Anfahren hat er gesagt, glaube ich. Mein Vater hat Humor.

Wir kommen in einer asozialen Gegend an. Wahllos nebeneinander gewürfelte Quader, eine trostlose Bauklotzkette. Irgendwo hier, in einem Keller soll eine Party sein, unglaublich. Hinter quadratischen Fenstern flackert bläuliches Licht. Der Fred steigt aus. Dass der Tobias sitzen- bleibt beruhigt mich. Beinahe synchron kramen wir die Tabletten aus unseren Taschen hervor. Wir schlucken die Dinger mit einem Rest abgestandener Cola herunter. Wir lassen uns tiefer in den Schaumstoff sinken. Draußen schwebt immer noch Schnee gleichmäßig auf die Erde. Langsam bedeckt er wieder die Windschutzscheibe. Wir schauen durch das Glas in die Nacht und reden nicht. Wir warten. Mein Magen rumort.

Es wird gut, sagt der Tobias. Und ich glaube ihm.
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Peter Gabriel besingt hypnotisch den Schnee. Autos fahren auf den Parkplatz, Scheinwerfer leuchten kurz auf unsere Gesichter und erlöschen. Mädchen und Jungen lachen auf. Wir sagen nichts. Wir warten. Ich glaube jetzt schon, dass ich etwas spüre, irgendwo, ganz nah bei meinem Magen (oder ist es im Magen?), beginnt sich etwas breitzumachen. Es tut sich etwas, da gibt es keinen Zweifel.

Die Geräusche, ich kann sie nicht mehr so eindeutig zuordnen, sie klingen anders, sind auf einmal schärfer geworden und schwappen dennoch wie Wellen über mich hinweg. Der Tobias nimmt die Peter Gabriel Kassette aus dem Recorder, zieht eine andere aus seiner Jackentasche und schiebt sie in das Gerät. Ich habe Mühe, ihn dabei zu beobachten, weil ich keine gleichmäßigen Bewegungen mehr sehe, sondern nur noch abgehackte Bilder, wie bei einem alten Film, aus dem man schon kleine Teile Zelluloid herausschneiden mußte. Und eine Flutwelle von Gefühlen nach der anderen bricht sich in meinem Körper. Etwas türmt sich in mir auf, wird immer stärker und strömt schließlich über mich hinweg. Ich versinke. Und ich habe noch nicht einmal Angst dabei, weil die Freude zu stark ist, ohne zu wissen ob das überhaupt Freude ist. Es ist viel stärker als alles was ich bisher für Freude oder Glück gehalten habe, viel stärker, intensiver. Ich habe mich noch nie so gefühlt.

Ich sage, Tobias, ich merk‘ was.

Und der Tobias sagt, ja, ich auch.

Wir schauen durch das Glas, ohne hinzuschauen. Ich atme tief ein und langsam wieder aus. Und das ist so, als würde ich eine tiefe Glückseligkeit einatmen, mit jedem Atemzug jetzt in mich hineinsaugen, so angereichert ist die Luft davon, dass sie meine Lungen, meinen ganzen Körper füllen, dicht und konzentriert, dass ich nicht wage, etwas zu sagen, weil ich auf gar keinen Fall möchte, dass auch nur ein Fetzen dieser Gefühle durch meinen Mund verloren geht. Wieder rutsche ich im Schaumstoffsitz ein paar Zentimeter mehr herunter. Der Tobias drückt seinen Kopf gegen die Nackenstütze und atmet erleichtert aus. Er nimmt die Brille von seiner Nase und schließt seine Augen.

Der Rush, sagt der Tobias, und seine elektronische Musik packt uns ein. Dumpfe Beats und apokalyptische Synthesizer-Fanfaren umhüllen uns.
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Eine Musik, wie ich sie noch nie zuvor gehört habe. Ab und zu singt einer, climb any mountain.

Was ist das für eine Musik, frage ich den Tobias.

Und der Tobias sagt, das nennt sich Trance.

Trance also, sage ich, das klingt ja wirklich spannend. Aber es passt, dieses Trance.

Ja, ich weiß, sagt der Tobias, nüchtern ist das kaum zu ertragen, aber so kann man sich nichts Besseres dazu vorstellen.

Ich glaube, du hast Recht, sage ich und sehe bestimmt ziemlich glücklich dabei aus.

Die Wellen, sie brechen sich nicht mehr. Ich bin komplett geflutet und gerade dabei in einem Strudel aus Glück abzusaufen. Ich zähle die Finger an meinen Händen, es sind noch zehn. Ich schließe meine Augen und fliege durch einen Tunnel, rechts und links von mir tauchen immer wieder Kreuzungen und Abzweigungen auf, aber ich bin zu schnell, sie rasen an mir vorbei. Tunnel und Abzweigungen, das ist alles was ich sehe. Der Hintergrund ist schwarz, die Linien sind scharf gezeichnet und leuchten, blenden mich.

Ich reiße meine Augen auf.

Es rauscht in mir.

Ich habe mich durch zwei geteilt, der eine Teil von mir schwebt jetzt über mir, knapp unter dem schwarz gepunkteten Kunststoffhimmel, der andere, er liegt entspannt im Schaumstoffsitz, der mir noch nie so bequem vorkam wie jetzt, an diesem Ort, zu dieser Zeit.

Leise und endlos fällt der Schnee auf die Windschutzscheibe. Das Band mit der elektronischen Musik stoppt. Wir tauchen weg in einem Mehltau aus Stille und starren gebannt auf den Tanz der Flocken. Eine glorreiche Stille. Der Rausch, er wird gleichmäßig, nimmt uns beide gleichzeitig gefangen. Alles liegt vor uns, klar und unberührt. Wir fühlen uns glorreich.

Jemand klopft an die Scheibe, und auf ihr läßt der Fred seinen warmen Atem und durch sie hindurch sein Strahlen. Wir begrüßen ihn, wie man einen alten Freund begrüßt, den man Jahre lang als für verschollen geglaubt hat. Und in dieser Nacht ist er aus dem Irgendwo wieder aufgetaucht, wohlbehalten – und wir freuen uns. Der alte Freund, er legt sich auf die Rückbank und schließt seine Augen. Und so wie er jetzt daliegt, sieht er friedlich aus, friedlich und zufrieden, trotz seiner Masse oder vielleicht gerade deswegen.
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Wieviel hast du genommen, fragt der Tobias.

Die Kieferknochen vom Fred mahlen wie die einer wiederkäuenden Kuh und immer wieder fährt er sich mit den Schneidezähnen über seine Oberlippe.

Zwei, antwortet er, und man merkt ihm an, dass er außerstande ist, ein Gespräch zu führen.

Wir sind erstaunt, ohne uns Sorgen zu machen. Der Fred liegt auf der Rückbank, und ab und an hören wir so etwas wie ein Stöhnen aus seiner Richtung.

Geht es dir gut, Fred, fragen wir, und er antwortet, ja, oh ja.

Und das reicht uns.

Es ist wie ein großes Geheimnis, das wir jetzt miteinander teilen, eine Bande kleiner Jungs – gar nicht mal lange her –, die sich im Wald in einer selbst gebauten Hütte trifft und einen Zaubertrank aus Brombeeren oder Mais kocht, und das Gebräu, es wirkt, obwohl es widerlich schmeckt. Und hier, in dieser zauberhaften Atmosphäre, versprechen wir uns unendliche Freundschaft. Wir sind angekommen in der Welt der Zauberer. Wir haben große Augen und dennoch erwarten wir nichts. Alles scheint jetzt von selbst zu kommen, ohne dass wir etwas dazutun müssen, keine Mühen der Planung, kein Entscheiden-müssen.

Man müßte aufhören mit der Arbeit, sie einfach niederlegen, sagt der Tobias. Alle, einfach alle müßten das tun.

Meine Stimme hätte er, sage ich.

Wir lachen und umarmen uns.

Ich frage den Fred, ob er das auch so sieht, und er antwortet, ja, oh ja.

Wir sind abgelenkt, sagt der Tobias, die Welt lenkt uns ab, lenkt uns ab von unserer eigenen Gedankenfabrik.

Das Seelische ist eine Gedankenfabrik, sage ich.

Ja, und sie verkümmert und keiner merkt es, sagt der Tobias. Die einfachsten Routinen, im Supermarkt, die Waren auf das Laufband legen und sie mit einem dieser Plastikkeile abzutrennen, verlangt manchen Menschen schon fast zuviel ab, so verbissen wie sie dabei dreinschauen.

Sie haben gar keine Augen mehr für das Wesentliche, sage ich.

Die Schnelligkeit tötet das Leben, sagt der Tobias.

Und ich sage, ja, du hast Recht, nur mit langsamen Bewegungen kann man das Leben zeigen.
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Freiheit den Seelen, fordern wir.

Und wieder umarmen wir uns.

Ja, sagen wir fast gleichzeitig, das ist gut.

Die Scheinwerfer werfen nur noch kurze Lichter durch die dichten Kristalle, die sich – wie von selbst – auf der Windschutzscheibe zu feinen Schichten gefunden haben. Hingebungsvoll baue ich einen Joint. Das ist, weil meine Finger arg zittern, einerseits gar nicht so leicht, andererseits läßt sich die Zigarette aber wundervoll drehen, weil meine Hände ganz naß vom Schweiß sind.

Wir bestaunen die Lichter, die ab und an durch die Schneekristalle funkeln. Alles funkelt, alles strahlt in mir und um mich herum. Ich könnte ewig so sitzen bleiben. Der inhalierte Rauch tut gut, ohne dass ich wirklich etwas davon bemerke.

Das Glück, es kostet fünfzig Mark und ist versteckt in einer kleinen weißen Pille. Hätte ich das bloß schon früher gewußt.

Und außerdem, sage ich jetzt, das muß ich Euch noch sagen, ich habe das wundervollste Auto der Welt.

Ich frage den Fred, ob er das auch findet, und er antwortet, ja, oh ja.
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Kommentare zur Story:

  wenngleich es weiterhin um drogen gehen wird, denke ich nicht, dass das thema beschönigt wird. kleine abschnitte folgen bald -  
Axel Pinot  -  17.01.04 02:45

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  Du hast einen guten Schreibstil und ich mag deine Liebe zum Detail:
...“und so vermengen sich die Eigengerüche der Menschen, die hier ein- und ausgehen zusammen mit den Gasen, die aus dem frisch gelegten Kunststoff-Teppich dringen, zu einer eigentümlich chemisch-säuerlichen Mischung, irgendwo zwischen Meister Proper und kaltem Schweiß.“

Ich werde die Story weiter verfolgen, hoffe bloß, dass es am Ende nicht den Drogenkonsum beschönigt.

„Das Glück, es kostet fünfzig Mark und ist versteckt in einer kleinen weißen Pille. Hätte ich das bloß schon früher gewußt.“  
Jana Kühle  -  16.01.04 17:20

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