Der Landstreicher und die Kanalratte oder auch Das soziale Gewissen und Weihnachten   193

Nachdenkliches · Kurzgeschichten · Winter/Weihnachten/Silvester

Von:    Klaus Asbeck      Mehr vom Autor?

Erstveröffentlichung: 19. Dezember 2003
Bei Webstories eingestellt: 19. Dezember 2003
Anzahl gesehen: 2411
Seiten: 5

Wenn man auf dem Sahnehäubchen des Lebens sitzt, zumindest was das Materielle angeht, mit sich soweit zufrieden ist und gottesfürchtig zum Himmel aufblickt, dann mag einem einiges entgehen. Doch diese selbstgefällige Ignoranz ist ab und an durchlässig, zumal in der Weihnachtszeit. Dazu möchte ich Euch folgende kleine Weihnachtsgeschichte nicht vorenthalten, eine Geschichte, die bzgl. ihrer überzeugenden Darstellung ihre Tücken hat, gewiß:

Es war der Tag vor Heiligabend. Vor dem Haus erstrahlte eine Tanne in ihrem Lichterschmuck. Im Wohnbereich des Hauses glitzerte und funkelte es auf jedem freien Platz. Die Einkäufe waren getätigt. Die Stimmung war verhaltend festlich, was noch bis Heiligabend eine Steigerung zuließ. Das offene Kaminfeuer verbreitete das Gefühl der Geborgenheit und Wärme, zumal es draußen bitter kalt war.



Ich hatte es mir nahe dem Feuer in einem Sessel gemütlich ge-macht, kraulte meine Dogge "Olga" und studierte das Prospekt des Wagens, den ich gerade bestellt hatte. Barbara hantierte in der Küche und machte sich Sorgen, ob die Weihnachtsgans für uns beide ausreichend groß sei. In diese Harmonie erklang aus den Boxen "Jingle Bells".



Da klopfte es laut an die Haustür. Draußen standen zwei un-rasierte aber ansonsten nicht gänzlich ungepflegte Männer mit einem kleinen schwarzen Hund. Drei Augenpaare musterten sich kurz, bevor der Jüngere von beiden fragte, ob ich ein Quartier für die kommende Nacht habe, denn sie seien auf der Durchreise und im Augenblick etwas knapp bei Kasse. Sie hät-ten nahe des Hauses auf der Weide Pferde gesehen. Mit einer Pferdebox als Nachtquartier seien sie zufrieden.

Also bat ich die beiden ins Haus und zeigte ihnen das Bade-zimmer. Und da es Zeit zum Mittagessen war, deckte ich den Tisch für zwei weitere Personen. Ich ging in die Küche und informierte Barbara über den Besuch. Sie stellte keinerlei Fragen, da sie eine angeborene Gastfreundschaft besitzt, ich hingegen nur ein angeboren sozial schlechtes Gewissen. Sie begann lächelnd ein paar Kartoffeln mehr zu schälen. Und ich entkorkte eine zweite Flasche Rotwein.



Nach einer Weile kamen die beiden aus dem Badezimmer, und der Jüngere meinte, daß es mir doch hoffentlich nichts aus-mache, daß man sich meinen Rasierapparat ausgeliehen habe.
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Ich bat die beiden am Eßtisch Platz zu nehmen. Der kleine schwarze Hund hatte es sich bereits zwischen den Vorderpfoten von Olga bequem gemacht, die ihm mit ihrer großen Zunge auch eine Waschung zuteil werden ließ. Der Ältere stellte sich mit Jean , der Jüngere mit Erich und ich mich mit Klaus vor. Ich schenkte uns ein. Jean schaute vor sich auf seinen Teller, Erich musterte das Silber und die Kristallgläser in den Regalen. So-dann ging er zum Bücherregal und nahm das eine oder andere Buch zur Hand mit der Bemerkung, daß er auch schreiben würde.



Dann trug Barbara das Essen auf und begrüßte die beiden. Wäh-rend des Essens wurde kein Wort gesprochen. Ich war krampf-haft mit der Überlegung beschäftigt, wie ich die vielen Fragen in gefällige Form einkleiden und womit ich beginnen könnte. Als wir beim Dessert und vierten Glas Rotwein angelangt waren, begann ich das Gespräch, das bis in die späte Nacht andauern sollte.



Auf meine Frage nach dem Woher, Wohin und wie sich die beiden kennengelernt hätten, entgegnete Erich, der Wortführer, daß er Jean in den Bergen getroffen habe, und daß man gemein-sam weiter nach Arles oder ans Meer wolle, wo der Winter nicht so kalt sei. In Arles habe er Freunde. Danach entstand eine längere Pause. Barbara verschwand irgendwo im Haus, und ich machte Kaffee.



Bei Kaffee und Calvados kam das Gespräch wieder in Gang, indem ich den schweigsamen Jean fragte, warum seine linke Hand verbunden sei. Jean schaute auf und erzählte zögernd folgendes, wobei er es vermied mich anzusehen. "Nun ja, an den Händen habe ich ein Ekzem, denn ich war über 30 Jahre lang eine Kanalratte." "Eine Kanalratte?", fragte ich ungläubig. "Ja, eine Kanalratte," sprach Jean vor sich hin, "denn ich habe in dem Abwässersystem von Paris gearbeitet, wo ich mit so manchem in Berührung gekommen bin und über 30 Jahre lang kaum die Sonne zu Gesicht bekommen habe. Seit Jahren plage ich mich nun mit dieser Berufskrankheit, für die man mir jeg-liche Entschädigung verweigert. Meine schmale Rente reicht, wie Du siehst, weder zum Leben noch zum Sterben." Erich legte den Arm um seine Schultern. Und mir saß das sozial schlechte Gewissen auf den Schultern.
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Barbara hatte die Betten für die beiden bezogen, und fragte sie, ob sie sich etwas ausruhen wollten. Erich verneinte dies mit dem Hinweis, daß er nachts nicht schlafen könne, wieviel weniger dann also am Tage.



Ich fragte Jean, ob er noch eine nähere Verwandtschaft habe, was er verneinte. Er habe aber eine Freundin, von der er aller-dings nicht ihren derzeitigen Aufenthaltsort kenne.



Je mehr sich später an diesem Nachmittag die Flasche Calvados leerte, um so fließender wurde das Gespräch. So berichtete Jean, daß er mit den Ekzemen an den Händen kaum einen Aus-hilfsjob, z. B. bei der Weinlese annehmen könne, um sich etwas dazu zu verdienen. Und für andere Beschäftigungen habe er keinerlei Ausbildung und sei im übrigen auch zu alt, um noch eingestellt zu werden. Er habe eben sein Leben lang in der Scheiße zugebracht, und jetzt, wenn man es recht betrachte, stecke er immer noch drin. "Einmal Scheiße, immer Scheiße", endete er und starrte vor sich hin.



Ich ging zu Barbara in die Küche, wo sie das Abendbrot zube-reitete. "Was können wir tun?", fragte ich sie. Und sie ant-wortete: "Wir können zusammen ein schönes Weihnachtsfest verbringen."



Als ich zu den beiden zurückkam, pafften sie eine Zigarre, wo-bei sich Erich als Meister im Kringelblasen zeigte. Viel ge-sprochen wurde nicht. Ich ging also hinaus, um die Pferde zu versorgen. Erich folgte mir. Barbara erzählte mir, daß Jean die ganze Zeit in unserer Abwesenheit auf seinem Platz vor sich hingestarrt habe, und nur einsilbig auf ihre Bemerkungen ein-gegangen sei.



Nach dem Abendbrot, bei dem wenig geredet wurde, setzten wir uns vor das Kaminfeuer. Ich fragte Erich, wem denn der kleine Hund gehöre. Er erwiderte, daß er mit "Charly" nun seit einem Jahr zusammen sei. Er habe ihn seinerzeit in Arles auf-gegriffen. "Da sind sich zwei Herrenlose begegnet," meinte er lächelnd. "Und wie lange bist Du schon herrenlos?," wollte ich wissen. Erich überlegte und seinen traurigen Augen sah man an, daß die Vergangenheit, die er gerade aufsuchte, ihn noch nicht losgelassen hatte. Vor etwa vier Jahren sei er in seiner deut-schen Heimatstadt über alles verliebt gewesen.
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Aber seine Freundin habe ihn letztlich mit der Begründung verlassen, daß sie ihr Leben nicht an der Seite eines Steuerbeamten verbringen wollte. In Wahrheit habe sie aber bereits seit längerem einen anderen, reicheren Mann gehabt. Als sein Schmerz dann nicht nachlassen wollte, fuhr Erich fort, da habe er Urlaub genommen und sei nach Südfrankreich gereist. In Arles sei er schließlich hängen geblieben und nicht mehr nach Deutschland zurückge-kehrt. Er habe sich wie viele andere Deutsche dort mit Ge-legenheitsjobs über Wasser gehalten. Wenn er nun nach Arles zurückkäme, würde er z. B. wieder für die Antiquitäten-händlerin am Place du Forum arbeiten, ihr beim Transport helfen, den Laden sauber halten oder Botengänge verrichten. Im Sommer würde er viel im Freien schlafen. Für den Winter habe er dort ein kleines Zelt, das ihm Touristen geschenkt hätten.



Spät in der Nacht gingen wir dann alle zu Bett. Erich erbat sich von mir noch Schreibpapier und einen Bleistift. Am kommen-den Tag haben mir die beiden draußen beim Holzhacken und bei den Stallungen geholfen, wobei Charly sich immer in der Nähe von Erich aufhielt. Als die Dämmerung einsetzte, rief uns Barbara ins Haus, wo ein schön gedeckter Weihnachtstisch auf uns wartete. Für jeden hatte sie ein paar Geschenke eingepackt. Ich wollte mich nicht großartig umziehen, wie es sonst der Fall gewesen wäre. Es war wohl auch so, daß mich plötzlich der Luxus um uns herum verunsicherte. Aber gottlob ließ sich Barbara nicht beirren. Sie goß die Gläser mit Champagner voll, legte eine Weihnachts-CD auf, und zauberte schließlich ein tolles Essen auf den Tisch. Jean fielen die Tränen in seine Suppentasse, und er murmelte dabei ein ums andere Mal "Merry Christmas". Erich beugte sich ab und an hinunter, um seinen Hund unter dem Tisch zu streicheln oder ihm einen Hap-pen abzugeben. Barbara lächelte uns alle an, und mir hockte etwas ziemlich schwer auf den Schultern.

Nach dem Essen kramte Erich ein Stück Papier hervor, das er in der Nacht zuvor, wie folgt beschrieben hatte, und überreichte es mir:



"Für Klaus und Barbara



Warum immer tiefe Dinge denken?

Immer fragen, was, wieso, warum?

Sich einfach wunderschöne Tage schenken -

Nichts, oder einfach irgendetwas tun



Das heißt nicht nur so in der Sonne liegen.
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Wie im Schlaraffenland den Mund nur aufzutun

Das heißt auch, an den Händen Schwielen kriegen

und manchmal Tage, ohne auszuruhn.



Dann aber soll man frohe Lieder singen,

glückliche Tage zusammen verbringen.

Das heißt nicht einfach auszuruhn,

sondern wunderschöne Dinge zusammen tun.



Es klingt so alt, das traute Heim...

Wir haben verlernt zusammen zu sein.



Doch da wir das irgendwie doch genießen -

von diesem vertrauten Liebreiz wissen,

ist schon viel mehr, als ein Anfang gemacht, -

drum ohne Zögern - frohe Weihnacht!



Apt, Weihnachten 1985

von

Erich "



Dieser Heiligabend ging wohl für alle in Nachdenklichkeit zu-ende. Am ersten Weihnachtstag haben sich die beiden mit Charly von uns verabschiedet, um nach Arles zu trampen. Irgendwie traurig habe ich ihnen nachgeblickt. Wiedergesehen habe ich keinen von ihnen. Und nun steht wieder Weihnachten vor der Tür.









Nachwort

Zwei Jahre später habe ich die Antiquitätenhändlerin in Arles aufgesucht und mich bei ihr nach Erich erkundigt. Sie sagte mir, daß man Erich im vergangenen Winter tot in seinem Zelt aufgefunden habe. Sein Hund habe bei der Leiche gewacht und keinen herangelassen. Wo ich das Grab von Erich finden würde, konnte sie mir nicht sagen.



14. XII 2003
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Punktestand der Geschichte:   193
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Achim  -  18.01.04 21:32

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Kommentar von "axel" zu "Die Belfast Mission - Kapitel 08"

Toll recherchiert oder boxt du selber? Jedenfalls war das Ganze wieder sehr spannend und lebensnah. Ich staune immer wieder über deinen lebendigen Schreibstil. Ein mitreißender Roman.

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