Romane/Serien · Trauriges

Von:    Thomas Redfrettchen      Mehr vom Autor?

Erstveröffentlichung: 14. Dezember 2003
Bei Webstories eingestellt: 14. Dezember 2003
Anzahl gesehen: 2287
Seiten: 12

Ich kam wieder an die Tür zu ihrem Zimmer. Es war wie immer still zur Mittagszeit. Keiner lief in den Gängen der Station, nur ich nahm mir das Recht dazu. Durch das in der Tür eingelassene Fenster beobachtete ich sie.

Ihre Augen waren geschlossen, ihre Hände zusammengefaltet auf der Bettdecke. Draußen wirbelte der Wind den Schnee über den leeren Hof und brachte die kahlen Bäume in ein heftiges Wippen. Es war eiskalt außerhalb des Krankenhauses. Doch gegen die Sterilität hier drinnen war der Sturm außerhalb kaum mehr als eine leichte Brise.

Eine Uhr tickte laut den Gang entlang. Ich schaute bestimmt zum zehnten Mal auf sie, doch die Zeit schien nicht zu verrinnen. Dieser Gedanke ließ mich schmunzeln, da ich dabei an meine Kunstlehrerin dachte, die gegen Ende jeder Stunde ihre Lieblingsfloskel an uns weitergab.

Mit strenger und zum Teil enttäuschter Stimme zischte sie dann: „Tempus fugile!“ Und vielleicht im Zeitraum von wenigen Sekunden läutete es dann auch gewöhnlicherweise zur Pause. Ihr muss der Rhythmus der Schulklingel in Fleisch und Blut übergegangen sein, so kam es mir vor. Manche schätzten sie auf 200 Jahre, viele glaubten sogar, sie sei ein Wesen, dass vor dem Bau der Schule auf dem Grundstück gehaust hatte.

Mein Blick wanderte zurück zu ihr. Wie schön sie doch war, dachte ich mir. Auf ihren schwarzen Haaren lag sie, ihr Mund war leicht geöffnet. So friedlich schlummerte sie in ihrem weißem Bett. Ihr linker Arm war durch einen dünnen Plastikschlauch mit Tropf, oder, wie es in der Fachsprache hieß, mit einer Dauertropfinfulsion verbunden. Doch der Beutel mit dem Zeug, das stetig in sie hineinbefördert wurde, war heute leergelassen worden. Ich hatte keine Ahnung, was es genau war, doch ehrlich gesagt war es mir auch egal. Ihr silbernes Kreuz, an einer Kette auf ihrem Hals liegend, glitzerte aus mir entgegen.





Es war vor ungefähr zwei Monaten, als ich dieses Krankenhaus zum ersten Mal mit meiner Familie betrat. Wir besuchten unseren Onkel. Er hatte sich ein Bein gebrochen und lag für einige Wochen im Sankt-Jeanne-Hospital an der Grenze zu Frankreich. Wir waren fast eine Stunde mit dem Auto gefahren, doch wir waren es unserem Onkel schuldig.

Das in einem großen Park gelegene Krankenhaus war sehr exklusiv.
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Viele reiche Leute ließen hier ihre kleinen Wehwehchen behandeln. Es war fast wie ein Kurhotel, der Service war erste Klasse. Das Essen wurde einem ans Bett gebracht, man konnte große Spaziergänge durch den Park machen, es gab nichts, womit man sich nicht beschäftigen konnte, sogar eine eigene Schwimmhalle und einen Minigolf-Platz war im Besitz des Luxus-Hospitals.

Onkel Rainer lag im zweiten Stock und hatte ein eigenes Zimmer, ganz für sich alleine. Es war das erste im Gang, auch mit einer mit Guckfenster versehenen Tür bestückt. Er begrüßte uns alle und man konnte ihm ansehen, dass er sich freute, seine Nichte und ihre Familie zu sehen. Er war mein Großonkel und dazu steinreich. Doch ich interessierte mich nicht sonderlich für ihn, zumal ich ihn kaum kannte. Während sich der Rest meiner Familie, also meine Mutter, mein Vater und meine siebenjährige Schwester mit ihm beschäftigte, wandelte ich ein wenig durch die sterilen Gänge.

Ich lief an einigen Ärzten und Schwestern vorbei, schaute in in jedes Zimmer, wer sich wohl dort befände. Einige waren besetzt, doch die meisten standen leer. An manchen Kreuzgängen bog ich ab, immer die Stations- und Zimmernummer meines Großonkels im Kopf behaltend.

Der äußere Eindruck täuschte ganz und gar nicht, dachte ich mir. Das Haus war ungeheuer groß und geräumig. Ich durchstreifte bestimmt eine Stunde lang die verschiedenen Bereich des Hospitals und gelangte schließlich an die Tür zur Kinder- und Jugendstation. Ich wunderte mich zunächst, dass sich so etwas in diesem Krankenhaus lohnte, wo ich doch nur alte Leute hier liegen gesehen habe. Doch um das zu überprüfen, musste ich die Station näher unter Betracht nehmen.

Ich drückte also auf den Tür-Öffnen-Schalter und betrat den Gang, der mit Lagerräumen und Begleitpersonenräumen begann. Dort waren viele Windelpakete, Kinderwagen und Spielzeugkisten, so wie man es erwarten konnte. Dann kam der Patientenbereich, zunächst die Kinderabteilung, gekennzeichnet durch bunte Fenster, Geplärre der kleinen Rotzlöffel und jeder Menge von der Decke herunter hängenden Zeug. Ob Zeichentrickfiguren, farbige Papierfetzen oder Luftballons, alles konnte man von der Decke ziehen. Ab und zu kam ein kleines Kind an mir vorbeigelaufen, gefolgt von seiner Mutter oder einer Krankenschwester.
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In den Räumen wurde gewickelt, mit den Kindern gesprochen oder versucht, sie mit einem Clown aufzuheitern.

Am Ende des Ganges teilte sich dieser nach links und rechts auf. Ich entschloss mich den rechten Weg zu nehmen und kam an verschiedenen Spielzimmern vorbei. Eine weitere größtenteils gläserne Tür trennte mich nun von einem anderem Bereich, dort, wo die jugendlichen Patienten untergebracht waren.

Sofort als ich den Flur betrat und die Tür sich hinter mir schloss, erfüllte mich eine ungewohnte Kälte, während eine gespenstische Stille mich umgab. Um diese Ruhe zu bewahren bewegte ich mich nur sehr langsam voran, ich schlich sozusagen durch den Gang. Links waren Fenster, die mir die schon fast nackten Bäume zeigten sowie die verrottenden Blätterhaufen darunter. Rechts waren wieder Schlafräume, wie sie sich auch auf der Erwachsenenstation befanden. Neben jeder Tür war ein kleines Schild, auf dem man ablesen konnte, wer in dem Zimmer lag, die Zimmernummer und wer den Patient betreute, denn es waren fast immer Einzelzimmer.,

Beim ersten Zimmer angelangt, blickte ich ehrfürchtig durch das Guckfenster. Ein Junge, vielleicht sechzehn, saß auf seinem Bett und schaute aus dem Fenster. Ich schaute auf des Schild: David Riedel, betreut von Schwester Anika. Darauf fragte ich mich, ob das ihr Vorname war, obwohl es mich wenig interessieren sollte. Der Junge schaute immer noch aus dem Fenster. Sein weißes Krankenhaushemd war ziemlich zerknittert, sodass er versuchte es zu glätten.

Neugierig bewegte ich mich weiter. Das nächste Zimmer war nicht besetzt, doch ich entdeckte etwas interessantes darin. Langsam und so leise ich es vermochte, öffnete ich die zu meiner Verwunderung nicht verriegelte Tür und schloss sie sogleich ich eingetreten war. Auf dem Bett lag eine Rose mit einem einfach gefalteten Zettel, der hundertprozentig nicht für mich bestimmt war. Dennoch konnte ich mich nicht zügeln und klappte ihn vorsichtig auf.

„Für meinen lieben Sohn. Requiescat in pace“, las ich.

Darunter war ein Gebet in lateinisch oder griechisch, an das ich mich nicht mehr erinnern kann. Ich legte den Zettel zurück zur Rose und verließ das Zimmer so leise ich es betreten hatte.

Weiter schlich ich den Gang hinauf und beobachtete in einigen Zimmer Besucher, wie sie mit dem Patienten oder der Patientin sprachen.
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Manchmal waren es Bekannte oder Verwandte, aber auch Ärzte, doch die meisten Zimmer waren leer. Wie sich das Krankenhaus von den relativ wenigen Fällen halten konnte, verwunderte mich schon sehr.

Schließlich kam ich zu dem Zimmer, in dem sie lag. Auf den ersten Blick verliebte ich mich in die schlafende Schönheit. Wie gebannt blieb ich vor ihrer Tür stehe. Es war das drittletzte Zimmer, bevor es wieder zu einer Biegung kam. Ungezählte Zeit verging, bevor ich den Blick abwandte und auf das Schild neben der Tür blickte.

„Karen Helm“, flüsterte ich leise und blickte zurück zu ihr.

Ich legte meine Hände auf die Scheibe der Tür und spürte wieder diese Kälte, die physische und psychische. Viele Gedanken und Pläne schossen mir durch den Kopf, doch es war alles wirres Zeug.

Vollkommen in Gedanken versunken erschrak ich regelrecht, als mir jemand auf die Schulter tippte. Mein Kopf zuckte nach links und sah den Übeltäter.

„Was machst du denn da?“, fragte die Schwester verdächtigend.

Es war eine relativ junge Schwester, ich schätzte sie auf höchstens fünfundzwanzig. Sie hatte blond gefärbte, leicht gewellte Haare, die sie bis auf zwei Strähnen, die neben ihren Schläfen ihr Gesicht einrahmten, hinten zusammengebunden hatte. Zwei braune, mir zunächst rot vorkommende Augen schmückten sie. Mit diesen schaute sie mich misstrauisch an.

Ich schaute auf ihre Plakette, die, wie es der Brauch war, direkt in der Höhe der Brust befestigt war. Verdammt, dachte ich mir, reiß dich zusammen.

„Ähm, ja, Schwester, äh, Anika...“ Das war sie also. „Ich, ähm, kenne Karen und wollte sie hier besuchen...“, stammelte ich.

Und schon im nächsten Moment wurde mir bewusst, dass das das klügste, aber gleichzeitig auch dümmste war, was ich je gesagte hatte.

„Zum Glück gibt es doch noch jemanden, der sie kennt. Als wir sie nach Verwandtschaft oder Bekanntschaft fragten, sagte sie uns, dass niemand nach ihr suchen würde. Schön, dass sich das nicht bewahrheitet hat“, sagte sie beruhigt, “Kommen Sie, Herr...“

„Etienne genügt“, brachte ich gerade noch heraus.
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Sie öffnete behutsam die Tür und führte mich in das Zimmer von Karen. Die Situation schien aussichtslos. Bald würde sich herausstellen, dass du gar nichts mit dem Mädchen zu tun hattest, dachte ich mir.

„Vielleicht, äh, sollte ich lieber warten, bis sie aufwacht.“

„Du kannst ja hier bleiben. Ich komme vielleicht später nochmal vorbei“, hauchte sie mir zu und verschwand wieder.





Zu diesem Zeitpunkt fühlte ich eine enge Verbundenheit mit Gott, was aber schnell wieder abklang. Jedenfalls brabbelte ich etwas von Jesus Christus vor mir hin, nachdem Schwester Anika mir die Sache abgekauft hatte

Dann wandte ich mich dem Grund zu, aus dem ich in dieses Lage geraten war und begann zu überlegen, was ich als nächstes machen sollte. Sollte ich einfach wieder gehen und diesen Vorfall wie ungeschehen aussehen lassen? Oder sollte ich dort bleiben?

Ein starkes Pochen in meinem Brustkorb zwang mich zur schnellen Entscheidung, doch ich entschied mich zu spät. Denn plötzlich vernahm ich einen Seufzer, der von dem Mädchen ausging. Unfähig zu handeln, blieb ich paralysiert auf dem Stuhl neben dem Bett sitzen, auf den ich mich notgedrungenderweise platzieren musste. Ich schaute zu ihr, sie hatte die Augen geöffnet, blinzelte der Decke entgegen bevor sie sich umschaute und wahrscheinlich mit einem kleinen Schrecken mich erblickte.

„Hi“, warf ich ihr entgegen und winkte dabei ein wenig mit meiner Hand.

„Hi“, wisperte sie, mich erstaunt anblickend. „Wer bist du? Und vor allem: Warum bist du hier?“

„Ich bin Etienne. Warum ich hier bin... Tja, das weiß ich auch nicht so genau“, fiel mir nur ein.

Daraufhin schmunzelte sie und reicht mir ihre rechte Hand.

„Karen.“

„Und warum liegst du hier?“, wagte ich mir nach einigen Sekunden der Stille zu fragen.

„Man hat mich bewusstlos auf der Autobahn gefunden. Doch ich weiß nicht, wie ich dort hingeraten bin.“

„Die Schwester sagte mir, dass du gesagt hast, dich würde niemand suchen“, gab ich von mir, wobei mein Herz schneller zu rasen begann, wie das immer so war, wenn ich mit einem Mädchen ins Gespräch kam.
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„Ja, dieser Schwester Anika hab ich das gesagt.“

„Was ist mit deinen Eltern, haben sie sich schon gemeldet?“

Ich wusste die Antwort auf diese Frage, doch irgendetwas sagte mir, ich solle sie ausfragen.

„Meine Eltern?“, sagte sie in einem verachtenden Ton, „Die würden sich nicht einmal die Mühe machen, sich um mich zu sorgen. Besonders nicht mein Vater.“

Wir schwiegen eine Minute lang.

„Aber... Aber was passiert mit dir, wenn du hier heraus kommst?“

„Dazu wird es nicht kommen.“

Mit Schrecken nahm ich diesen Satz zur Kenntnis.

„Was heißt, dazu wird es nicht kommen?“

„Das musst du nicht verstehen.“

Das tat ich auch nicht sonderlich und beließ es dabei, obwohl es mich interessiert hätte.

Sie richtete sich auf, sodass sie nun, die Beine angewinkelt, auf ihrem Kopfkissen saß. Ein silbernes Kruzifix baumelte nun ihren Hals herunter. Ihr Blick wandte sich aus dem Fenster.

Ich beäugte sie mit stetig ansteigender Neugier. Ihr schwarzen Haare reichten ihr knapp unter die Schulter. Eine kleine Nase und bleich rosa Lippen sogen Luft ein und stießen sie wieder aus, aber so, als würde sie gar nicht atmen, während ihre feinen Finger sich in einer Bettdeckenfalte vergruben.

Als sie bemerkte, dass ich sie beobachtete, drehte sie ihren Kopf zu mir und lächelte mich an. Ich grinste unbeholfen und versuchte meinen Blick abzuwenden, was mir nicht gelang.

„Es ist ein schöner Tag. Wie gern würde ich draußen spazieren gehen und die frische Luft riechen.“

„Wie lange bist du eigentlich schon hier?“, fragte ich sie.

„Nun“, sie überlegte kurz, „eine Woche, schätze ich.“

„Aha...“, sagte ich kaum hörbar.

„Ich würde so gern hinausgehen! Würdest du mich begleiten?“, säuselte sie mit einer himmlischen Stimme, der ich für nichts in der Welt widerstehen konnte.

„Keine Frage! Doch was ist mit dem Tropf?“

Ich hatte diesen erst in der letzen Minute entdeckt. Auch sie schien ein wenig verwundert über den Schlauch, der in ihren Arm führte.
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Sie zog die Nadel heraus.

„Au!“, piepste sie auf.

„Das solltest du lieber nicht tun“, riet ich ihr.

„Ach was! Komm, ich will spazieren gehen!“

Sie hüpfte leicht- sowie auch barfüßig nach links aus ihrem Bett auf den kalten Linoleumboden. Ich suchte intuitiv Fußbekleidungsmöglichkeiten und erblickte zwei typische Krankenhausslipper mit dazu passenden Strümpfen, alles natürlich in steril-weiß.

„Moment“, sagte ich und hob die Sachen auf.

Sie krabbelt über das Bett zu mir und streckte mir ihr kleinen Füße entgegen. Ich schaute zunächst ungläubig in ihr Gesicht, dass mich regelrecht anstrahlte, zuckte dann mit den Schultern und trennte die in einander verwickelten Strümpfe voneinander. Mit einem Kribbeln, dass meinen ganzen Körper erfasste, streifte ich ihr die Socken über. Dabei spürte ich ihre zarte Haut, die so war, wie ich sie mir vorgestellt hatte.

Karen stieg nun aus von dem Bett in die Slipper und stand nun vor mir. Ich erhob mich und sah, dass sie ein klein wenig größer war als ich, wie das üblicherweise so war, bei fast jedem Mädchen, das einmal neben mir stand. Sie hakte ihren Arm unter meinen ein und zog mich nach draußen auf den Gang.

Zum Glück hatte uns keiner gesehen, als wir durch den Flur schlichen, schließlich nach links abbogen und durch eine verglaste Tür nach in den Innenhof schritten. Mir fiel auf, dass es wirklich wunderschön hier war.





Alleine schlenderten wir die Wege entlang, in Richtung Durchgang zum äußeren Park. Sie hatte sich von mir gelöst und lief mit ausgestreckten Armen und geschlossenen Augen vor mir.

„Wo kommst du eigentlich her?“, fragte ich zögerlich.

„Ich wohnte im Grenzgebiet“, antwortete sie, „Und du?“

„Circa eine Stunde mit dem Auto von hier entfernt.“

Wir schritten weiter und erreichten den kleinen Bogen, der hinaus führte. Ich konnte niemand anderes erblicken und so bogen wir nach links ab. Nach einigen Schritten blieb ich erschrocken stehen und blickte auf meine Digitaluhr.

„Verdammt! Schon so spät! Ich war bestimmt eine Stunde schon weg“, fluchte ich.
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„Was ist denn?“, fragte Karen mit ihren zuckersüßen Stimme.

„Meine Familie... Mein Großonkel... Die hab ich doch glatt alle vergessen. Entschuldigung, Karen, doch ich muss mich wenigstens bei ihnen melden.“

Verwirrt blickte sie mir hinterher, als ich zurück zum Durchgang eilte, hinein in das Gebäude. Ich ging so schnell ich konnte zum nächsten Fahrstuhl und überrannte dabei fast eine alte Dame.

Wieder in der Erwachsenenstation angekommen, versuchte ich mich hektisch an einem Plan zu orientieren und gelangte schließlich zu dem Zimmer meines Großonkels. Doch es war niemand anwesend, nur eine Notiz an der Tür, dass sie mit ihm spazieren waren.

Ich verfluchte meine Angst und stürmte zurück nach draußen. Dort stellte ich erneut fest, wie verdammt groß das Areal doch war und wie schlecht ich mich doch orientieren konnte. Ohne die geringste Ahnung, wo ich mich befand, rannte ich in eine Richtung, entdeckte dort niemanden, stürmte zurück in die andere Richtung, und so weiter.

Erst zwanzig Minuten nachdem ich Karen verlassen hatte, fand ich meine Familie, die meinen Großonkel begleitend den Weg entlang wanderten.

„Hey!“, rief ich ihnen hinterher.

Sie drehten sich um.

„Na, hast du das Hospital erfolgreich erkundet?“, fragte mein Vater.

„Ja, ist ja irre groß hier. Ich bin auch gleich wieder weg, wollt' ja eigentlich nur fragen, wann und wo ich wieder bei euch sein soll“, keuchte ich.

„Warum bleibst du nicht ein wenig bei deinem Großonkel?“

„Wir kommen doch noch oft genug zu Besuch, oder?“, erwiderte ich.

„Nun ja, wir hatten eigentlich anders geplant, aber...“

„Ach was, wir können ihn doch nächste Woche wieder besuchen.“ Ich musste sie unbedingt wieder sehen.

Nach einigem Zögern sagte man mir dann: „Ist gut, wir kommen nächste Woche nochmal. Und wir wollen dann um sechs gehen. Sei pünktlich bei Onkel Rainers Zimmer!“

Ich hörte die Engelchöre in meinem Kopf singen und verabschiedete mich erneut von meiner Sippe. In meinem Kopf versuchte ich zu koordinieren, wo ich mich befand und wo ich Karen zurückgelassen hatte.
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Mit einer gewissen Vorahnung schlug ich eine bestimmte Route ein und erreichte nach wenigen Minuten Höchstgeschwindigkeitslauf den Durchgang von vorhin.

Doch der Engel war nirgends zu sehen und sie müsste schon an mir vorbeigelaufen sein, wenn sie weitergegangen wäre, da ich aus der Richtung kam, die wir gemeinsam gewählt hatten.

Ich konnte mir nur denken, dass sie wieder in ihrem Zimmer war und kehrte in den Innenhof zurück. Etwas huschte davon, als ich den Hof blickte. Mit Schrecken sah ich, dass Karen in ihren weißen Gewändern anscheinend bewusstlos neben dem Weg lag. Das schwarze Etwas, dass eben verschwand, war genau dort gewesen. Viele Schuldgefühle und Verlustängste durchrasten mich, während ich zu ihr eilte.

„Karen! Karen! Alles in Ordnung?“

Ich hob ihren Oberkörper nach oben und schüttelte sie leicht. Daraufhin öffnete sie langsam ihre Augen.

„Etienne...“, hauchte sie.

„Was ist geschehen?“, fragte ich kurz und knapp.

„Ich...“

„Erzähl es mir später, ich bringe dich zurück ins Zimmer, bevor Schwester Anika uns noch entdeckt. Kannst du laufen?“

Sie nickte zaghaft. Ich hob ihren relativ leichten Körper in die Höhe und stützte sie beim Gehen. So führte ich sie ungesehen wieder ins Zimmer zurück.

Dort setzte ich sie auf dem Bett ab und klopfte sanft die Laubreste von ihren Krankenhaussachen ab. Erst jetzt bemerkte ich, dass sie ziemlich gefroren haben muss. Es war nicht wirklich heiß draußen und ihre Kleidung war nur ein Hauch von Stoff, vielleicht drei Millimeter dick.

Sie legte sich langsam hin und hielt ihre Stirn. Ich konnte keine Verletzungen an ihrem Kopf feststellen und auch sonst sah sie ziemlich unversehrt aus. Ich setzte mich wieder auf den Stuhl und rückte näher an das Bett heran.

„Bist du okay?“, fragte ich versichernd.

„Ja, es geht wieder.“

„Was ist passiert?“

„Ich wollte zurück ins Zimmer gehen, weil mir plötzlich so schwindlig wurde. Auf halben Weg fühlte ich eine seltsame Müdigkeit mich überkommen und ich merkte, wie sich meine Augen unwillkürlich schlossen.
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„Du musst mindestens zehn Minuten dort gelegen haben! Gott, das ist alles nur meine Schuld!“

Die Situation war zu peinlich, besonders mein Verhalten.

„Es ist ja nichts schlimmes passiert.“

Ich schaute erneut auf die Uhr. Ich konnte nur noch knapp zwanzig Minuten bei ihr sein. Plötzlich öffnete sich die Zimmertür und ich sah Schwester Anika eintreten.

„Ach, Fräulein Helm ist auch aufgewacht. Nun, ich hoffe ihr habt euch gut unterhalten. Es wird Zeit für die Routineuntersuchung.“

Sie hatte ein Klemmbrett in einer Hand und beäugte Karen von allen Seiten. Dann nahm sie den Zettel, der am Fußende des Bettes befestigt war und klemmte ihn an ihr Brett. Danach bemerkte sie, dass der Tropf nicht mehr mit Karen verbunden war.

„Warum haben Sie die Nadel von deinem Arm gelöst?“, fragte sie mit einem trügerisch freundlichen Unterton.

„Sie wird sich wohl im Schlaf gelöst haben“, sagte ich schnell, bevor Karen antworten konnte.

„Aha. Nun gut, ich hätte sie jetzt sowieso entfernt. Komm, wir gehen.“

Karen richtete sich auf und stieg wieder aus dem Bett.

„Ah, hast schon die Socken an. Waren Sie etwa schon draußen?“ Diese Krankenschwester bemerkt aber auch alles, dachte ich mir. Jedes kleine Detail fiel ihr auf.

Ohne auf Antworten zu warten führte Anika sie hinaus, nachdem sie die Slipper wieder übergestreift hatte.

„Das könnte ein wenig dauern. Am besten gehst du in die Cafeteria und wartest dort“, riet die Schwester mir.

„Wie lange wird es ungefähr dauern?“, fragte ich.

„Vor um sechs werden wir nicht fertig“, erwiderte sie.

„Das ist schlecht. Ich muss genau zu der Zeit gehen.“

„Nein, bitte bleib doch!“, flehte Karen.

„Tja, da kann ich auch nichts machen. Du wirst wohl wiederkommen müssen“, sagte Schwester Anika schließlich und zog ihre Patientin endgültig aus dem Zimmer.





Ich schaute noch eine Weile auf die Tür und bedauerte zutiefst, dass ich mich nicht einmal von ihr verabschieden konnte.

„Das Leben geht weiter“, sagte ich mir und stand auf.
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Fast wollte ich gehen, als mir noch etwas einfiel. Aus meiner Hosentasche zog ich einen zerknüllten Zettel und einen Stift. Ich schrieb: 'Komme in einer Woche wieder. Ruf mich an!' und daneben meine Telefonnummer. Dann legte ich den Zettel unter ihr Kopfkissen in der Hoffnung, dass sie ihn las.

Zögernd verließ auch ich ihren Raum und schlenderte zu Großonkel Rainers Zimmer. Nach wenigen Minuten traf auch meine Verwandtschaft ein. Punkt sechs verabschiedeten wir uns von ihm und machten uns auf den Weg nach Hause.

Ich schaute noch einmal auf das Gebäude zurück, bevor das Auto losfuhr. Während der Fahrt dachte ich viel über diesen Tag nach und brach innerlich fast in Tränen aus, als ich an Karen dachte. Wie ein Engel, sagte ich innerlich.





Eine Woche später kamen wir wieder. Nach einem Besuch beim Großonkel, der in zwei Wochen wieder entlassen werden sollte, verabschiedete ich mich abermals. Schnurstracks lief ich in die Jugendstation und machte erst vor ihrem Zimmer Halt.

Man hatte eine Uhr über der Tür zur Kinderstation aufgehangen, die unaufhörlich tickte. Ich stand vor der Tür und beobachtete sie eine Weile. Sie saß auf ihrem Bett und las ein mit Lederumschlag bestücktes Buch. Es war etwas größer als ihre Hand und ruhte auf ihren Oberschenkeln. Ihre Augen verschlangen die Informationen regelrecht, so schnell flitzten sie hin und her.

Als mir das unnachgiebige Ticken zu viel wurde, beschloss ich einzutreten. Ich klopfte zweimal leise, so dass sie sich auf meine Ankunft vorbereiten konnte, und trat dann ein. Sie hatte erst hochgeschaut und dann gelächelt, als sie mich sah.

„Etienne! Du bist wieder da!“, begrüßte sie mich.

Ich konnte nicht verstehen, und verstehe es noch heute nicht, warum sie so freundlich zu mir war. Sie kannte mich ja im Grunde gar nicht. Und wenn ich so die allgemeine Reaktion weiblicher Personen mir gegenüber betrachtete, dann war sie schon ein Mirakel.

Sie steckte ein Lesezeichen zwischen die Seiten, bei denen sie aufgehört hatte und klappte das Buch geräuschlos zu. Erst an dem goldenen Kreuz erkannte ich, dass es sich um die Heilige Schrift handelte, wahrscheinlich aber nur um das Neue Testament, der Dicke des Buches nach zu urteilen.
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„Bist du Christin?“, wagte ich zu fragen, immer noch um die allgegenwärtigen Ungewissheit ihres Eindruckes von mir bangend.

„Na ja, so kann man das nicht sagen. Eine Zeit lang war ich Kirchengängerin, doch irgendwann verlor ich den Glauben an die Kirche. Ich fand keine Funktion in ihr.“

„Wozu dann die Bibel?“, fragte ich, während ich mich setzte.

„Den Glauben an Gott hab ich ja nicht verloren. Lediglich der Ausdruck meiner Treue hat sich geändert.“

Zufrieden mit dieser Antwort beendete ich das Thema mit dem Abwenden des Blickes von ihr, was ich aber nicht lange standhalten konnte. Es war einfach faszinierend ihr in die Augen zu blicken, ihr Lächeln zu sehen.

„Und, wie geht es dir? Wirst du bald hier herauskommen?“

„Der Arzt sagte, ich hätte ein leichte Gehirnerschütterung. Ehrlich gesagt spüre ich davon aber nichts. Und was dieser Tropf soll versteh ich auch nicht. Sie sagten, sie würden mich noch einige Wochen zur Beobachtung dabehalten wollen. Aber wie gesagt, mir geht's eigentlich ganz gut.“

„Mh... Nun wenn der Arzt das so sagt...“

Sie legte das Buch auf ihren Nachttisch, auf dem Auch ein Telefon stand, was mich wieder an meinen Zettel erinnerte.

„Hast du meine Notiz gefunden?“

„Notiz? Nein, hab nichts gefunden“, antwortete sie.

„Das ist seltsam, ich hab meine Telefonnummer auf einen Zettel geschrieben und ihn auf dein Bett gelegt.“

„Hier war nichts.“

In dem Moment öffnete sich die Tür und Schwester Anika betrat das Zimmer.

„Guten Morgen!“, rief sie beim Eintreten.

„Morgen?“, fragte ich ungläubig nachdem ich mich mit meiner Digitaluhr versichert hatte, dass es vier Uhr Nachmittags war.

„Ach Entschuldigung, hatte ganz vergessen, dass es ja schon Nachmittag ist. Bin erst vor einer halben Stunde aufgewacht.“

Sie ging zum Bettende und nahm sich wieder den Zettel, überprüfte ihn mit einem kurzen Blick.

„Der Herr... Ach ja, Etienne, ist heute auch wieder da. Und, wie geht es uns heute?“, fragte sie Karen, während sie die Gardinen des Zimmers beiseite schob und das Fenster ankippte, um dem schwachen Sonnenlicht Einlass zu gewähren und die Luft im Raum aufzufrischen.
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Oder sie von Karens lieblichen Duft zu befreien.

„Mir geht es gut, so gut wie gestern auch.“

„Das kann auch nur kurzzeitig sein, Fräulein Helm. Wenn wir Sie jetzt schon entlassen, kippen Sie uns an der nächsten Straßenecke wieder um.“ Sie bewegte den Zeigefinger hin und her. „Nein, nein, dass können wir auf keinen Fall verantworten.“ Dann machte sie sich daran, das Kopfkissen aufzuschütteln.

„Ist gut, es war heute früh schon jemand da“, sagte Karen.

Die Schwester Anika schloss für eine Sekunde die Augen und gähnte mit vorgehaltener Hand.

„Ich lebe in einer anderen Welt“, sagte sie spaßhaft. „Waren Sie heute denn schon draußen? Wunderschönes Herbstwetter, soweit ich das aus dem Fenster gesehen habe.“

„Die Schwester, die heute früh da war, hat gesagt, ich solle lieber im Bett liegen bleiben, da hab ich Sie um die Bibel gebeten und bis jetzt eben gelesen.“

„Ach, hinaus gehen können Sie ruhig, besonders in Begleitung, da kann ja gar nichts passieren.“
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Kommentare zur Story:

  So, damit das aus dem Titel kann:
Titelvorschläge bitte posten!

Keep on reading!  
Redfrettchen  -  22.12.03 17:43

   Zustimmungen: 0     Zustimmen

  mir gefällt deine story auch sehr bis hierher, hoffentlich schreibst du bald weiter!
schließe mich SMiThY an, was die Bewertung angeht.
schöne Grüße,
Heidi  
Heidi StN  -  15.12.03 19:09

   Zustimmungen: 0     Zustimmen

  HI. Also, als erstes, kann ich keinen besseren Titelvorschlag posten, weil die story ja noch nicht fertig ist...leider!
Ich finde es bis hierher sehr gut. Du hast die stimmung richtig gut aufgebaut, muss ich sagen. we du das krankenhaus beschreiebn hast...gut. hm, ich will nur wissen, wer diese Karin ist. Du machst es aber auch spannend! Also, lass dich ja nicht so viel zeit mit der fortsetzung....

(noch) keine bwertung, weil noch nicht fertig.

lieben gruß, sMiThY  
SMith  -  14.12.03 14:08

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