Nachdenkliches · Kurzgeschichten

Von:    Kyra      Mehr vom Autor?

Erstveröffentlichung: 5. Oktober 2001
Bei Webstories eingestellt: 5. Oktober 2001
Anzahl gesehen: 2902
Seiten: 4

Jetzt, da seit Stunden das erste Mal etwas Ruhe in mein Denken einkehrt, gehe ich im Kopf die Dinge durch, die ich so hastig für die Flucht in meinen Koffer gepackt habe. Ich bin ungeübt im Fliehen; Reisen, selbst mit unbekanntem Ziel kenne ich, aber dies ist etwas völlig anderes. Nie habe ich an so eine Möglichkeit gedacht, sie auch nie in Gedanken durchgespielt, so sicher habe ich mich gefühlt.

Heute Morgen kamen die ersten Meldungen im Radio, die Bevölkerung meiner Stadt wurde um Besonnenheit gebeten. Ich war noch zu müde, um alles zu verstehen, meine Gedanken beschäftigten sich mit einigen Worten wie, …keine unmittelbare Gefahr,… alles wird versucht… Kernschmelze…, Bevölkerung evakuiert….

An diesen Sätzen lutschte mein Gehirn wie an Kieselsteinen, ich verstand noch nicht, was dies alles bedeuten könnte.

Die Nachrichtensender des Fernsehens lieferten meinen Augen Bilder von der getroffenen Betonkuppel, zeigten Rauch, Feuerwehr und atemlose Berichte der Reporter vor Ort. Da bekam ich das erste Mal wirklich Angst, es war meine vertraute Umgebung, die plötzlich durch die Fernsehbilder zu einem so genannten „Schauplatz“ wurde.

Als ich einen Blick aus meinem Fenster warf, sah ich die Nachbarn mit schweren Taschen beladen zu ihren Autos hasten. Mir fiel auf, dass die Durchsage, niemand solle das Haus verlassen, inzwischen als Schriftband unter den Bildern lief. Rettungskräfte seien im Einsatz, man solle sie nicht behindern. Bald erhielte jeder Anwohner eine Gasmaske, Schutzkleidung oder würde an einen sicheren Ort gebracht. Es klang nicht sehr überzeugend. So beschloss ich, das gleiche zu tun, wie die anderen Bewohner der Siedlung, mich auf die Flucht begeben. Ich bin fast sechzig, lebe alleine mit meinen beiden Katzen - sicher habe ich Freunde, aber die wohnen in der Nachbarschaft und könnten auch nichts für mich tun. Das erste Mal in meinem Leben musste ich darüber nachdenken, was ich wirklich brauche. Ich danke in einem kurzen Gebet Gott, dass ich mein Auto nicht abgeschafft habe, wie ich es mir vorgenommen hatte. Natürlich, die Katzen würde ich nicht ihrem Schicksal überlassen, also zuerst die Beiden in die Transportkiste. Aber was brauchte ich noch? Es war Februar, also etwas warmes zum Anziehen, festes Schuhwerk, die Daunenjacke. Alle Ausweise, die Karte von der Krankenkasse, Bargeld, zweihundert Mark, mehr hatte ich nicht. Ich würde den Koffer mit den Rollen nehmen, einen großen Samsonite Hartschalenkoffer.
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Als ich ihn damals kaufte, erschien er mir so sicher wie ein Schweizer Safe. Soviel habe ich inzwischen von den immer neuen Nachrichten verstanden, man befürchtet eine Explosion, natürlich sei sie sehr unwahrscheinlich, aber wenn es dazu käme, würde es meine Stadt danach nicht mehr geben. Experten versicherten immer wieder, es sei kaum denkbar, aber trotzdem eventuell möglich, dass es zum Schlimmsten käme.

Nachdem ich die Katzen ins Auto gebracht und Sparbuch und Papiere in meiner Handtasche verstaut hatte, legte ich den geöffneten Koffer mitten ins Wohnzimmer. Ich besitze keine wirklichen Wertgegenstände, keine wertvollen Gemälde, keinen teuren Schmuck – so musste ich die Dinge einpacken, die mir am Herzen lagen. Unvermittelt brach ich in Tränen aus, nichts von all meinen Besitztümern war als einzelnes wichtig, aber zusammen ergaben sie mein Heim. Der Sessel in dem ich abends immer saß und las, die vielen Bücher im Regal, der alte Kerzenständer von meiner Oma, mein Bett so bequem und gemütlich wie ein Paradies. Jetzt sollte ich Einzelnes hier heraustrennen, Hilflosigkeit ließ mich als erstes zum Kleiderschrank gehen, Pullover, Wäsche, Schuhe waren schnell im gierig geöffneten Maul des Koffers verstaut, aber er war damit noch nicht einmal bis zur Hälfte gefüllt. Ratlos wanderte ich durch die Wohnung, das Fotoalbum musste mit, der Kinderlöffel aus Horn, mein alter Fotoapparat und die Briefe meiner Mutter. Ich wagte nicht ins Bücherregal zu sehen, Bücher sind so schwer und ich liebte sie alle, es war mir unmöglich zu bestimmen, welche mich begleiten sollten, so ließ ich sie alle stehen. Zum Glück erinnerte ich mich in letzte Minute an meinen Kulturbeutel, Seife, Handtücher und den Inhalt meines Medizinschränkchens. Damit war der Koffer dann fast voll, ich schloss ihn und begab mich auf die Flucht.

Jetzt fahre ich hier im Schritt-Tempo auf einer Landstrasse, mit tausenden von anderen Flüchtlingen, die Katzen jammern in ihrem Korb, das Radio berichtet von unendlich langen Stauungen auf den Autobahnen. Zum Glück ist mein Wagen voll getankt, denke ich, als ich die langen Schlangen vor einer Tankstelle sehe. Ich muss nach Westen, gegen die Windrichtung. Leider habe ich die Straßenkarten vergessen, aber alle Wege sind verstopft, was sollte sie mir da nützen…. Plötzlich kommt ein Knall, eine Helligkeit in weiter Fern, dann eine Erschütterung, die viel zu stark für den Knall erscheint.
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Mein Vordermann steigt aus dem Auto, nimmt ein Baby auf den Arm und schreit seiner Frau etwas zu. Sie folgt ihm etwas zögernd mit einem älteren Mädchen an der Hand. Sie laufen querfeldein, ohne Gepäck und ohne sich umzublicken. Damit bin ich in meinem Auto gefangen. Immer mehr Menschen steigen aus, nehmen so viel Gepäck, wie sie tragen können und rennen ebenfalls über die lehmigen Äcker davon. Panik überkommt mich, ich will auch laufen, auf keinen Fall will ich hier alleine zurückbleiben. Ich hieve das Gepäck heraus und nehme den Katzenkorb. Der Koffer ist schwerer als ich dachte, erst bleibe ich auf der Strasse, damit ich ihn ziehen kann, aber nach wenigen hundert Metern ist kein weiterkommen mehr möglich, Autos stehen hier verkeilt ineinander, ich muss meinen Weg ebenfalls über die Felder suchen. Schon nach wenigen Schritten setzten sich die Rollen des Samsonite mit der nassen Erde zu, also versuche ich ihn zu tragen, aber dafür ist er viel zu schwer. Schnell gebe ich auf, lasse ihn einfach in einer Ackerfurche liegen, renne um mein Leben. Immer häufiger werde ich von jüngeren Menschen überholt, einmal sehe ich aus den Augenwinkeln einen Mann mit meinem Koffer, ich will ihm zurufen, er solle ich gefälligst stehen lassen, merke aber, wie sinnlos dies ist. Soll er ihn doch schleppen, soll er sich doch die Familienfotos ansehen und meine Pullover tragen, das spielt alles keine Rolle mehr. Immer schwerer wird der Katzenkorb in meiner Hand, die beiden verängstigten Tiere maunzen laut. Erschöpft bleibe ich stehen, hole einen Moment Atem, renne weiter. Meine Beine werden immer schwerer, dicke Lehmklumpen kleben an meinen Schuhen, einmal stürze ich und schlage mein Knie auf. Schließlich kann ich den Käfig nicht mehr tragen, stelle ihn ab und öffne ihn. Sie wollen nicht herauskommen, Fürchten sich vor den schreienden Menschen, ich muss sie herauszerren, dann stürzen sie den Fliehenden hinterher. Jetzt habe ich nichts mehr zu tragen trotzdem laufe ich nicht mehr, sondern gehe einfach in schnellem Schritt weiter. Flucht, ich fliehe, merke wie ähnlich ich den Bildern geworden bin, die ich sonst vom Sofa aus in den Nachrichten gesehen habe. Meine Hände sind inzwischen eiskalt, die Handschuhe waren im Koffer. Langsam wird es dämmrig, ich habe keine Ahnung mehr ob die Richtung in die ich gehe mich in Sicherheit bringen wird. Ich folge Stimmen, Rufen, dem aufheulenden Motor eines Motorrades, das sich festgefahren haben muss.
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Die Müdigkeit lässt mich gleichgültig werden, in der Ferne brennt ein großes Feuer, hier will ich hingehen, mich aufwärmen, vielleicht mit einem anderen Menschen sprechen. Nur nicht mehr alleine sein innerhalb dieser fliehenden Herde. Sprechen, bitte lieber Gott, lass mich mit jemandem sprechen.


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Kommentar von "Sabine Müller" zu "Die Lebenswippe"

Hallo, sehr schöne, wahre Gedankengänge! 5 Punkte von mir. lg Sabine

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