Aktuelles und Alltägliches · Kurzgeschichten

Von:    Alice      Mehr vom Autor?

Erstveröffentlichung: 29. August 2001
Bei Webstories eingestellt: 29. August 2001
Anzahl gesehen: 3089
Seiten: 3

Sitze bei Mäcci. Meine Lieblingsecke ist von einer Horde türkischer Jugendlicher besetzt, Mädchen allesamt hübsch und schlank und mit Jennifer-Lopez-Ohrringen; Jungs in athletisch-lässiger Haltung, Pfund Gel in Haaren. Unglaubliche Reichhaltigkeit des Wortschatzes, aber sie sind alle schöne Menschen, hat leicht Nachsicht, wenn Sprache lediglich aus Fernsehwerbesprüchen besteht. Wie kann es auch anders sein, wenn Fernsehen erst das Bewußtsein ermöglicht?

Ich ziehe am Strohhalm. Cola Light, DAS Getränk (oder sollte ich besser sagen Grundnahrungsmitel?) der Menschen, für die die Waage die soziale Kompetenz des alten, guten Beichtvaters ersetzt hat. Cola Light, DIE Leberverarschung, Prost auf die kommende Zirrhose.



Tatsächlich schlecht gelaunt bin ich heute. Mein Arm fällt unkoordiniert vom grau gesprenkelten Tisch auf den Rucksack neben mir. Spüre durch den Stoff die Packung Coffeintabletten, trinke gierig mein kalorienreduziertes Getränk. (Weißt Du, lieber Leser, dass Süßstoff, wie er in Cola Light 90% der Trockenmasse ausmacht, ein Importprodukt aus der Tiermast ist?)

Die Tussi aus der Apotheke. Als ich „Grüß Gott“ ihr zuraunte, strahlte sie mir ein „Grüß Gott“ entgegen, aber ein solches, das jedem jedes Medikament ohne Gewissensbisse andrehen könnte. Doch ich fragte nach Koffeintabletten, was ja kein Medikament ist. Finsternis in ihrem Gesicht. Obwohl sie mir weiterhin ihre wunderschönen, sympathischen weißen Zähne zeigt, kann ihr Lächeln nicht mehr halten, was es verspricht. Sachlich fragte sie nach der Größe der Packung.

„So groß wie möglich,“ wollte ich sagen, aber nein, ich bin keine Heldin des Alltags. „Kommt darauf an, wie teuer die sind“, sagte meine verraucht krächzende Stimme. Sie geht zum entsprechenden Regal, blickt ihre Kollegin an. Ich habe die Bedeutung ihres Blickes nicht erfasst. Und wenn auch, so interpretierte ich die Bedeutung, die meiner Laune entsprach und dem Bild, das ich von dieser Frau haben wollte. Sie sagte mir die Preise. Dann die kleinere Packung, bitte.

Geld rausholen. Habe ich den Geldschein verlegt? Peinliche 15 Sekunden des Wühlens im Portmonnaie. (Kann mir jemand sagen, warum immer dieses Verlegenheitsgefühl hochkommt, wenn ich länger als sofort nach Geld in meiner Kleidung oder den üblichen Geldaufbewahrungsutensilien suche? Ist diese Peinlichkeit ein Tribut an den unterdrückten Konsumhass?)

Jetzt aber raus, so, nochmal die Oma anrempeln, die an der „Wir sind für Sie da“-Service-Ecke zur kostenlosen Cholesterinmessung ansteht und Sturm zum Mäcci.
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Jetzt ist der Becher mit Cola Light leer.

Jetzt reiße ich meinen Rucksack vom Stuhl hoch, gehe mit bedeutungsschwangerem Gesichtsausdruck raus, zur Bushaltestelle, eine rauchen, nein, besser zwei, ah ja, die Coffeintabletten, zum Kiosk, Flüsigkeit zum Runterspülen kaufen, Cola Light als herzerwärmende handliche Dose, aufmachen, schlucken, spülen, fertig.



Busfahrt. Idole meines Lebens, ausgeglichene Menschen mit festem Arbeitsplatz, einer festen Freundin, festen Wurzeln, festem Freundeskreis und festen Hobbys fahren um mich herum mit. Würde so vieles geben, um zu sein wie sie. Natürlich kann ich so sein wie sie, darum geht es nicht. Sondern darum, so zu sein wie sie UND gleichzeitig die seelenfeste Überzeugung haben, dass ein so gelebtes Leben kein Selbstbeschiss ist.





Kameraschwenk.

Ein Pärchen im Bus, sie um die 16, er nicht viel älter. Sie reden etwas zu laut über ihre Schulfreunde, die den Schulabschluss nicht schaffen werden und es deswegen verschissen haben im Leben.

(Da weitere Existenzaussicht: Kassierer/in im HL-Markt. Komisch, ich kenne eine Medizinstudentin, die die Semesterferien über im HL an der Kasse arbeitet, kriegt zwar 13,50 die Stunde, aber ist zumindest bei den Eltern daheim in Augsburg, und das ist schon was nach eigener Aussage. Ich habe schon immer gesagt, dass die Bedeutung der Dinge nur im Kontext existieren kann. Also ist Kassierer im HL-Markt nicht gleich Kassierer im HL-Markt, WOW)

Sie reden noch lauter über ein Mädchen an ihrer Schule, das total die Schlampe und überhaupt voll die Hure ist. Über ein neues Handy, das er sich kaufen will. Bei diesem Gesprächsab-schnitt gehen seine Beine wohl automatisch bzw. als vergeistigter Reflex zum Schlüsselreiz: Statussymbol sehr weit auseinander, und er sitzt so majestätisch und angegeilt da, würde ihm zu gerne in den Schritt greifen.

Sie redet plötzlich sehr leise darüber, dass ihre zahlreichen Bewerbungen um einen Ausbildungsplatz unbeantwortet geblieben sind und was sie denn tun solle, klingt flehentlich .
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Sandy (anscheinend ihre Freundin) gehe auf die Kosmetikschule, die sei zwar beschissen, aber zumindest schon mal was. Und Sandy muß es ja wissen, denn sie kauft sich auch voll die Cremes und so, schon in der Schule, und weiß alles, wo was die Körperpflege angeht und so. Ja, denke ich mir auch, und so.

Da gibt es nichts mehr zu sagen. Am besten bestaunt man mit ehrlicher Bewunderung die ganze Busfahrt lang dieses Pärchen zum Beispiel oder andere Menschen aus dem realen Leben und denkt sogar noch zu Hause unter der Dusche nach einer weiteren Coffeintablette über sie nach. Und so.


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Kommentare zur Story:

  Das hab ich doch echt gern gelesen! Und so. ... Schönes Ende :-)  
   Dr. Ell  -  27.09.09 02:09

   Zustimmungen: 0     Zustimmen

  Super geschrieben, gleichgültig, involviert, ironisch und selbsterkennend zugleich.
5 Punkte, und so.  
Redfrettchen  -  08.11.03 12:26

   Zustimmungen: 0     Zustimmen

  Richtig, richtig böse. Das wäre eine perfekte Zeitungskolumne. Erinnert mich wiederum etwas an Bridget Jones.
Grosse Satire -congratulation!  
Pascal  -  24.03.02 13:36

   Zustimmungen: 0     Zustimmen

  Ja, mir gefällt, was Du schreibst. Authentische Augenblicksbeobachtungen in eine schöne, nachvollziehbare Form gebracht. Starke Sache, das!  
Jan  -  22.03.02 12:23

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Kommentar von "Jonatan Schenk" zu "Eine Rose wird blühen"

ein sehr schönes gedicht!

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