Fantastisches · Kurzgeschichten · Sommer/Urlaub/Reise

Von:    schwaen      Mehr vom Autor?

Erstveröffentlichung: 20. April 2001
Bei Webstories eingestellt: 20. April 2001
Anzahl gesehen: 3117
Seiten: 5

Auch an diesem Morgen bot sich Wilhelm nur ein trostloser Ausblick aus dem Fenster.

Dicke Nebelschwaden über dem Wasser. Kaum eine Chance für die langsam aufgehende Sonne, sich durch diese Suppe einen Weg zu bahnen.

Wilhelm kannte keine andere Aussicht.

Tag für Tag kletterte um diese Zeit aus seinem Bett, egal ob Sommer oder Winter. Der einzige Unterschied bestand darin, daß er im Sommer die Micon schon vor der Küste liegen sehen konnte.

Doch jetzt war später Herbst. Er würde das Schiff also früher hören als sehen können, wenn er mit der Barkasse hinausfuhr.

Und dann die Schmerzen. Ja, auch er wurde älter, dieses Jahr 59. Der alte Körper machte nicht mehr so mit wie früher. Jeden Tag nach dem Aufstehen diese elenden Rückenschmerzen.

Aber Unkraut vergeht nicht.

Ein Blick auf den Druckanzeiger am Tank: kaum noch Wasserstoff. Er würde sich bei seinen Einkäufen einschränken müssen und mal wieder die eigenen Reserven aufstocken.

Keine Besuche bei Maria, vorerst.

Also auch kein Tee heute Morgen. Der Brenner blieb kalt.



Eingehüllt in dicke Wollsachen öffnete er die quietschende Tür der Holzbaracke.

Ein kalter Wind pfiff und schlug Tür hinter ihm fast von alleine zu.

Er grinste innerlich.

Sehr gut. Reiche Ernte heute, vielleicht 5 oder 6 Kanister.

Am Pier dümpelte die Barkasse vor sich hin. Wilhelm lud 6 leere Kanister und etwas zu Essen ein, bevor er einstieg.

Dann hieß es wie jeden Tag: rudern, rudern, rudern.

Der dicke Nebel schluckte die leichten Schläge der Ruder ins Wasser. Trotz des Windes war der Wellengang hier an der Küste noch einigermaßen erträglich, weiter draußen, kurz vor der Micon, ja, da würden heute die Wellen ganz schön schwappen.

Weiter rudern.

Immer der gleiche Rhythmus, Tag ein, Tag aus.

Nach einer gewissen Zeit, durch den Nebel war immer noch nichts zu erkennen außer dem ihn umgebenden, allgegenwärtigen Wasser, hörte er die Micon. Ein leichtes Rauschen, an- und abschwellend, auch hier ein gleichmäßiger Rhythmus.

Seine Micon, sein Windschiff, seine Überlebensgarantie.

Der Wellengang wurde heftiger, wie erwartet.
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Kein Problem.

Irgendwann, mit Hilfe der immer weiter aufgehenden Sonne, schälten sich die Umrisse der Micon hervor.

Wilhelm war jeden Tag von diesem Anblick begeistert. Diese Erhabenheit, diese Gleichmut. Er liebte dieses Schiff.

Ursprünglich war sie ein ganz normaler Kutter. Aber dort, wo sich bei anderen Schiffen der Mast befand, besaß die Micon etwas viel wertvolleres: Windrotoren.

Gleichmäßig rauschend drehten sich die beiden Flügel im Wind.



Die Micon war nicht das einzige Windschiff. Als absehbar wurde, daß die fossilen Energieträger seltener wurden und für einfache Leute nicht mehr zu bezahlen waren, erinnerte man sich unter anderem an die Möglichkeit, Wind mit Schiffen zu ernten.

Gewiß, erste Versuche waren nicht sehr erfolgreich, doch in der großen Not, die auf die Verknappung der konventionellen Energieträger folgte, war jedes Mittel recht.

Viele Küstenbewohner bauten ihre Fischkutter um. Mit Fisch ließ sich kaum noch was verdienen. Geld verschwand fast gänzlich von der Bildfläche. Energie wurde die einzige Währung. Energie in Form von Wasserstoff.

Innerhalb weniger Jahre mußten die Menschen sich umstellen. Der tägliche Kampf um Energie bestimmte den Alltag. Nichts war mehr so, wie es vorher war. Reich und Arm, der Unterschied bestand nur noch in der täglich vorhandenen Wasserstoffmenge.



Wilhelm war einer der ersten, die die neue Zeit erkannten. Er ließ seinen Kutter Esmeralda umbauen und gab ihm danach einen neuen Namen.

Die beste Entscheidung seines Lebens.

Während er mit dem auf der Micon erzeugten Wasserstoff sein Überleben sicherte, kämpften andere um ihre Existenz.

Ja, Fische konnte man essen, aber man kann mit ihnen im Winter nicht heizen. Ihr Tauschwert war nicht besonders hoch. Auch heute noch gab noch es Fischer. Aber sie lebten am Rande des Existenzminimums. Wasserstoff war das einzige, was zählte.

Somit gehörte Wilhelm aufgrund seiner weitsichtigen Entscheidung zu den reichsten Männern des Ortes.

Viele waren gestorben.

Nicht Wilhelm. Die Micon hielt ihn am Leben.

Die Anfänge waren nun schon 8 Jahre her....



Wilhelm hatte keine Probleme, die Barkasse trotz des hohen Seegangs am Windschiff zu vertäuen.
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Routine.

Er betrat das Schiff, der Rotor sauste über ihn hinweg. Es würde ein guter Tag werden.



Den ganzen Tag blieb Wilhelm auf der Micon, legte sich in die Sonne, sobald sie gegen Ende des Vormittags endlich den Nebel einigermaßen vertrieben hatte.

Über Nacht fast 3 Kanister.

Wilhelm war zufrieden.

Das reichte, um seinen eigenen Tank aufzufüllen und auch noch, um in der Dorfschenke vorbeizusehen.

Flüchtig dachte er an Maria.

Nein, da würde er sich zurückhalten. Das war ein teures Vergnügen, und eigentlich hatte er es in seinem Alter auch nicht mehr so oft nötig.

Unter dem sonoren Rauschen der Windrotoren betrachtete er die norddeutsche Küste.

Auch andere hatten reagiert. Die gesamte Küstenlinie war voll von Windrotoren.

Unzählige.

Doch viele davon standen still, konnten den vom Wetter geschenkten Reichtum nicht ausnutzen.

Kaputt.

Es gab keine Ersatzteile mehr.

Auch die Micon hätte Reparaturen gebrauchen können. Doch niemand im Ort kannte sich damit aus.

Wilhelm dachte mit Sorge an den deutlichen Riß in einem der Rotoren. Man konnte nur hoffen, daß nicht mehr passierte.

Melancholisch wanderte sein Blick über die Küste ins Hinterland. Unter dem bewölkten Himmel konnte er das Darrieus-Windfeld von Knut auf dem Hügel erkennen. Eine andere Bewegung im sich drehenden Dschungel der Rotoren, hektisch, unrund, nicht wie die anderen. Verwirrend.

Irgendwo dahinter hatte Knut auch noch ein Solarzellen-Feld.

Das wird ihm im Moment nicht viel bringen, dachte Wilhelm. Zu wenig Sonne im Herbst.

Regenwolken zogen heran.

Er ging unter Deck und lauschte dort dem ewigen Rhythmus des Windes.



Erst abends ruderte er mit der Barkasse zurück.

Heute war ein Rekordtag. Noch nie hatte er dieses Jahr fast 6 volle Kanister Wasserstoff mit an Land genommen. Für die nächsten Tage brauchte er sich keine Sorgen zu machen, egal, ob das Wetter umschlug oder konstant blieb.

Vielleicht doch Maria?



Qiuetschend öffnete Wilhelm die Tür der Dorfschenke, zwei volle Kanister in der Hand.
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Der Wirt hinter dem altertümlichen Tresen, Otto, bekam ein sofort ein Glänzen in den Augen.

„Hey, seht mal, da kommt ein reicher Mann. Willkommen.“

Wilhelm grinste.

Außer ihm befand sich nur noch ein weiterer Mann im Schankraum. Nur wenige konnten sich noch den Besuch in einer Kneipe leisten.

Es war Dieter.

Er besaß eine kleine Windfarm am südlichen Ende von Neu-Wilhelmshaven. Nichts, was einen in diesen Tagen zum Krösus machen würde, aber es reichte. Wahrscheinlich brachte er mal wieder die Tageseinnahmen an Wasserstoff durch, bis ihn seine Frau aus der Kneipe schleifen würde.

Wilhelm nickte ihm zu, registrierte, daß Dieter, so, wie seine Augen aussahen, schon länger da sein mußte. Er wandte sich an Otto.

„Wie lange komme ich damit aus?“

Er knallte die Kanister auf den Tresen.

Otto lachte und knallte ihm eine Kurzen vor die Nase..

„Das wird wohl für diese Woche reichen, es sei denn, Du willst zu Maria.“

Wilhelm überlegte.

„Wenn, sag ich Bescheid.“

Otto war Marias „Vermieter“. Er durfte das, schließlich war er ihr Vater.



Mit glasigen Augen drehte sich Dieter zu Wilhelm um.

„Scho... schon gehört? Da soll es Piraten geben, die Wind...Windschiffern die Kutter zerstören und die Ernte klauen?“

Wilhelm spitzte die Ohren. Dieter mochte ein Säufer sein, doch seine Geschichten hatten meist einen wahren Kern.

„Woher weißt Du das?“

„Ge...gehört. Von Joachim aus Neu-Husum. Hab‘ ihn heute getroffen. Du weißt ja, in Neu-Husum gibt es mehrere Windschiffer. Oder besser: gab.“

Er kicherte.

„Alles ka...kaputt, verbrannt, versenkt. Dreimal haben sie schon zugeschlagen.“

Wilhelm zuckte die Schultern.

„Da kann man eh nichts machen. Wenn’s soweit ist, dann ist’s soweit. Pech.“

Wieder kicherte Dieter.

Die Treppe zum ersten Stock knarrte. Die Dorfschenke war eines der wenigen Gebäude mit zwei Stockwerken in Neu-Wilhelmshaven.

Herunter kam langsam der dicke Knut. Auf der Stirn stand ihm der Schweiß.
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Beim hinuntersteigen nestelte er umständlich an seiner Hose und versuchte, Reißverschluß und Gürtel zu schließen.

Otto wandte sich an Wilhelm.

„Du siehst, Maria ist frei. Ein halber Kanister nur, weil Du es bist.“

Wilhelm schüttelte den Kopf. Heute nicht mehr.

„Auch gut. Noch einen Kurzen?“

Nicken.

Knut kam langsam herangeschlichen.

„Die Frau macht mich noch mal fertig. Mann, ist die vielleicht drauf...“

Alle lachten.

Danach beschwerte sich Knut über die fehlenden Ersatzteile für seine kaputten Rotoren und mangelndes Fachpersonal.

Es folgte eine heiße Diskussion, bis Dieters Frau die traute Runde sprengte.



Am nächsten Morgen war es wieder nebelig.

Wilhelm gönnte sich einen heißen Tee. Er hatte gestern genug „geerntet“, und auch heute schien es wieder sehr windig zu sein.

Langsam konnte er damit beginnen, seinen Vorrat für den kommenden Sommer anzulegen. In den heißen Sommermonaten ging manchmal für Wochen kein richtiger Wind. Also mußte man rechtzeitig mit dem Haushalten anfangen.

Nun, wenn es so weiterlief, würde er den nächsten Sommer wohl problemlos überstehen.



Nach ein paar Minuten Rudern mit der Barkasse wurde Wilhelm nervös.

Er konnte die Rotoren nicht hören.

Und es roch nach Rauch.



Irgendwann war er weit genug gerudert, um Gewißheit zu haben. Die Micon lag nicht mehr an ihrem ursprünglichen Platz.

Durch den immer noch dichten Nebel konnte er nicht viel weiter als ein paar Meter sehen. Auf gut Glück ruderte er weiter in Richtung offene See.

Der Geruch von Verbranntem wurde zunehmend stärker.



Dann, endlich, sah er den leichten Feuerschein.

Er beeilte sich, die Stelle mit wenigen Ruderschlägen zu erreichen.

Der Anblick, der sich ihm bot, war kein richtiger Schock für ihn. Nach der Geschichte gestern von Dieter hatte er so etwas vermutet.

Wie ein gestrandeter Wal lag die Micon im Wasser, schräg auf der Seite, schon halb gesunken. Auf dem Oberdeck brannten noch mehrere kleine Feuer und die Reste der beiden Rotoren.
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Die zerstörte Ankerkette hing wie eine leblose Zunge am Heck hinunter.



Wilhelm ging nicht an Bord.

Er wußte, die Wasserstoffkanister waren nicht mehr da.

Wofür sollte er sein Leben riskieren?



Nun würde für ihn eine neue Zeit anbrechen.

Er brauchte eine andere Arbeit. Vielleicht bei Knut? Wilhelm verstand etwas von Maschinen, vielleicht könnte er dort unterkommen.

Oder im Hinterland. Dort suchten sie Arbeiter für die großen Schwungradspeicher. Der Job war gefährlich, ein hoher Verschleiß an Menschen. Sie würden ihn gebrauchen können.

Wilhelm fröstelte.

Das Leben geht weiter, dachte er sich.

Und die Menschen änderten sich nie.


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Kommentare zur Story:

  So kurz, so trocken, so prägnant, so realistisch...
Das kommt unheimlich echt rüber.
Beim Lesen huschte eine Gänsehaut über meinen Rücken. So weit ist diese Zeit gar nicht mehr von uns entfernt...
Ein traurig schönes Endzeitmärchen.  
Stefan Steinmetz  -  08.07.03 12:04

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  Erstens kommt es anders und zweitens, als man denkt. Der Schreibstil ist prima und mitreissend!  
Lord B.  -  24.03.02 09:59

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  Inhaltlich deprimierend, aber gut geschrieben!  
Gudrun  -  26.05.01 00:54

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  Du kannst ja schreiben, daran besteht kein Zweifel, aber warum nur gibst du dich inhaltlich für so dürre Öko-Pamphlets her?
Ich lese weitere Geschichten von dir, der Sprache wegen, aber wenn das so weiter geht, dann höre ich eben auf.  
Sven Benson  -  22.05.01 01:59

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  Da kann man sich dem Kommentar Melvins nur anschließen!   
esmias  -  01.05.01 11:48

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  Gefällt mir wirklich sehr gut. Der kurze gefasste Stil. Dieser nüchterne Hauch von Lethargie und Endzeitstimmung gewürzt mit Trost und Hoffnungslosikeit. In einigen Momenten glaubt man sich in 'waterworld' wiederzufinden doch nur um zu erwachen und festzustellen, das dieses Szenario im Gegensatz zu Hollywood erschreckend melancholisch realistisch ist. Super!  
Melvin Craven  -  22.04.01 01:46

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Interessante Kommentare

Kommentar von "darkangel" zu "Vor dem Fenster"

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