Kurzgeschichten · Romantisches

Von:    Klaus Asbeck      Mehr vom Autor?

Erstveröffentlichung: 20. April 2003
Bei Webstories eingestellt: 20. April 2003
Anzahl gesehen: 2487
Seiten: 4

Der alte Mann trat vor seine Hütte, wischte sich über die Augen, schaute zum Himmel und begrüßte den neuen Tag mit einem stillen Gebet. Es versprach ein schöner Tag zu werden. Die noch tief stehende Sonne schickte ihre Strahlen, die mit den dampfenden Erdnebeln spielten, weit über das stille Land. Ein Rabe, der sich immer in den nahen Bäumen aufhielt, und dem der alte Mann keinen Namen geben wollte, begrüßte diesen krächzend und flügelschlagend. "Ja, ja, Du und ich, wir beiden Namenlosen," murmelte der alte Mann. Er nahm den Weidenkorb vom Boden auf und folgte sodann bedächtigen Schrittes einem Pfad, der irgendwo unten in ein Tal führte. Über die vielen Jahre hatten seine Tritte diesen Pfad geformt, und die ihn säumenden Sträucher hielten ihn offen. Der Rabe folgte dem alten Mann oder flog ihm voraus. Beide kannten sich gut, jeder auf seine eigene wissende Art. Der alte Mann konnte die Sprache der ihn umgebenden Natur, der Steine, des Wassers, der Pflanzen und Tiere verstehen. Wie es umgekehrt auch der Fall war. Dieses Geschenk hatte ihm die Einsamkeit in einem Augenblick gemacht, als er sie vor ungezählten Jahren noch als so drückend empfunden hatte.



Ab und an pflückte der alte Mann auf seinem Weg ein paar Blätter einer Pflanze oder sammelte Beeren, auch schon mal Pilze, wenn die Zeit danach war. Dabei vergaß er niemals, sich bei den Pflanzen dafür zu bedanken. Und niemals legte er Heilkräuter in seinen Korb, ohne diesen zuvor erklärt zu haben, wie sie ihm helfen konnten. Und wenn er schon mal vergeblich nach einem speziellen Kraut Ausschau hielt, dann war es nicht selten der Rabe, der es ihm dadurch zeigte, daß er sich flügelschlagend daneben niederließ. Die Tiere, die ihn bei seinem Tun beobachteten, bekundeten keinerlei Scheu vor ihm, denn er gehörte hierher. Die ihn umgebende Natur nahm ihn deshalb wie selbstverständlich wahr. Eine Füchsin, die er vor Jahren aus einer tiefen Felsspalte befreit hatte, rief sogar ihre Welpen aus dem Bau, um sie stolz ihm zu zeigen. Wenn dann der Korb gefüllt war, kehrte der alte Mann zufrieden und in stiller Freude zu seiner Hütte zurück, denn auch heute hatte ihn die Natur wiedererkannt und reichlich beschenkt. Er hatte alles, was er brauchte, ein solides Dach über dem Kopf, die Sonne wärmte ihn, und der nicht selten entsagungsreiche Winter war noch viele Monde entfernt.
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Er betrat seine Hütte, die nichts enthielt außer jenem, was ihm die Natur bereitwillig überlassen, und was er über die Jahre für seine Zwecke zu gestalten gelernt hatte. Während er sich daran machte sein Essen zuzubereiten, schaute ihm mannigfaltig Getier zu. Und die Mäuse auf dem Dachgebälk piepsten aufgeregt, daß er auch an ihre hungrigen Mägen denken möge. So weit es in seiner Macht stand, teilte der alte Mann seine Nahrung mit den Tieren. Dafür respektierten diese seine Vorräte und verschonten seinen bescheidenen Gemüse- und Kräutergarten.



Wie lange er hier schon lebte, wußte der alte Mann nicht. Er konnte sich auch nicht mehr daran erinnern, wie er hierhin gekommen war. Auch seine Kindheit und Jugend waren hinter einem undurchdringlichen Schleier verborgen. Seine Träume hatten ihn nie in seine Vergangenheit, sondern nur tiefer in sein Wesen geführt, und hatten ihm letztendlich Frieden beschert. Sein Grübeln über seine Vergangenheit hatte ihm nur den Hauch einer Ahnung vermittelt, daß in seinem Leben etwas geschehen sein mußte, das so tiefgreifend und erschütternd gewesen war, daß ihn die Gnade des Vergessens retten mußte.

Doch ein einziges Mal hatte der alte Mann einen Traum, der hinter die Nebelwand seiner Erinnerungen zu führen schien, weil ihn das Geträumte so sehr erfaßte. Er sah einen Arm aus einem Schneefeld herausragen, dessen Hand ihn herbeiwinkte. Als er sich anschickte, an der Stelle den losen Schnee wegzuräumen, wich dieser wie von selbst seinen Händen aus und wurde von einem heftigen Windstoß fortgetragen. Zum Vorschein kam ein junges Männergesicht, aus dem ihn zwei hellblaue Augen anlächelten. Zu innerst betroffen schrak der alte Mann vor diesem Anblick zurück. In diesem Augenblick wachte er auf und hörte sein erschrockenes Herz laut pochen. Den Rest der Nacht verbrachte er in vagen Ängsten mit der drängenden Frage, wie er dieses Traumerlebnis einzuordnen und warum ihn dieses freundliche Männergesicht so sehr in Furcht und Schrecken versetzt habe.



Bei Tagesanbruch trat er noch ganz im Banne des nächtlichen Erlebnisses vor seine Hütte und erlebte ein grandioses Schauspiel der Natur.
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Die aufgehende Sonne hatte die schneebedeckten Gipfel der Bergkette in ein funkelndes Flammenmeer verwandelt, so eindringlich und so erhaben, wie er es noch nie erlebt hatte. Ergriffen faltete er seine groben Hände und bat seinen Schöpfer um Vergebung, falls er Schuld auf sich geladen haben sollte.

Der Rabe setzte sich neben ihn auf einen Hauklotz und schaute mit schräg gestelltem Kopf zu ihm hoch. Der alte Mann blickte in seine weisen Augen und sprach ganz leise: „Auch Du, Namenloser, begreifst den Augenblick.“



Nach jedem kargen Mal, das ihm die Natur im Sommer reichlicher und im Winter oftmals allzu knapp anbot, und für deren Beschaffung er wie die Tiere die meiste Zeit verbrachte, setzte er sich vor seine Hütte, schaute über das Land und überdachte sein Leben. Dabei teilte er die Zeit in kleine überschaubare Portionen ein. Er vermied es seit langem weiter in die Vergangenheit als in das Gestern zurückzugehen, er war zufrieden mit dem heutigen Tag und wagte sich auch noch in den kommenden Tag vor. Zu mehr ver-spürte er kein Bedürfnis, zumal ihn seine innere und äußere Gegenwart voll ausfüllten. In besonders klaren Nächten folgte sein Blick den Sternen, und seine Gedanken suchten die Unendlichkeit auf. Dieses waren die Augenblicke, wo er tiefe Dankbar-keit wegen seiner Existenz und auch Geborgenheit als Teil des Ganzen empfand, und wo dann seine Gedanken mit Liebe be-laden von der weiten Reise zu ihm zurückkehrten.



Und so verging seine Zeit angefüllt mit Reichtum. Doch auch der alte Mann spürte den zunehmenden Druck des Alterns, vor dessen Folgen er zwar keine konkreten Ängste hatte, aber seine Gedanken begannen nun doch sich über den morgigen Tag hin-aus zu tasten. Und wenn er sich auf seinem täglichen Weg nun zu-nehmend schwerfälliger bewegte, hielten die Tiere, die sein Er-scheinen bislang als etwas Selbstverständliches betrachtet hatten, in ihrer jeweiligen Beschäftigung inne und schauten ihn regungslos an, so, als seien sie sich über die besondere Be-deutung seines Erscheinens bewußt.



Seine Kräfte reichten noch für einen langen Winter. Eines Morgens aber, als ein lauer Wind den nahenden Frühling an-kündigte, und die Natur bereits begonnen hatte, hier und da ihren Lebenswillen zu bekunden, schleppte sich der alte Mann mühsam vor seine Hütte und ließ sich dort auf einem Baumstumpf nieder.
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Die Sonne war nur als blasse Scheibe hinter einem Wolken-schleier sichtbar und tauchte die Landschaft in ein trüb graues Licht. Es herrschte Grabesstille. Selbst der Rabe saß lautlos und unbeweglich auf seinem Ast. In diese Stille hinein vernahm der alte Mann zuerst ein fernes Rauschen, das sodann immer näher kam. Ein Vogel mit riesigen Schwingen zog einen Kreis über ihm und ließ sich vor dem alten Mann nieder. Dieser lächelte in sich hinein und fragte, ob die Zeit gekommen sei. Der große Vogel sah ihn schweigend mit seinen leuchtend roten Augen an, bevor er antwortete: "Deine Zeit ist gekommen. Dein Leben war mit Reichtum angefüllt, so wie es wenigen in nur einem Leben gegönnt wird. Denn Dir ward die Gnade des Sehens zuteil. Doch wenn Du Auserwählter noch etwas zu erledigen hast, dann sei Dir kurzer Aufschub gewährt." Doch der alte Mann winkte müde ab. Und mit brüchiger Stimme antwortete er: "Fürwahr, das Schicksal hat es gut mit mir gemeint. Ich habe vieles gesehen, so daß ich mich reich beschenkt fühle. Und was das Unerledigte anbelangt, für das Du mir Aufschub gewähren würdest, so würde ich gerne noch in den mir bisher verborgenen Teil meines frühen jetzigen Lebens schauen. Aber ich befürchte, dieser Blick würde mir meinen Frieden rauben. Nun denn, mächtiger Vogel, lasse mich jetzt also im Gebet Abschied nehmen." Und der alte Mann fiel auf seine Knie und nahm Abschied. Und alle Tiere standen im weiten Bogen schweigend um ihn herum. Der mächtige Vogel flog sodann mit dem alten Mann der Sonne entgegen, deren Strahlen sich in diesem Augenblick von der Wolkenlast befreit hatten.



An der Stelle, wo der alte Mann gekniet hatte, wächst heute ein prachtvoller Holunderbusch.





17.IV.2003
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Kommentare zur Story:

  Hum...Es ist wirklich nicht sonderlich leicht, Deinen Geschichtsausführungen zu folgen und den Grundgedanken, der dahintersteht, zu entdecken. Dies ist nicht die erste Geschichte, die Du schriebst, bei der mir das passiert, und offensichtlich geht es anderen genau so. Man sucht den Sinn, der nicht klar rüberkommt. Man muß einfach ZU VIEL darüber nachdenken, und das schadet dem Verständnis zur Geschichte, wie mir dünkt.
Das ist wirklich schade, für Leser und Schreiber.

Du sprichst immer wieder von Natur und den Lebewesen, die sich darin finden, den einfachen Dingen des Lebens, die glücklich machen.
Ich muß sagen, dieser Kern ist so wahr wie sonst nichts, aber für die Menschen unserer Moderne oftmals nicht nachvollziehbar und unverständlich. Schreibe genauer, präziser, nicht so in abstrakten Metaffern, dann kommt es auch bei jüngeren an, da bin ich sicher, denn schreiben kannst Du wunderbar!
Ich hoffe, ich habe es richtig verstanden und ibnterpretiert  
Dr. Ell  -  09.02.04 18:29

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  Wo liegt in der Geschichte der Sinn? Ein alter Mann, der nur noch den Winter sein ominöses Leben fristet und schließlich von einem 'Sonnevogel' ins Nirvana geflogen wird? Oder war er schon im Nirvana?
Ach Gott, ich hab eindeutig zu viel Siddhartha gelesen...

Mittel.  
Redfrettchen  -  30.11.03 09:41

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