Liebe Mutter,
jetzt sitze ich hier an meinem Schreibtisch, ziehe mir die Ärmel meines schwarzen Pullovers über meine bereits erkalteten zitternden Finger, zerre an meinem Armband, versuche die wilde Gedankenjagd in meinem Kopf neu zu ordnen und zu Papier zu bringen. Es ist nicht einfach. Die Klausuren im Gymnasium scheinen mir als kleiner Fisch dagegen in Erinnerung zu sein. Vielleicht kommt es mir auch nur deswegen so vor, da einmal Überstandenes und positiv Abgeschlossenes generell nicht mehr als schwere Hürde – die du zuvor als nicht zu bewältigen gesehen hast – betrachtet wird. Einleitend möchte ich mich um eurer Wohlbefinden erkundigen und fragen, ob Vater noch immer im Krankenhaus ist. Martha, meine Schwester, hatte mir von seinem Schlaganfall berichtet, der ihn vor zwei Tagen heimsuchte. Ja, Vater hatte wirklich viel gearbeitet und befand sich immer im Stress. Er hatte sich nicht halten können, trotz Warnung des Arztes, und schuftete bis zum Exzess. Und plötzlich von einen Tag auf den anderen, streift das Antlitz des Todes an dir vorbei. Zu schnell. Zu schnell läuft das Leben an uns vorüber. Und dann beginnt man wieder nachzudenken, über triviale Dinge, über belanglose Dinge und früher oder später über den wahren Sinn des Lebens. In schlechten Zeiten muss ich an meine Kindheit denken, auch wenn ich mich mit aller Kraft dagegen wehre. Bilder tauchen vor meinem Auge auf. Bilder der Enttäuschung geprägt von Depression und durchzogen von desolater Trost- und Hoffnungslosigkeit. Hm, ich habe Vater nicht in guter Erinnerung, lieber möchte ich meine Gedanken und scharzweißen Bilder an ihn aus meinen verzweigten Gehirnwindungen sezieren und anschließend verbrennen oder in Spiritus einlegen. Du wirst nun sehr geschockt sein über meine Gedanken, da es sehr unreif und böse klingt, aber es wäre gelogen zu behaupten, dass es mir leid täte, so über ihn zu schreiben. Wenn du wüsstest, was er mir angetan hat, würdest du bestimmt verstehen. Als wir noch Kinder waren – ich kann mich leider noch ganz genau daran erinnern, so als ob es gestern gewesen wäre – wollte er uns zu stereotypen Puppen erziehen, die seine Parolen auswendig beherrschen sollten und unter seinem Willen wie Marionetten tanzen sollten. Seine Erziehung beruhte auf eben diesem einen Satz, der wie folgt lautet: „ Bist du nicht willig, so brauch ich Gewalt!“
Tolle Erziehungsmethode übrigens.
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So schön altmodisch. Ich weinte oft und nicht selten verbrachte ich die Nächte unter verbitterten nicht enden wollenden Tränenausbrüchen, während ich nebenbei meine Ängste und Wünsche in Form von Tränen und Nasensekret in den Kopfpolster wischte, bis die Sonne an den Dächern mit ihren ersten Strahlen stützend aus dem Meer der Nacht krabbelte oder bis ich vor Erschöpfung einnickte. Dieser Schlaf war nie ein erholsamer. Von Albträumen gepeitscht fand ich mich oft blass und schweißgebadet in meinem kleinen Bettchen wieder. Ich bin doch noch so jung, gerade mal fünf Jahre alt gewesen, als er mich das erste Mal ohrfeigte. Er war besessen von dieser Aktivität immer alles besser wissen und sich permanent einmischen zu müssen. Im Grunde musste ich ihm gar nicht widersprechen – um mir aus seiner Perspektive – eine Tracht Prügel verdient zu haben, es reichte aus anwesend zu sein. Wenn ihm etwas nicht passte, ließ er es an mir aus. Aus welchem Grund, bitte, so frage ich dich, meine liebe Mutter? Ich werde es nie verstehen, denn an Respekt hatte er durch diverse Aktionen sicherlich nicht gewonnen. Ich habe ihn gehasst, weil er es zustande brachte, dass ich mich auch hasste. Ich machte mich damals dafür verantwortlich. Er hatte mich nie gemocht und das schlimmste war, dass er mich nicht als seinen Sohn akzeptierte. Jetzt mache ich ihn für alles verantwortlich. Auch dafür, dass ich niemandem mehr vertrauen kann und dafür, dass mein Verhalten und meine Phantasie gestört sind. Ich empfand mich nicht nur manchmal als völlig abnormes Kind, denn alle anderen Kinder, die ich kannte, pflegten eher eine Aversion gegen den Begriff „Schule“ zu haben, sondern auch als unheilbar und verdorben. Für mich bedeutete es nicht geschlagen und misshandelt zu werden. Meine Mitschüler verstanden mich oft nicht – ich hatte Kommunikationsprobleme – und deswegen schloss ich mich ihnen an, ihren Aktivitäten und ihren Meinungen. Ich wollte nicht auffallen. Zu bitter wäre die Tatsache gewesen ausgelacht zu werden, wenn man etwas „Falsches“ sagt. Lehrer wurden mir teilweise sogar zu Freunden, obwohl ich das nie gezeigt hätte. Ich wusste nicht, dass Menschen auch zum Loben fähig sind, auch wenn sich meine Angst vor Erwachsenen erst langsam löste.
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Mit dem Gedanken geschlagen zu werden aufzuwachen, ist kein schöner. Trost fand ich letztendlich in meinen mehr oder weniger guten Büchern, die ich besaß. Letzte Woche habe ich ein Buch entdeckt, das die Frage behandelt, warum Eltern ihre Kinder schlagen. Vielleicht wird es mir mehr Verständnis geben oder zumindest Anhaltspunkte liefern bezüglich schwarzer Erziehung, auch wenn mir bis dato kein rationaler Grund in den Sinn käme, seine Kinder schlagen zu dürfen. In meinen Augen ein riesiges unentschuldbar, unverantwortliches Verbrechen, das ich nie vergessen werde. Es hat zu schroffe Wunden hinterlassen und der Schock ist noch immer allgegenwärtig.
Ich blicke aus dem trüben Fenster, gegen das sich der Regen stürzt. Stille. Mein Kopf ist leer.
Meine Kindheit war es auch. Leer von Zuneigung, Liebe und Geborgenheit.
Du – meine liebe Mutter – hast mir mein Haar gestreichelt, während ich schluchzend in einer Ecke hockend meinen Kopf in meinen Händen und Beinen begrub. Ich hatte dich dafür geliebt. Gehasst hatte ich dich, weil du dich nicht von ihm getrennt hast, um mich so vor ihm in Schutz zu nehmen. Wie Paradox. Du hast ihm auch noch gut zugesprochen und ihn unterstützt. Wahrscheinlich nur aus Furcht selber geschlagen zu werden. Meine Kinder werde ich nie schlagen. Niemals will ich das. Niemals. Der Regen hat sich wieder eingestellt. Ein Regenbogen ziert den Himmel. Hoffnung. Die Gewissheit nie mehr geschlagen zu werden. Beruhigend. Ich danke dir für die Aufmerksamkeit, die meine Worte verlangten. Ich weiß, man hat es nicht leicht mit mir. Alles Gute, alles Liebe, schön, dass es dich gibt.
In Liebe,
dein Kind
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