Fantastisches · Kurzgeschichten

Von:    Rolf-Peter Wille      Mehr vom Autor?

Erstveröffentlichung: 6. November 2002
Bei Webstories eingestellt: 6. November 2002
Anzahl gesehen: 4386
Seiten: 3

Dies ist der Monat der Zentralprüfung. Viel ist in den Zeitungen über dieses äußerst wichtige alljährliche Ereignis geschrieben. Aber eine sehr merkwürdige und bedenkliche Begebenheit, die sich vor einigen Jahren (ich möchte aus offensichtlichen Gründen die genaue Jahreszahl verschweigen) bei der Zentralprüfung im Hauptfach Klavier zutrug, ist bisher von allen Beteiligten verschwiegen worden. Lange habe ich mit mir gerungen, ob ich dieses Schweigen brechen soll, aber ich glaube nun, daß man die seltsame Wahrheit den Lesern nicht mehr länger vorenthalten kann. Ich bitte meine Kollegen, die Juroren, die Zeugen dieses Vorfalls waren, meine Schwäche zu entschuldigen.



Man weiß, wie es bei diesen Prüfungen zugeht. Jeder Kandidat spielt drei Minuten lang ein selbstgewähltes Stück. Hunderte von Prüflingen reihen sich aneinander, stundenlang, tagelang... Die graue Monotonie in der schwülen Dschungelluft läßt ahnen, welche Qualen, welch endlos dahinkriechende Martern den zur Hölle verdammten Sünder erwarten.



Wir hörten bereits den dritten Tag, und unser dumpfes Dahindämmern wurde nur alle drei Minuten von der schrillen Klingel unterbrochen. Aber auch dieses Klingeln hatte sich schon längst periodiziert und fiel uns kaum noch auf. "Jeux d’eau" hatten wir bereits 83mal gehört, das "Rondo capriccioso" 50mal und die "Waldsteinsonate" 117mal. Schon längst hatte ich jedes Gefühl für Zeit verloren. Die ewigen Wiederholungen hatten mich hypnotisiert und in eine Art Trance versetzt - wie man sie vielleicht nach ausgiebigem Drogengenuß kennt.



Wahrscheinlich war es dieser Trancezustand, der mich plötzlich die Waldsteinsonate (das 118temal) schneller als gewöhnlich hören ließ. Die Leichtigkeit und der Schwung des Vortrages waren ungewöhnlich. Die nächste Kandidatin spielte ebenfalls die Waldsteinsonate. Die Brillanz war ganz überwältigend. Auch die anderen Juroren schienen plötzlich aufzuwachen, und so war es offensichtlich nicht nur mein eigener subjektiver Eindruck. Es schien so, als wenn sich das Stück von allein spielte. Sogar die Spielerin selbst schien äußerst überrascht, und als nun das Klingelzeichen ertönte, passierte es: Das Klavier spielte einfach von selbst weiter - im gleichen "Waldsteinrhythmus".
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Nie, mein ganzes Leben nicht, werde ich diesen Moment der Verblüffung vergessen. Die Schülerin verbeugte sich schnell und rannte hinaus. Die Juroren saßen mit offenen Mündern da. Dann, nachdem er sich etwas gefaßt hatte, rief der Vorsitzende laut: "Stop! Halt!", und ich schlug mit dem Bleistift mehrmals laut und äußerst stark gegen meine Kaffeetasse, aber es half nichts; das Klavier spielte die Waldsteinsonate - und gar nicht so schlecht!



Es schien, als wenn es uns zeigen wollte, wozu es eigentlich fähig sei. Kein Wunder, daß man sich schließlich rächt, wenn man alle drei Minuten unterbrochen wird. Ich konnte in dieser Hinsicht das Klavier gut verstehen. So ein Instrument ist ein kompliziertes und sensibles Gebilde, das aus Myriaden von Einzelteilen besteht. Man hätte sich eigentlich denken können, daß das Klavier nach 119malen die Waldsteinsonate auswendiglernt und von selbst weiterspielt.



Der Vorsitzende stand schließlich auf und knallte den Pianodeckel - das Klavier spielte weiter. Der Herr Direktor eilte herbei - äußerst nervös - denn der funkelnagelneue Flügel hatte viel Geld gekostet. Man sprach mit dem Klavier, man flehte es an, man drohte ihm - es half nichts: Das Klavier spielte die Waldsteinsonate und zitterte im Rhythmus mit.



Man schlug schließlich vor, den General Manager der Klavierfirma zu holen. Schließlich hatte er das Klavier importiert und war verantwortlich. Der Manager eilte mit dem Firmenauto herbei und sprach japanisch mit dem Klavier - das Klavier spielte die Waldsteinsonate. Der Technician erschien und drehte an allen Wirbeln - das Klavier spielte weiter - verstimmt, aber im Tempo.



Schließlich mußte der Direktor mit Tränen in den Augen zustimmen, den Flügel zu zerhacken. Nachdem die Arbeiter den Flügel zerhackt hatten, tanzten alle Einzelteile im Waldsteinrhythmus auf der Bühne weiter, und einige Tasten hopsten sogar ins Freie und versuchten zu flüchten. Die Polizei konnte sie erst nach einigen Tagen wieder einfangen, und seitdem befinden sie sich in einem Depot für gefährlichen Atommüll auf den Pescadoren.
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Man hört hin und wieder heute noch Gerüchte, daß Touristen auf den Pescadoren vermeinen, auf einem Inselrundgang plötzlich die Waldsteinsonate gehört zu haben.



(Nachwort: Ich muß zugeben, daß mein Bericht vom weiterspielenden Klavier nicht der erste ist. Auch im neunzehnten Jahrhundert scheint es solche Vorfälle gegeben zu haben. Der französische Komponist Hector Berlioz berichtet darüber anläßlich eines Konzertwettbewerbes im Pariser Conservatoire.)
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Kommentare zur Story:

  echt super. toll geschrieben.  
mork  -  09.02.03 05:53

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  Sehr schöne Geschichte!
Ich wußte schon immer, dass Klaviere leben.

Außerdem weiß ich jetzt auch, welches Stück ich bei meiner nächsten Klavier-Hauptfach-Prüfung nicht spielen werde  
Tino Lingenberg  -  22.12.02 00:11

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Kommentar von "Homo Faber" zu "Der Zug"

Hallo, ein schöner text, du stellst deine gedanken gut dar, trifft genau meinen geschmack. lg Holger

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