Romane/Serien · Nachdenkliches

Von:    Mes Calinum      Mehr vom Autor?

Erstveröffentlichung: 27. September 2002
Bei Webstories eingestellt: 27. September 2002
Anzahl gesehen: 3844
Seiten: 12

Der Regen hämmerte gegen die Heckscheibe des Wagens. Tony konnte Sarahs Schreie trotzdem deutlich hören. Wahrscheinlich viel deutlicher als Mr. Carrington es konnte. Er wusste, dass sie versuchte hinter ihnen her zu rennen.

"Daaad!", schrie sie. "Daaaaad, du darfst ihn nicht wegbringen." Sie klang so verzweifelt. Tony konnte spüren wie der Wagen beschleunigte und die Schritte von Sarah leiser wurden. Auch ihre Stimme begann langsam in seinem Kopf zu verblassen. Er drückte seine kalte, feuchte Nase gegen die Scheibe, aber sein Atem ließ sie beschlagen, so dass er nichts mehr erkennen konnte.

"Du darfst nicht zulassen, dass sie ihm wehtun", waren die letzten Worte, die er jemals wieder von Sarah Carrington hören sollte.

Er wandte sich jetzt Mr. Carrington zu, dessen Blick stur geradeaus gerichtet war. Tony konnte förmlich riechen, dass er noch immer sehr wütend war. Es tat ihm ja selbst leid, dass es soweit kommen musste, aber Bill hatte einfach nicht aufhören wollen. Seit Tony einen klaren Gedanken fassen konnte, hatte Bill ihn mit diesem verdammten Spuckrohr beschossen. Er hatte es von der ersten Minute an gehasst. Meistens konnte er sich bei Sarah verstecken oder bei Mrs. Carrington, aber leider nicht immer. Und heute - dachte er zumindest - würde er endlich dafür sorgen, dass Bill damit aufhörte; dass er diesen fiesen, brennenden Schmerz nie wieder ertragen musste.

"Tony tu dies nicht, Tony lass das! Mach Sitz. Tony aus. Pfui." Er verabscheute diese grünen stechenden Augen, das blonde, mit Gel nach hinten gekämmte Haar und das mit Sommersprossen gesprenkelte Gesicht. Er hatte die Stimme des Jungen noch deutlich im Ohr.

"Oh Tony, ...komm her. Ich hab was Leckeres für dich." Dabei lächelte er zuckersüß. Aber Tony sah den Schatten hinter dem Lächeln, der nur darauf wartete ihn winseln zu hören. Er hatte versucht in Sarahs Zimmer zu flüchten, aber Bill hatte ihn am Halsband gepackt und in sein Zimmer gezerrt. Seine Krallen hatten ein reißendes Geräusch auf dem Stoffboden ertönen lassen. Und ja, er hatte tatsächlich versucht zu winseln. Schließlich war er in Bills Zimmer auf und abgerannt und hatte nach den fliegenden Erbsen geschnappt, die gegen seinen Körper prallten. Bill hatte schallend gelacht und ihn dann weiter beschossen.
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Schließlich hatte Tony zu knurren begonnen, seine Zähne gefletscht. Er wollte eigentlich nur nach dem Spuckrohr schnappen, um es dem Jungen aus den Händen zu reißen. Er hatte einfach einen riesigen Satz gemacht, Bill umgeworfen und ihm dabei aus Versehen in die Hand gebissen. Bill schrie, Tony bellte. Die Erinnerung trieb ihm den Geschmack von Bills Blut erneut in den Mund.

Mr. Carrington war aus seinem Arbeitszimmer herüber gekommen und hatte die Kinderzimmertüre aufgerissen. Sein Gesichtsausdruck war entsetzt zwischen ihm und Bill hin und her gewechselt. Schließlich war dann auch Mrs. Carrington dazu gekommen und hatte sich mit großer Besorgnis zu Bill auf den Boden gestürzt. Mr. Carrington hatte Tony letztendlich beim Halsband gepackt und ihn in sein Arbeitszimmer gesperrt. Er war an der Türe auf und abgesprungen, hatte gebellt. Aber niemand wollte ihn herauslassen. Er hörte wie die Familie sich stritt. Nach einer Stunde lag Tony mit auf den Pfoten ruhenden Kopf vor der Türe und lauschte wie Sarah nach Hause kam. Dabei hatte er freudig mit dem Schwanz gewedelt und den Kopf gehoben, aber er hatte sich nicht getraut wieder mit dem Bellen zu beginnen. Dabei hätte er sie so gerne begrüßt. Irgendwann konnte er Sarah dann weinen hören. Das war kurz bevor Mr. Carrington zurück in das Arbeitszimmer kam und ihm die Hundeleine anlegte. Tony war deswegen etwas verwirrt gewesen. Er wollte sich freuen, weil es jetzt raus ging, weil er dachte, dass jetzt alles wieder wie vorher werden würde. Aber Mr. Carrington verhielt sich anders und Sarah weinte noch immer und er wusste, dass es etwas mit ihm zu tun hatte.



Das Animal Killshelter in Folsom, Kalifornien, war heruntergekommen; seine Lage trostlos, neben den rostigen Bahngleisen eines alten Güterbahnhofs gelegen. Tony sprang aus dem Wagen, als Mr. Carrington ihm die Tür öffnete und blickte sich neugierig um. Über ihnen ballten sich noch immer dicke Regenwolken.

Er erhaschte einen kurzen Blick in den Hinterhof, in dem noch ein Mann bei gedämpftem Laternenlicht eine Schubkarre in einen großen Ofen entleerte, aus dem Rauch aufstieg. Ein merkwürdiges Gefühl durchströmte Tony bei diesem Anblick und er schaute zu Mr. Carrington auf, dessen Aufmerksamkeit ebenfalls auf den Hinterhof gerichtet war und der jetzt zum ersten Mal seit Stunden Tony mit einem etwas milderen, unsicheren Gesichtsausdruck anblickte.
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Dann zog er an der Leine. Tony folgte ihm zum Eingang des Gebäudes und fragte sich, was sie wohl an einem Ort wie diesem tun würden. Er war zwar immer sehr neugierig und offen für neues, aber hier gefiel es ihm irgendwie nicht. Er freute sich schon auf zu Hause - auf sein Essen, die warme Decke und die sanften Hände von Sarah, die ihn dann hinter den Ohren kraulen würden, bis er einschlief.



"Wir werden uns darum kümmern. Die Spritze wird Sie $50 kosten und dann noch $100 extra für zwei Tage Futter und Zwingerunterbringung", sagte der Mann in der blauen Arbeitskleidung, mit dem Mr. Carrington jetzt sprach.

"Was ist das für eine Rasse?", wollte der Leiter des Asyls schließlich wissen.

"Eine Mischung aus deutschem Schäferhund und Labrador", antwortete Mr. Carrington.

"Der hat verdammt große Pfoten und Ohren. Sieht aus wie ein Clown. Tut mir Leid um ihn. Aber ich kann das verstehen. Wenn sie Kinder angreifen ist es mit dem Spaß vorbei."

Mr. Carrington nickte nur. "Kann ich ihn selbst in den Zwinger bringen?"

Ein dicker Kloß begann sich in Tonys Hals festzusetzen. Warum redeten sie so seltsam über ihn? Er folgte Mr. Carrington durch eine weitere Tür in einen langen Gang, an dessen beiden Seiten Zwinger bedrückend den Raum verengten. Hunde sprangen an den Gittern hoch und bellten aggressiv. Tony konnte drei Dinge auf einmal wahrnehmen, während sie durch den Gang schritten - das erste war der penetrante Geruch nach Kot und Urin, das zweite war Angst, und das dritte ein unbestimmtes Gefühl, dass die geöffnete Tür eines Zwingers genau den Ort kennzeichnete, zu dem Mr. Carrington ihn bringen wollte. Tony blieb stehen und blickte seinen Besitzer mit seinen großen dunklen Augen an. Dabei legte er den Kopf schief und seinen großen Ohren knickten nach vorne.

"Komm schon." Mr. Carrington zog an der Leine und schob ihn vorsichtig in den Zwinger, um ihm dann das Halsband abzunehmen. Tony versuchte verzweifelt an seiner Hand zu lecken, um sich zu entschuldigen. Er würde Bill ganz sicher nicht mehr beißen; er konnte auch mit dem Spuckrohr auf ihn schießen so oft er wollte. Nur an diesem grässlichen Ort, mit diesem fiesen Gestank, wollte er nicht bleiben - schon gar nicht allein.
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Aber Mr. Carrington schloss die Türe. Der Mann in dem blauen Anzug, der ihnen gefolgt war, verriegelte den Zwinger mit einem Extraschloss. Dann gingen sie beide. Und Tony bellte erneut.



Er wusste schon gar nicht mehr wie lange er an der Zwingertüre auf und abgesprungen war. Er hatte sich die Seele aus dem Leib gebellt und irgendwann saß er da, mit hängendem Kopf. Es war seltsam still um ihn herum. Und als er den Kopf etwas hob, konnte er sehen wie ihn die anderen Tiere anstarrten. Sie glotzten, als wäre er ein Ausstellungsstück. Tony zog den Schwanz ein, drehte sich um und kroch in die hinterste Ecke des Zwingers. Dort im Schatten des Flurlichtes konnte ihn keiner sehen... dachte er.

"Du musst dich nicht von ihnen einschüchtern lassen. Sie tun das immer, wenn ein Neuer kommt. Es gibt hier nicht viel Abwechslung bevor wir gehen, musst du wissen."

Tony hob den Kopf. Im Zwinger neben ihm lugte ein kleiner, weißer Hund unter einer Decke hervor. Sein Unterkiefer hatte einen starken Überbiss und sein Gesicht ließ deutlich erkennen, dass sein Stammbaum zumindest einen Pekinesen enthalten haben musste.

"Ich bin Poky. Wer bist Du?"

Tony begann zu knurren.

"Okay, du bist nicht besonders gesprächig. Kann ich verstehen. Hier redet kaum wer."

Tony wandte dem kleinen Hund den Rücken zu und rollte sich so zusammen, dass sein Blick auf die weiße, bekachelte Wand fiel. Diese starrte er an und versuchte dabei an gar nichts zu denken. Er hätte gerne geschlafen, aber er hatte das Gefühl, als würden Tausende von Augen fragende Löcher in seinen Rücken bohren.



In der Ferne kündigte sich der fünf Uhr Zug mit einem lauten Pfeifen an. Über Folsom hingen noch immer dicke Regenwolken, die es der Sonne nicht erlaubten durchzubrechen. Sie trugen ihren eigenen kleinen Überlebenskampf gegeneinander aus.

Tony hob erschöpft den Kopf. Er hatte kaum ein Auge zugemacht in dieser Nacht und die meiste Zeit damit verbracht dem monotonen Summen der Leuchtstoffröhren zuzuhören. Zu allem Übel musste er mal für kleine Welpen, aber es widerstrebte ihm sein Geschäft auf den blanken Kacheln zu verrichten.
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Jetzt näherten sich Schritte und jemand öffnete die Tür, durch die auch Tony am Abend zuvor gebracht worden war. Es war der Mann, der bei Tonys Ankunft im Hinterhof gearbeitet hatte. Er fuhr einen grauen, klapprigen Essenswagen in den Gang, auf dem sich zahlreiche Schüsseln und Plastikflaschen befanden. Der Geruch von billigem Hundefutter erfüllte die Luft, als das Essen an alle verteilt wurde. Tony musterte den Mann skeptisch, als dieser die Tür zu seinem Zwinger öffnete. Er verbarg sein Gesicht hinter einem Vollbart und trug die gleiche blaue Kleidung wie der Mann im Büro. Er roch nach Bier, Zigaretten und Schweiß.

"Na mein Freund. Du bist wohl der Neue. Hübscher Kerl." Das war eigentlich alles was er sagte und dabei lächelte er sogar freundlich. Obwohl alle Alarmglocken bei Tony klingelten, empfand er bei diesem Lächeln etwas Warmherziges. Und er wünschte sich im gleichen Gedankenzug, dass Sarah durch diese Tür kommen würde, um ihn nach Hause zu bringen. Wo war sie nur?

Nachdem alle versorgt waren, öffnete der Mann den Zwinger des kleinen Pekinesen und begann sanft mit ihm zu reden und ihn hinter den Ohren zu kraulen. Was nichts Besonderes gewesen wäre, wenn nicht die anderen Hunde mit dem Fressen aufgehört hätten und der kleine Hund nicht so eine ablehnende Haltung eingenommen hätte. Schließlich wurde er auf den Arm genommen und zappelnd zu der Tür am Ende des Ganges getragen. Er kläffte verzweifelt und Tony trat näher an das Gitter heran, um mehr zu sehen. Der Griff des Mannes war fest und bestimmend. Eine der Leuchtstoffröhren flackerte, als der Mann hinter sich die Tür schloss.



"In diesem Raum werden wir alle enden", sagte eine Stimme, die aus dem anderen Zwinger zu seiner linken kam.

"Was passiert dort mit ihm?" Tonys Stimme war ganz leise, während er noch immer die Türe anstarrte.

"Sie nennen es einschläfern."

Tony blickte den Hund fragend an. Es war ein alter, zahnloser Rottweiler, der müde und ausgemergelt wirkte.

"Einschläfern?"

"Ein milde Umschreibung für unseren Tod, um uns abzuschieben und uns in die Verbrennungsanlage zu werfen."

"Ich verstehe nicht; was bedeutet das genau?"

Der Hund zog die Augenbrauen hoch.
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"Du bist in einem Killshelter. Hier endet für die meisten von uns der Lebensweg; hier machen wir Bekanntschaft mit dem Tod."

"Der Tod? Den kenn ich nicht."

"Wer hat dich denn großgezogen?" Das kehlige Geräusch, das aus dem Rachen des Rottweilers drang, klang beinahe wie das raue Lachen eines Kettenrauchers.

"Weißt du was es bedeutet zu sterben?"

"Nein", antworte Tony eingeschüchtert.

"Willst du mir sagen, dass deine Mutter dich nie über die Menschen und das Leben aufgeklärt hat?"

"Ich kenne meine Mutter nicht."

"Bist wohl einer von diesen Welpen, die sie im Tiergeschäft verkauft haben, was?"

Tony machte eine gleichgültige Geste.

"Was ist denn nun der Tod?"

"Das ist das Nichts in das du eintrittst, mein Junge, nachdem sie dir die Spritze gegeben haben. Du wirst schläfrig, denkst du nickst ein, aber dann mit einem Mal bist Du puff und weg, du kommst nie wieder. Es ist der traumlose Schlaf der Ewigkeit aus dem du nie wieder erwachst. Nie mehr über eine Wiese springen, nie mehr ein fettes saftiges Steak. Aus, weg, ... vorbei."

Tony machte ein paar Schritte zurück.

"Das will ich aber nicht. Das klingt schrecklich. Warum tun die das? Ich hab doch gar nichts unrechtes getan!"

"Es interessiert die Menschen nicht, was für dich unrecht ist und was nicht. Für sie zählen nur ihre eigenen Gesetze. Und da gehörst du jetzt nicht mehr dazu. In ein paar Tagen bist du ausradiert aus ihrer Welt. Puff!" Das letzte Wort war bewusst so betont, dass es Tony in Panik versetzen sollte und genau diese stieg jetzt auch in ihm hoch.

"Lass dich vom alten Chance nicht so erschrecken. Wir kommen alle in den Hundehimmel."

Tonys Blick wandte sich hastig dem Zwinger gegenüber zu.

"Ja genau", wandte eine dünne Stimme am Ende des Ganges ein.

"Chance ist ein alter Miesmacher und Skeptiker. Jeder weiß doch, dass alle Hunde in den Himmel kommen. Da gibt es gar keinen Zweifel dran!"

"Pah, was wisst ihr schon vom Leben, dass ihr euch auf alte Märchen verlasst, die euch eure Mamis erzählt haben.
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Ihr seid zu feige, um der Wahrheit ins Gesicht zu schauen! Wir sitzen alle in diesem Teufelshaus und am Ende werdet ihr sehen, wie die kalte Realität aussieht. Eine Welt, von Menschen geschaffen, beinhaltet doch nicht solche Banalitäten wie einen Hundehimmel. Im Himmel der Menschen ist kein Platz für uns. Die lachen sich ja tot, die..."

"Hör jetzt auf Chance! Du machst dem Neuen mehr Angst als nötig. Nachher kläfft er uns den Rest seiner Zeit voll und wir können nicht schlafen!"

Tony hatte sich mittlerweile wieder in seiner Ecke zusammengekauert. Er wollte nichts mehr über den Tod oder einen Hundehimmel hören. Er zitterte am ganzen Leib und merkte zum ersten Mal in seinem Leben, was es hieß hilflos in seinem eigenen Körper und in einem Zwinger gefangen zu sein; ein Opfer seines eigenen Unwissens.

Er wusste nicht was er glauben sollte. Warum hatte ihm nie jemand erzählt, dass es so etwas wie den Tod gab? Als er einen der Goldfische versehentlich gefressen hatte, da haben sie gesagt er sei tot, aber er war so lecker, also konnte es nichts Schlimmes gewesen sein; das dachte er damals zumindest. Und jetzt taten sich auf einmal ganz neue Seiten auf. Er dachte zum ersten Mal über sein Leben nach. An viel konnte er sich wirklich nicht erinnern. Nur an seine Familie - die Carringtons - und vor Allem an Sarah, die er jetzt nie wieder sehen sollte? Nie wieder ihr Lachen, nie wieder mit ihr über die Wiese toben, gar nichts. Nicht einmal mehr raus aus diesem Gebäude. Wann hatte er eigentlich zuletzt die Sonne gesehen? Da draußen musste es seit Ewigkeiten grau und trist sein. Er blickte auf den fahlen Lichtstrahl, der über ihm durch ein kleines, vergittertes Fenster fiel. Gefängnis, das verstand er jetzt. Freiheit, die wollte er wieder haben; koste es was es wolle. Freiheit.



Gegen Abend ging der Mann erneut seine Runde und brachte das Futter. Tony knurrte und fletschte die Zähne, als er mit seinen Händen den Futternapf in den Zwinger schob.

"Was ist los mit dir, mein Junge?" Er versuchte Tony zu berühren, aber dieser drückte sich gegen die Wand und schnappte nach ihm. Er wollte, dass der Mann wegging. Wenn er ihn anfasste, um ihn in diesen fürchterlichen Raum des Todes zu bringen, würde er ihn zerfetzen, ihm alles antun, was er Bill gerne angetan hätte, aber sich nie getraut hatte.
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"Du bist nicht wirklich böse, das nehme ich dir nicht ab. Ich kann verstehen, dass du Angst hast. Ist kein schöner Ort hier. Solltest nicht hier sein. Du gehörst zu deiner Familie. Will gar nicht wissen, weshalb es dich erwischt hat. Manche Leute sollten keine Hunde halten." Der Mann schloss den Zwinger und ging. Tony blickte ihm etwas verwirrt hinterher. Er hatte ihn nicht mal ansatzweise versucht herauszuzerren.

Die Tür zum Todeszimmer öffnete sich, und er konnte spüren wie alle angespannt in den Raum dahinter zu starren versuchten, aber bevor sie einen Blick erhaschen konnten, wurde sie wieder geschlossen.

"Hey Stewart, Schluss für heute?", fragte der Mann den jungen Tierarzt.

"Hmm, ich hasse diese Seite meines Berufs. Ich wünschte, ich könnte mir eine Praxis leisten oder wenigstens irgendetwas tun, um diese Tiere hier weiter zu vermitteln."

"Ich weiß was du meinst." Der Mann klopfte Stewie mitfühlend auf die Schultern.

"Es ist schlimmer als in einem Altenheim. Wie viele morgen?"

"Zwei glaube ich. Der Rottweiler und der Schäferhund-Mix."

"Das geht viel zu schleppend voran mit den Tieren. Kann man sie nicht schneller aus diesen Zwingern befreien?"

"Wenn du nicht gerade alle auf die Straße setzen willst, nein. Es gibt nicht genug Geld für die ganzen Injektionen. Und ich denke für diese wird auch kein Tierfreund freiwillig spenden."

"Aber die Hunde hier rausholen tut auch keiner von denen. Wo sind die sogenannten Tierfreunde alle, wenn sie wirklich gebraucht werden?"

"Zu Hause und sehen Animal Planet." Die beiden Männer lachten, aber es war kein glückliches, sondern ein bitteres Lachen. Und damit gingen sie auf die Tür zu und löschten das Licht. Die Hunde lauschten noch eine Weile ihren Stimmen, bis es ganz still geworden war.



"Wie kann ich von hier abhauen?", flüsterte Tony in die Dunkelheit.

"Gar nicht, halt dein Maul und schlaf weiter", knurrte Chance und schnarchte.

"Aber es muss einen Weg hier raus geben. Vielleicht kommt man an diesem Mann vorbei, während der Fütterung?"

"Vergiss es, der ist stärker als du; der packt dich und steckt dich gleich in die Todeskammer!"

"Das glaube ich nicht.
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Er scheint mir nicht wirklich böse zu sein."

"Woher willst ausgerechnet du das wissen? Du kennst doch nichts außer der Familie, die dich im Stich gelassen hat!"

"Sarah hat mich nicht im Stich gelassen!", knurrte Tony. "Sie kommt und findet mich. Wirst schon sehen!"

Der Rottweiler gab ein gluckerndes Geräusch der Ironie von sich.

"Und wenn nicht...", setzte Tony fort, "dann werde ich sie finden!"



Das Gefühl die Nacht mit seinem eigenen Kot zu verbringen, ekelte Tony an, aber dagegen konnte er auch nichts tun, außer sich in eine Ecke zu drücken, die von dem kleinen Haufen möglichst weit entfernt war. Der Geruch drang ihm dennoch in die Nase, die er versuchte unter seiner Pfote zu verstecken. Leider verschwand er nicht im Abfluss wie der Urin. Er wollte zurück zu Sarah, mehr als alles Andere und nicht einfach ausgelöscht werden, nur weil er Bill in die Hand gebissen hatte. Bill durfte ja auch weiterleben und sicherlich war der Schmerz in der Hand von wesentlich kürzerer Dauer, als die zahlreichen Stunden, die Tony unter Beschuss gestanden hatte.



Als am frühen Morgen der Mann den Gang betrat, um mit der Fütterung zu beginnen und die Zwinger zu reinigen, war es Tony, der als erstes seine Nase durch die Gitterstäbe steckte und freundlich mit dem Schwanz wedelte.

Dementsprechend verblüfft war der Ausdruck des Mannes, als er vor seinem Zwinger ankam.

"Na, was ist denn mit dir passiert? Du musst ja mächtig Hunger haben."

Er öffnete den Zwinger und schob Tony die Schüssel zu. Tony rollte skeptisch mit den Augen, während der Mann ihn streichelte und wartete auf den Moment, in dem er sich umdrehen würde, um nach dem Wasserbehälter zu greifen.

Genau das tat der Mann auch und Tony reagierte blitzschnell.

Mit einem unbeholfenen Satz war er tatsächlich an dem Mann vorbeigekommen. Allerdings rutschten seine Krallen auf dem glatten Boden und er hatte Mühe das Gleichgewicht zu halten.

"Hey, so war das aber nicht gedacht", sagte der Mann und ließ den Wasserbehälter fast fallen, als er versuchte ihn abzusetzen.
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Die anderen Hunde begannen wie wild in ihren Zwingern Lärm zu schlagen. Sie feuerten Tony an.

Dieser merkte schnell, dass es aus dem Gang kein Entkommen zu geben schien, denn die beiden einzigen Türen waren verschlossen.

Etwas verwirrt und nach Hilfe suchend, blickte er sich um. Die anderen waren noch immer aufgeregt.

Der Mann kam auf ihn zu, sehr langsam.

"Ganz ruhig mein Guter. Ich weiß, dass du da raus möchtest und ich würde dir helfen, aber ich muss an meinen Job denken, verstehst du?"

Tony kannte diesen beschwörenden Klang in der Stimme und dachte an Bill. Nein, der Mann würde ihn nicht anfassen. Tonys Nackenhaare sträubten sich. Und in dem Moment, als der Mann nach ihm greifen wollte, ging die Tür auf.

"Was ist das für ein Lä...?" Die Augen des Shelterleiters weiteten sich, als Tony sich an ihm vorbeidrückte.

"Was zum Teufel?", setzte der Leiter fort. Der Mann zuckte bei dieser Bemerkung nur unschuldig mit den Schultern.

Tony rannte durch den Raum, in dem er vor zwei Tagen angekommen war. Die Tür, die ihm den Weg in die Freiheit hätte bescheren sollen, war ebenfalls verschlossen und niemand weit und breit, der sie öffnen konnte. Tony schnappte nach dem Türknauf, aber er hatte noch nie eine Türe geöffnet und wusste nicht wie man diesen vergoldeten Ball bewegen musste.

Der Leiter des Tierheims reagierte schnell und griff nach dieser langen Stange mit der Schlaufe. Tony beäugte das Gerät misstrauisch und wich ihm mit einem Sprung aus, der gegen ein Regal endete und es so stark zum Wanken brachte, dass einige Bücher heraus fielen und Tony unangenehm in den Rücken krachten. Das lenkte den Hund für eine Sekunde so sehr ab, dass er gar nicht merkte wie sich die Schlinge um seinen Hals zuzog.

Aus und vorbei - die beiden Männer schleiften ihn gemeinsam zurück in seinen Zwinger. Tony konnte sich unter ihren Griffen wenden wie er wollte, es hatte keinen Sinn. Wenige Sekunden später saß er wieder in seinem Zwinger hinter verriegeltem Schloss. Chance starrte ihn mit diesem ich-habs-doch-gewusst Blick an. Tony drehte ihm den Rücken zu.
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Was sollte er jetzt noch machen? Er hatte keinen Mut noch mal einen Fluchtversuch zu unternehmen; der letzte war einfach zu peinlich gewesen. Aber hatte er eine Wahl? Wollte er hier sterben oder nach Hause? Vielleicht wollten ihn die Carringtons ja wirklich nicht? Es wäre schön, wenn er und Sarah noch ein einziges Mal zusammen sein könnten.

Der Mann beendete die Fütterung und reinigte danach alle Käfige bis auf den von Tony.

"Dir traue ich nicht mehr", sagte er im Vorbeigehen.

Als der Mann seine Arbeit erledigt hatte und die Tür erneut aufging und der Leiter mit zwei Fangstäben wiederkam, schlichen alle Hunde mucksmäuschenstill in die hintersten Ecken ihres Zwingers. Ein unangenehmes Frösteln ging durch Tonys Körper, als sie auf seinen Zwinger zukamen, und etwas wie ein gemischtes Gefühl zwischen Erleichterung, Bedauern und Panik erfüllte ihn, als sie den Zwinger von Chance öffneten und ihm die Schlingen um den Hals legten. Der Rotteiler wehrte sich allerdings nicht. Er blickte Tony nicht einmal an, sondern folgte den beiden Männern ohne Zögern. Etwas wie Stolz sprach aus seiner Haltung, während er durch die Tür trat und sie sich hinter ihm schloss.

Für eine Weile blieb es auch still und keiner sagte etwas bis Tony die Stille beendete.

"Und wie sieht es im Hundehimmel aus?"

Es dauerte etwas bis einer der Hunde auf seine Frage antwortete.

"Deine Mutter wartet im Hundehimmel auf dich. Auf einer großen Wiese. Du kannst dort machen was du willst, essen soviel du willst. Es ist das Paradies."

Tonys Kopf ruhte ruhig auf seinen Pfoten.

"Das Paradies?", flüsterte er mehr zu sich selbst. "Das klingt viel besser als der Tod. Woher habt ihr vom Hundehimmel erfahren?"

"Ein Gefühl sagt dir, dass er irgendwo dort draußen ist. Man muss nur fest daran glauben. Tot bist du dennoch, aber du verschwindest nicht einfach. Das ist eine Lüge."

"Ist schon mal jemand von dort zurückgekommen, um vom Paradies zu berichten?"

"Nein, du kannst nicht von dort zurückkommen. Du bist dort für immer, aber du bist glücklich. Es ist schön dort."

"Woher wollt ihr dann aber wirklich wissen, dass es ihn gibt, wenn noch nie jemand zurückgekommen ist, um von dort zu berichten?"

"Glaube! Glaube an deine Träume und dann kommst du in den Hundehimmel.
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"

"Okay", sagte Tony. "Das ist immer noch besser als einfach zu verschwinden, wenn ich sterbe. Vielleicht komm ich hier ja doch irgendwie raus."

Keiner der Hunde gab ihm darauf eine Antwort, auch nicht, als sich die Tür zur Todeskammer öffnete und die beiden Männer erneut heraus kamen. Diesmal blieben sie vor Tonys Tür stehen.

Er merkte wie er zu zittern begann, so sehr, dass er nicht mal auf seinen eigenen Beinen stehen konnte. Er hatte Angst sich zu wehren. Am Ende wurde er aus seinem Zwinger getragen. Er blickte die Hunde an, die noch in ihren kleinen Gefängnissen saßen; dann wurde er in die Todeskammer gebracht. Er sah sich nach Chance um, konnte ihn aber nirgends entdecken. Natürlich nicht, denn er war ja schon tot. Vielleicht verschwand man wirklich einfach und es gab keinen Hundehimmel?

Die beiden Männer setzen ihn auf einen Tisch in der Mitte des Raums. Was Tony nicht schlimm fand, weil er auf einer weichen Decke lag. Er konnte den Geruch von Chance sogar noch wahrnehmen. Die beiden Männer wichen nicht von seiner Seite. Der eine, der immer noch nach Bier und Zigaretten roch, kraulte ihn hinter den Ohren und sprach auf ihn ein, so wie Sarah es immer getan hatte, wenn er am Abend neben ihrem Bett gelegen hatte. Vielleicht war der Tod ja doch ganz okay. Einschlafen war ja auch etwas Schönes.

Der Tierarzt hatte etwas in seiner Hand, das Tony nur allzu gut kannte. Es löste ein unangenehmes Gefühl aus, weil es stach, aber für gewöhnlich streichelten ihn danach immer alle und waren stolz auf ihn. Immer noch nichts ungewöhnliches dabei, versuchte Tony sich einzureden.

Und nach der Spritze geschah auch erstmal nichts Ungewöhnliches. Der Tierarzt massierte seinen Nacken wie es sein alter Tierarzt auch immer getan hatte, nachdem er Tony eine Spritze verabreicht hatte. Die beiden Männer waren immer noch neben Tony und streichelten ihn jetzt beide. Tony blickte sie für einen kurzen Moment an und fragte sich, was als nächstes passieren würde. Ein angenehmes Gefühl von Müdigkeit begann sich in seinem ganzen Körper auszubreiten. Sein Kopf wurde davon ganz schwer, so dass er ihn vorsichtig auf der Decke aufstütze.
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Er konnte seine Augenlider kaum noch offen halten. Einige Sekunden versuchte er noch gegen das Gefühl anzukämpfen, aber er war zu schläfrig, um es abzuwehren. Schließlich ließ er sich einfach hineindriften. Hundehimmel, ich glaube an den Hundehimmel, redete er sich noch ein und sah im Kopf eine Wiese auf der Sarah stand. Ich bin im Hundehimmel. Er rannte auf Sarah zu, sprang über die Gräser hinweg, aber bevor er sie erreichen konnte, verblasste sie vor seinen Augen. Tony blieb stehen und drehte sich um. Weit und breit niemand zu sehen. Selbst das Gras schien unter seinen Pfoten zu verschwinden. Er war verwirrt. Was geschah hier? Wo war der Hundehimmel hin? Ein merkwürdiges Gefühl der Taubheit stieg von seinen Pfoten auf. Er konnte sie nicht mehr bewegen und als er an sich herabblickte, sah er wie seine Pfoten unter ihm langsam verschwanden, dann seine Beine. Ungläubigkeit war das erste, das ihm dazu einfiel. Es gab gar keinen Hundehimmel. Chance hatte doch Recht gehabt. Dann merkte Tony wie seine Gedanken langsam schwächer wurden. Er dachte noch an Sarah und einige schöne Erlebnisse, an die er sich noch einmal erinnern wollte. Aber alles was er vor sich sah, war Chance in seinem Zwinger. Puff.
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Kommentare zur Story:

  *Schwer Schlucken muss*
Die Story ist gut geschrieben, aber das Ende ist echt gemein.
Hättest ihm wenigstens den Hundehimmel gönnen können.
Aber sie ist trotzdem klasse geschrieben, auch wenn ich mir jetzt verstohlen eine Träne aus den Augen wische.
5 Punkte, mit schwerem Herzen.  
Drachenlord  -  07.05.03 08:50

   Zustimmungen: 0     Zustimmen

  Hallo Mescalinum!
Die Idee ist wirklich sehr interessant! Deine atmosphärische Schreibweise gefällt mir ebenfalls sehr gut. Die Story ist weder flach, noch zu tiefsinnig. Easy reading, wenn du mich fragst. Ich glaube nur, dass du etwas mehr Liebe zum Detail entwickeln solltest. Das ist vielleicht etwas misverständlich... ich will es so sagen: Die Erzählhaltung gegenüber der Handelnden Person (Tony) empfinde ich als zu distanziert. Einen konkreten Verbesserungsvoschlag kann ich dir spontan leider nicht geben.
Ich würde dir vier ein halb Punkte geben!
Liebe Grüsse
Cassio  
Cassio  -  23.10.02 18:16

   Zustimmungen: 0     Zustimmen

  Kann mich meinen Vorpostern nur anschließen, die alles bereits gesagt haben.
Nur das eine noch: Das Ende ist so deprimierend. Geht es für Menschen, die sich nach langem Leiden Ruhe und Frieden im Jenseits erhoffen, etwa auch so...?
5 Punkte. Und jetzt sag' ich nix mehr, habe immer noch am dem Klops im Hals zu kämpfen...  
Gwenhwyfar  -  11.10.02 14:17

   Zustimmungen: 0     Zustimmen

  Allein die IDEE ist schon klasse!
Dazu kommt, dass die Geschichte hervorragend geschrieben ist. Das Ende ist schrecklich traurig und ein bisschen gemein. Obwohl ich kein Hundefreund bin, hätte ich dem ollen Pelzkerl den Hundehimmel gegönnt.
Hat tiefe Gefühle geweckt, deine Geschichte. Ab sofort steht sie in meiner persönlichen Favoritenliste!

5 Punkte und eine SPITZE von mir dazu!!!  
Stefan Steinmetz  -  04.10.02 17:19

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  Der grüne Grinsesmilie steht für meine Begeisterung.
Mal nicht die übliche Geschichte des gefangenen Menschen der die Todesstrafe erwartet.
Sehr intressante Storie aus der Sicht eines unschuldigen Hundes dem die Nerven durchgingen.
Obwohl ich Hunde nicht mag, empfand ich doch so etwas wie Mitleid für Tony.
Ich würde gerne 6 oder 7 Punkte geben, ist leider nicht möglich, also mußt Du dich mit 5 Punkten zufrieden geben.  
Wolzenburg  -  29.09.02 10:25

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Kommentar von "SCvLzH" zu "Am Meer"

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