Während das Wetter nicht so gut ist; während die Winde pfeifen und die Hagelkörner auf das Dach prasseln; während der Hund sich einrollt und vor dem Kamin Platz nimmt, in solch einer Atmosphäre lässt es sich eigentlich ganz gut leben. Nach draußen blicken; zusehen, wie die Stürme die Bäume hin und herreißen, und man selbst drinnen im Warmen sitzt. Das kann schon guttun.
Obdachlose Menschen haben hingegen ein anderes Los gezogen. Sie haben kein zu Hause; haben keinen Kamin; keine Fenster, aus denen sie nach draußen blicken können und sich wohlbehalten fühlen können; sich denken können, wie gut sie es doch habe. Denn bei ihnen ist nichts gut. Bei ihnen geht es um existentielle Bedürfnisse; um das Stillen von Hunger; um Schlaf; um Sicherheit. Sie leben ständig in Angst um ihre Haut; müssen jede Nacht, wenn sie es doch geschafft haben, trotzt der Kälte einzuschlafen, befürchten, am nächsten Morgen nicht wieder aufzuwachen. Und das oftmals mit Horrorgeschichten im Hinterkopf, erzählt von Leidensgenossen, die jemanden kennen der jemanden kennt dem etwas ganz Schreckliches dabei geschehen ist.
Roland blickt mit seinen über die Jahre hinweg starr gewordenen grauen Augen in die Ferne. Wissen denn die Menschen überhaupt, wie unbarmherzig das Leben manchmal sein kann? Kann Otto-Normal-Verbraucher überhaupt nachempfinden, dass ein Leben verlaufen kann, wie es bei dem Leben von Roland verlaufen ist? Ein Leben, das ganz zuversichtlich begonnen hat. Ein Leben mit einem geborgenen Elternhaus; mit fürsorglichen Lehrern und mit guten Schulnoten. Ein Leben mit einem Fachabitur in der Tasche und daran anschließend mit einem Studium. Ein Leben, in dem Roland während des Studiums eine Frau kennengelernt hat.
Klara.
Klara veränderte alles. Sie war die eine, die ein Mann sein ganzes Leben lang sucht. Sie war seine Erlösung gewesen. Denn erst als er sie kennengelernt hatte, hatte sein Leben plötzlich einen Sinn ergeben. Daraufhin verblassten die Erinnerungen an sein wohlbehütetes Leben zuvor nach und nach, wie bei diesen altmodischen Fotos, die irgendwann alle vergilben.
Ein Schicksalsschlag nahm ihm seine Angebetete. Es war ein Autounfall gewesen. Er selbst hatte sich die alleinige Schuld daran gegeben. Bis heute.
Schuld.
Von da an hatte es plötzlich noch ein drittes Leben gegeben.
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Und das Leben mit Klara verblasste ebenso, wie zuvor sein wohlbehütetes Leben. Es war einfach nicht mehr da. Er hatte keinen Zugang mehr. Zumindest keinen richtigen. Zwar tauchten ab und zu noch schemenhafte Bilder in seinem Kopf auf. So richtig fassen konnte er sie aber nie. Folgte er ihnen, entfernten sie sich von ihm. Mit der Zeit schien das unbarmherzige Gefühl der Schuld sein Inneres regelrecht zu zertrümmern. Jeden Tag aufs Neue. Schmerzverzerrt sein Gesicht. Wut und Verzweiflung. Alles auf sich selbst gerichtet. Selbst seine Angehörigen drangen nicht mehr zu ihm durch. Er musste Buße tun. Und er tat Buße.
Buße.
Er stieg aus dem Leben aus. Aus der Normalität. Aus der Gesellschaft. Aus dem Dasein. Er wollte weg. Einfach woanders hin. Vor allem wollte er vergessen.
Doch er vergas nicht. Niemals. Klara, mit ihrem Lächeln; mit ihrem angenehmen Wesen; mit ihrem Humor; mit ihrem Verständnis für alle Menschen und ihren Schwächen auf dieser Welt. Klara konnte er nicht vergessen; wollte er nicht vergessen; durfte er nicht vergessen. Er wollte sie festhalten, nicht nur für sich, sondern für alle. Sie durfte einfach nicht gehen. Sie durfte einfach diese Welt nicht verlassen! Was sollte diese Welt für einen Wert haben, ohne dieses anbetungswürdige Wesen, das den Dingen erst ihre Schönheit und ihre Erhabenheit verleiht?
Sein Haus war weg. Es bedeutete ihm nichts. Seine Verwandten und seine Bekannten waren weg. Sie bedeuteten ihm nichts. Sein Geld war weg. Es bedeutete ihm nichts. Alles Materielle war weg. All dies bedeutete ihm nichts. Rein gar nichts. Zumindest nicht, wenn diese eine Zutat; dieses eine Etwas, nicht dabei war.
Nur die Erinnerung blieb bestehen.
Die Menschen schauten auf ihn herab, wenn er durch die Straßen schlürfte. Gut so! Sie sollen ihn verachten. Ihn, der den Engel aus der Welt vertrieben hat. Sie sollen ihn strafen, mit ihrer Verachtung. Sie sollen auf ihn zeigen und ihre Nasen rümpfen. Ja, so macht doch schon! Er hat es schließlich mehr als verdient!
All die Lasten der Existenz auf seinen schmalen Schultern. Jeder würde darunter zerbrechen. Einfach jeder. Auch er.
Kamen doch einmal Menschen auf ihn zu, um ihm zu helfen, oder auch nur um mit ihm zu sprechen, damit er nicht mehr ganz so einsam war; damit er endlich mal wieder zumindest irgendein Wort aus sich herausbrachte, so verweigerte er es.
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Er lehnte es ab.
So stand er irgendwann auf dieser einen Brücke, die sehr hoch war, ohne so recht zu wissen, wie er eigentlich hierhergekommen war. Es war bitter kalt. Der Wind peitschte ihm ins Gesicht. Er hatte nur noch Lumpen an seinem Leibe. Er hatte nichts mehr bei sich. Er hatte lange, verfilze Haare. Einen langen, ungepflegten Bart. Er war schmutzig und er war stinkig. Er selbst spürte davon nichts, bemerkte es auch nur ganz am Rande seines Bewusstseins, wenn er zum Beispiel die öffentlichen Verkehrsmittel benutzte. Wie die Leute von ihm wichen. Wie sie ihre Nasen zuhielten und wie die Kinder sich lauthals über den sich ausbreitenden Gestank beschwerten.
Es war leicht. So leicht. Und irgendwie auch so erhaben, als er sich fallen ließ. Er schloss seine Augen. Er breitete im Fluge seine Arme aus. Er spürte deutlich, wie ihn die Schwerkraft nach unten zog. Angst hatte er keine. Nicht im Geringsten. Er wartete einfach nur geduldig ab, auf das, was da kommen mag. In seinen Ohren sauste es, während er durch die Lüfte fiel. Sicherlich wurde sein Körper im heftigen Wind hin und her geschleudert. Aber auch davon spürte er nichts. Sein Geist schien von seinen körperlichen Empfindungen vollständig getrennt; regelrecht abgenabelt zu sein. Ein kurzes Zucken, nichts weiter. Und dann war es vorbei. Endlich.
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