Kurzgeschichten · Nachdenkliches

Von:    Rosalina Brand      Mehr vom Autor?

Erstveröffentlichung: 15. Januar 2024
Bei Webstories eingestellt: 15. Januar 2024
Anzahl gesehen: 870
Seiten: 2

Es ist ein Experiment, eines, das genau so gelingen wie misslingen kann, davon geht er aus. Er hat sorgfältig die bestmöglichen Voraussetzungen geschaffen, das Weitere wird sich weisen.

Die Türe, die im Saalplan als Notausgang bezeichnet ist, ist keine drei Meter von ihm entfernt. Er sitzt auf dem äussersten Platz seiner Reihe, im Notfall ist er mit zwei, drei Schritten an der Türe, kann unauffällig verschwinden. Bis jetzt hat er alles im Griff. Die Sicht auf die Bühne ist etwas beeinträchtigt, für ihn spielt dies keine Rolle. Nicht einmal das Stück das heute Abend gespielt wird, spielt für ihn eine Rolle. Es geht ihm um etwas ganz anderes.

Die Türen werden geschlossen, das Deckenlicht geht aus, der Raum wird dunkel. Mit einem Seitenblick vergewissert er sich, dass über der Türe seines Fluchtwegs das kleine grüne Licht brennt. Sobald sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt haben sieht er, dass durch den Widerschein des Bühnenlichts auch sein Weg zur Tür sichtbar bleibt, er wird nicht stolpern.

Alles ist gut, denkt er und atmet bewusst, langsam und regelmässig. Genau so wie er es bei seinem Therapeuten gelernt hat. Er, der nie gedacht hätte, dass ihm so etwas je passieren könnte. Er, der Neugierige, Aufgeschlossene, der Unerschrockene, der Draufgänger. Er erinnert sich an das erste Mal als er dieses völlig ungewohnte, bedrohliche Gefühl gespürt hat. Es ist im letzten Winter beim Skifahren in den Alpen gewesen an einem traumhaft schönen Tag, eine wunderbare Piste, fast siebenhundert Höhenmeter in die Tiefe. Und mit der Gondel gleich wieder hinauf. Hinauf und hinunter. Auf der dritten Bergfahrt ist es passiert, in der überfüllten Kabine. Eine plötzliche Angst die sich zur Panik steigerte. Und keine Gelegenheit auszusteigen zu können. Die Angst, an einem Ort gefangen zu sein, nicht fliehen zu können, hat ihn seither nicht mehr losgelassen.

Warum muss er ausgerechnet jetzt daran danken, er weiss doch, dass er die Erinnerung daran meiden sollte, dass es die Sache nur schlimmer macht. Er fühlt den Schweiss auf seinen Händen, versucht sich auf das Geschehen auf der Bühne zu konzentrieren, versucht weiter ruhig zu atmen. Versucht weiter die reale Situation wahrzunehmen, die objektiv gesehen nichts Beängstigendes hat. Genau so wie das Zugfahren, objektiv gesehen, nichts Beängstigendes an sich hat. Trotzdem traut er sich nicht mehr in einen Zug. Er, der Pendler, fährt nun wieder mit dem Auto zur Arbeit.
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Aber er meidet die Autobahn mit dem Tunnel, nimmt lieber die zehn Minuten zusätzliche Fahrtzeit für den Umweg in Kauf. Er steigt die zehn Treppen bis zu seinem Büro zu Fuss hoch, nicht aus sportlichen Gründen, wie er dies früher manchmal getan hat, sondern weil ein Lift für ihn zu einer Horrorvorstellung geworden ist. Genau so wie eine Flugreise, eine erneute Fahrt mit einer Bergbahn oder eine Schifffahrt. Das Gefühl nicht fliehen zu können fühlt sich für ihn lebensbedrohlich an.

Aber er macht Fortschritte, kleine Fortschritte. Er übt mit dem Bus, da ist die nächste Haltestelle nicht weit, da kann er aussteigen wenn ihn die Panik überfällt. Manchmal schafft er es bis zur Endstation. Sein Therapeut ist zufrieden mit ihm. Das bringen wir hin, sie schaffen das.

Sein Herz klopft, sein Mund fühlt sich trocken an. Er erschrickt kurz als auf der Bühne ein Stuhl umgestossen wird. Er dreht den Kopf dem kleinen grünen Licht oberhalb seiner Fluchttüre zu, es leuchtet zuverlässig. Es gelingt ihm seinen Atem wieder zu beruhigen.

Er will es schaffen. Er will in sein altes Leben zurück, in ein offenes Leben. Er will die Einschränkungen überwinden, die seinen Alltag so eng machen. Aber nun steigt die Hitze in seinen Kopf. Er kennt diese Hitze wenn die Angst sich langsam anschleicht. Wenn es ihm jetzt nicht gelingt sie zu überwinden, hat sie ein mal mehr gewonnen. Hat sich über sein Bemühen, seinen Willen, und seinen Verstand hinweggesetzt. Vielleicht hilft ihm das Klopfen, er denkt an seinen Therapeuten. Sachte klopft er sich mit dem Mittelfinger der rechten Hand an die Seite seiner linken. Konzentriert sich ganz auf die Bewegung, auf die damit verbundenen Körperempfindungen, hält damit die Angst in Schach.

Auf der Bühne erlischt das Licht, die Leute klatschen, er hat den ersten Akt überstanden.
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Kommentare zur Story:

  Eine geradezu explosive Spannung, die sich da auftut, bis man weiß worum es eigentlich geht. Toll geschrieben.  
   axel  -  18.01.24 11:57

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