Kurzgeschichten · Nachdenkliches

Von:    Rosalina Brand      Mehr vom Autor?

Erstveröffentlichung: 2. Oktober 2019
Bei Webstories eingestellt: 2. Oktober 2019
Anzahl gesehen: 2090
Seiten: 3

Er hatte sich sehr auf diese Auszeit gefreut, sein Berufsalltag war besonders hektisch gewesen, ein Termin nach dem Andern, Besprechungen, Kundenkontakte, Mitarbeitergespräche. Und nun hatte er sich eine Woche ausgespart, ganz für sich alleine, eine Herbstwoche in den Bergen, im Ferienhaus eines Freundes. Das einfache Leben in Ruhe und Abgeschiedenheit.

Das Haus stand in einem kleinen Weiler, etwas oberhalb des Tales, nur ein Wanderweg führte hier vorbei, die Strasse endete vor den ersten Häusern. Er war am Freitagnachmittag noch hochgefahren, hatte eingekauft für eine Woche, sich eingerichtet und dann erst einmal zehn Stunden geschlafen, ein erschöpfter, traumloser Schlaf. Über das Wochenende waren noch einige weitere Feriengäste hier gewesen, einige Wanderer vorbei marschiert, er hatte zwei drei Worte über das Wetter mit ihnen gewechselt, ja, der Wetterbericht war nicht vielversprechend, der goldene Herbst nun vielleicht schon vorbei. Mitte Oktober konnte es schnell gehen.

Am Sonntagabend stellte er fest, dass sein Auto noch als einziges auf dem Parkplatz stand, die Bänke vor den Häusern waren leer, kein Hund strich mehr um die Ecken, die Türen, die gestern noch offen gestanden hatten, waren verschlossen. Offenbar würde er für die nächste Woche der einzige Bewohner hier oben sein, vor dem Wochenende würde wohl Keiner hoch kommen.

Er sass vor dem Haus, schaute ins Tal hinunter, zu den gegenüberliegenden Bergen und stellte erstaunt fest, wie still es war. Wenn er ganz konzentriert lauschte, konnte er hie und da ein Auto auf der Talstrasse hören. Einmal, weit weg, bellte eine Hund. Wie wohltuend, dachte er, wann hatte er Stille das letzte Mal so bewusst wahrgenommen? Er blieb vor dem Haus sitzen, lauschte in die Stille hinein, sass ruhig da, bis es dunkel wurde und er zu frieren begann.

In dieser Nacht schlief er nicht mehr so gut wie in den vorigen Nächten. Gedanken drehten in seinem Kopf, Gedanken, die sich nicht so leicht abschütteln liessen. Er kannte dies von zu Hause, hier hatte er nicht damit gerechnet. Er verbrachte die halbe Nacht mit Lesen und als er am Morgen nach einem späten, kurzen Schlaf erwachte, war draussen das Licht dämmrig und weiss. Es war kein Schnee, wie er im ersten Moment befürchtet hatte, es war dichter Nebel, der jede Sicht versperrte. Kein Wetterglück, dachte er, aber es war nun mal so.
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Der schönste Herbst konnte zu dieser Jahreszeit von einem Tag auf den anderen vorbei sein, er würde das Beste daraus machen.

Beim Frühstück vermisste er die Zeitung oder wenigstens ein Radio für etwas Ablenkung, denn dass sein Handy hier oben keinen Empfang hatte wusste er. Wieder nahm er sein Buch hervor, vermutlich hatte er zu wenig Lesestoff mitgenommen, hatte eher mit langen Wanderungen als mit Lesen gerechnet. Sollte er trotz des schlechten Wetters eine Wanderung machen? Alleine im Nebel in den Bergen unterwegs zu sein, ohne funktionierendes Handy zudem, konnte er das wagen? Er kannte den Fussweg über die Hochebene gut, der müsste auch bei so dichtem Nebel wie heute zu verantworten sein. Bis zu der Stelle, wo es danach über die Felsen wieder hinunter ins Tal ging, von da aus eben wieder den selben Weg zurück.

Er marschierte mehr als zwei Stunden, aufmerksam auf den Weg achtend. Das Geräusch seiner Schritte war alles, was zu hören war. Von Zeit zu Zeit rollte ein Stein mit leisem Klirren unter seinen Schuhen weg, in der Hochebene hörte er das schmatzende Geräusch des nassen Moorbodens unter seinen Schritten. Und er hörte seinen Atem. Stille ist nichts für Feiglinge, diesen Spruch hatte er irgendwo gelesen. Wie lange würde er wohl diese Stille, nach der er sich so gesehnt hatte, aushalten?

Zu Hause heizte er ein, hörte das Holz in den Flammen knistern, hängte die vom Nebel durchnässten Kleider an den Ofen. Er kochte, hörte beim Zwiebelschneiden das Klopfen des Rüstmessers auf dem Holzbrett, das heisse Fett aufspritzen, als er das Fleisch anbriet, das Nudelwasser aufschäumen. Und zuletzt das Geräusch des Zapfens, der aus der Flasche sprang, das Glucksen des Weins beim Einschenken.

Nach dem Essen vermisste er den Fernseher und nahm wieder sein Buch zur Hand, las, bis ihm die Augen zufielen.

Trotz der Müdigkeit konnte er lange nicht einschlafen. Er vernahm die Geräusche des alten Hauses, die durch das Heizen geweckt waren und in seinem Holzwerk arbeiteten. Knistern und knacken, einmal ein kurzer Knall - war dies nicht die Türe, die aufgesprungen war, war da nicht jemand in der Küche. Stille ist nichts für Feiglinge, dachte er, und ging nachsehen. Natürlich war da nichts, aber schlafen konnte er danach nicht mehr, er fror an die Füsse.
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Am nächsten Morgen war der Nebel noch dichter als am Vortag, er musste einsehen, dass der Weg durch das Hochmoor bei diesen Verhältnissen zu gefährlich war, und der Strasse entlang ins Tal hinunter mochte er nicht gehen. Wieder lauschte er in die Stille hinein. War das wirklich möglich, dass es gar nichts zu hören gab, nichts, absolut nichts? Beim angestrengten Horchen meinte er sein Blut in den Ohren rauschen zu hören.

Er ertappte sich dabei, dass er laut mit sich selber sprach: „Jetzt brauche ich einen Kaffee, aber dringend,“ hörte er sich sagen. Und danach las er sich selber aus dem Buch vor, Seite um Seite.

Stille ist nichts für Feiglinge. Vorläufig schaffte er es noch, in diesem Sinne kein Feigling zu sein.

Es war erst ein Tag später, nach einer weiteren schlaflosen Nacht, am Mittwoch, als noch vier Ferientage vor ihm lagen, das Wetter unverändert, und die Stille kaum mehr auszuhalten, als er sich fragte, ob er sich wirklich beweisen müsse, kein Feigling zu sein. Er nahm ein grosses Blatt Papier und schrieb sich alle Argumente, alle Für und Wider, alle Pro und Contra, alle seine damit verbundenen Gefühle von der Seele. Und dann packte er zusammen, schloss die Türe ab, schob den Schlüssel an der gewohnten Stelle ins Astloch oberhalb des Fenstersims und ging zu seinem Auto.

Wenig unterhalb des Weilers lichtete sich der Nebel, die Geräusche der Talstrasse waren deutlich zu hören. Er hielt an, kurbelte die Scheibe herunter und lauschte.
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Interessante Kommentare

Kommentar von "Unbekannt" zu "Violett"

schöö :-)

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