Mission Titanic - Kapitel 4   287

Romane/Serien · Fantastisches

Von:    Francis Dille      Mehr vom Autor?

Erstveröffentlichung: 24. September 2018
Bei Webstories eingestellt: 24. September 2018
Anzahl gesehen: 2437
Seiten: 11

Diese Story ist Teil einer Reihe.

Verfügbarkeit: Die Verfügbarkeit ist eine Angabe die nur im Prologteil der Reihe zur Verfügung steht.

Diese Story wurde zwar als Teil einer Reihe definiert, eine entsprechende Prologangabe fehlt allerdings noch.

   Teil einer Reihe


Ein "Klappentext", ein Inhaltsverzeichnis mit Verknüpfungen zu allen Einzelteilen, sowie weitere interessante Informationen zur Reihe befinden sich in der "Inhaltsangabe / Kapitel-Übersicht":

  Inhaltsangabe / Kapitel-Übersicht      Was ist das?


Kapitel 4 – Hetzjagd im Morgengrauen



Am frühen Morgen, als die mächtigen Glocken der Kathedrale von Queenstown läuteten, zog eine Reiterstaffel durch die Stadt, wobei die Polizisten zielstrebig die Hotels und Pensionen überprüften. Die Pferdehufen klackerten auf den Kopfsteinpflastern, woraufhin die Hunde in der Nachbarschaft aufgebracht bellten. Einige Stadtbewohner guckten neugierig aus ihren Fenstern oder gingen gar hinaus auf die Straße, um herauszufinden, weshalb der ortsansässige Sheriff mit einem Polizeiaufgebot durch die Straßen patrouillierte.

Begleitet wurde Chief Inspector Ottmar Marshall von sechs jüngeren Kollegen, die auf der Suche nach einem Schwerverbrecher waren, wie es der hiesige Polizeichef gerne bezeichnete, wenn er nach jemand fahndete. Der alte Ottmar Marshall mit dem elegant gezwirbelten Oberlippenbart, der in Queenstown überall bekannt war und ihn jeder nur mit Otto oder Sheriff anredete, war ein rüstiger, zweiundsiebzigjähriger Polizeichef, der sich eigentlich schon längst im Ruhestand hätte befinden müssen. Aber dieser Haudegen war äußerst pflichtbewusst und glaubte, dass sein Städtchen ohne ihn niemals „sauber“ bleiben würde. Und weil Otto schon eh und je in Queenstown sowie in der Umgebung für Zucht und Ordnung gesorgt hatte, war es für ihn einfach unvorstellbar, dass ein anderer, ein jüngerer Inspector ihn ersetzen und das heimische Polizeirevier übernehmen könnte. In absehbarer Zeit jedenfalls nicht, meinten selbst die Einheimischen.



Nachdem der Chief Inspector bereits stundenlang erfolglos nach dem Übeltäter gesucht hatte, führte er die Reiterstaffel aus der Stadt hinaus, einen ländlichen Schotterweg entlang einer Anhöhe, direkt zur Pension Grace`s Sunshine. Dies war für die Polizisten jedoch die allerletzte Option, denn falls der sogenannte Schwerverbrecher sich in dieser Herberge auch nicht versteckt hielt, müsste Ottmar Marshall die Fahndung zähneknirschend einstellen.

Grace`s Sunshine war eine idyllisch gelegene Pension nahe am Wald, bestückt mit hölzernen Balkonen und hinter dem großen Haus befand sich ein eingezäunter Garten mit Schaukeln, einem Sandkasten und Sitzbänke, dort sich die Gäste entspannen und die Kinder spielen konnten. Zudem begannen von dort aus sehr viele attraktive Wanderwege.
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Die Preise der Fremdenzimmer waren erschwinglich und die Küche sehr zu empfehlen, sodass hauptsächlich einfache Bürger dort verkehrten, die entweder auf der Durchreise waren oder gar ihren Urlaub dort verbrachten. Die Gäste hatten von ihren Balkonen aus einen wundervollen Ausblick auf die Stadt, auf den Hafen und das Meer, zudem war das Haus von riesigen Tannenbäumen umgeben.

Es waren angenehme 20 Grad Celsius warm und die Vögel zwitscherten, als der Polizeiinspektor kräftig an der Tür klopfte. Schließlich öffnete eine beleibte Frau, die genauso wie ihre Dienstmägde angezogen war: Mit einem schwarzen Kleid, einer weißen Schürze um die Hüfte gebunden und sie trug ein Haarnetz, obwohl ihre Frisur streng nach hinten gekämmt und zu einer Zopfschnecke gesteckt war. Zuerst lächelte sie Ottmar Marshall erfreut an, weil er des Öfteren vorbeischaute, um mit ihr bei einem Tässchen Kaffee und Kuchen ein bisschen zu plaudern. Aber als sie seine uniformierten Kollegen auf ihren Pferden hocken erblickte, deren Gewehre in den Halftern steckten, entschwand die Fröhlichkeit aus ihrem runden Gesicht.

„Guten Tag, Grace. Entschuldige bitte die Störung, aber ich muss dir leider ein paar Fragen stellen“, begrüßte der Chief Inspector die Chefin des Hauses, wobei er anstandshalber sein blaues Käppi abzog.

„Guten Tag, Otto. Nanu, diesmal mit Begleitung? Mögt ihr alle eine Tasse Kaffee?“, fragte sie überrascht.

Otto lächelte, setzte sein Käppi wieder auf und zupfte an seinem gezwirbelten Schnauzer.

„Danke, nein. Wir sind im Dienst. Sag mal Grace, hast du grad Gäste im Haus? Ausländer vielleicht? Zufälligerweise beherbergt ein Holländer deine Pension?“, fragte er grinsend, zog die Augenbrauen hoch und lugte über ihre breite Schulter, genau in die Gaststube hinein. Aber er sah nur auf etliche gedeckte Tische, und ganz hinten an der Fensterfront erblickte er ein älteres Ehepaar, das gerade zu Mittag speiste. Sonst war es still, nur das Ticken einer imposanten Standuhr war zu hören.

Die Chefin der Pension blickte ihn verwundert an und überlegte kurz.

„Meinst du etwa Mister van Broek? Ich weiß nicht genau, ob er tatsächlich ein Holländer ist.
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Er scheint mir eher ein Engländer zu sein. Mister van Broek hat seit gestern Früh im zweiten Stock ein Zimmer gemietet. Das ist ja ein wirklich sooo netter Mann. Ein äußerst gutaussehender Mann obendrein “, betonte sie begeistert, wobei sie ihre Hände faltete und kurz verträumt in die Luft starrte. Aber sogleich runzelte sie ihre Stirn und blickte ihn ernst an.

„Wieso? Warum willst du das wissen?“, fragte sie spitz.

„Soso, ist er das also … ein netter Mann“, bemerkte Ottmar Marshall spöttisch. „Hat Mister van Broek heute sein Zimmer verlassen?“, fragte er sogleich nachdrücklich.

Grace schüttelte mit dem Kopf.

„Nein, da bin ich mir absolut sicher. Mir entgeht es nie, wenn meine Gäste das Haus verlassen oder einkehren. Bestimmt schläft er noch. Ich habe gestern Nacht gehört, wie er die Treppen hinauf gestiegen ist und abgeschlossen hatte. Da war es schon sehr spät. Heute Morgen ist er nicht zum Frühstücken runtergekommen. Stell dir mal vor, Otto, der arme Mann hat seit gestern Mittag keine warme Mahlzeit zu sich genommen!“, klärte sie ihn aufgebracht auf. „Dabei hatte ich mich besonders beim Kochen bemüht, damit er …“

„Jaja“, fiel Otto ihr ins Wort und winkte ab, wandte sich seinen Untertanen zu, die ernst drein blickten, gab ihnen ein Handzeichen und befahl lautstark: „Umstellt das Haus! Auf der Stelle!“

Nur der Jüngste von ihnen, mit dem niedrigsten Dienstgrad, sollte Chief Inspector Marshall ins Haus begleiten. Sogleich zogen die Polizisten ihre Gewehre aus den Halftern, stiegen rasch von ihren Pferden ab und eilten geduckt durch den Garten.

Grace war regelrecht perplex, als der Chief Inspector mit dem jungen Kollegen im Schlepptau einfach hineinspazierte, seinen Revolver zog und mit ernster Miene zielstrebig zum Treppenhaus marschierte. Der junge Polizist blieb direkt hinter seinen Chef, hielt sein Gewehr im Anschlag und zielte hoch zur zweiten Etage, während sie langsam hochgingen.

„Ja aber Otto, was ist denn bloß los?“, fragte die beleibte Frau aufgeregt, wobei sie ihm schnaufend folgte. Daraufhin hielt der Chief Inspector seinen Zeigefinger auf dem Mund. „Pschschscht! Sei bitte leise!“, zischte er sie an. Und während er die Stufen des engen Treppenhauses vorsichtig hinauf schlich, klärte er die Pensionschefin flüsternd auf, die unbekümmert neben ihm die Treppenstufen hochstiefelte.
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Die hölzernen Treppenstufen knirschten und knarrten, dies den betagten Polizeichef etwas nervös machte.

„Grace, tu mir bitte ein Gefallen und trete etwas leiser auf. Du bist ja das reinste Trampeltier. Deinetwegen wird mir der Kerl noch entwischen!“, zischte er sie flüsternd an.

„Ach, was soll denn das“, fuhr sie ihn verärgert an. „Du tust ja so, als müsstest du einen Bankräuber oder gar einen Mörder festnehmen. Jetzt sag mir endlich, was los ist! Du vergraulst mir nur meine Gäste mit deinem Aufmarsch! Was sollen die Leute denn von mir denken, wenn eine halbe Armee um mein Haus schleicht?“, schimpfte sie leise.

„Also gut, hör zu. Gestern Nacht gab`s unten im Hafen in diesem Puff Old Fishbone wiedermal Krawalle“, sprach er flüsternd. „ Eigentlich nicht der Rede wert, denn das verdammte Gesindel schlägt sich ja des Öfteren gegenseitig die Köpfe ein. Aber Orson Bradbury hat heute Früh Anzeige erstattet, sowie der Kneipenbesitzer und sogar dieser Kraftprotz Conner Thompson, wegen Sachbeschädigung und schwere Körperverletzung. Sie alle behaupten, dass ein gewisser Ike van Broek, der eher als der berühmtberüchtigte Holländer aus Belfast bekannt ist, jeden Gast mit einer merkwürdigen Waffe bedroht hätte, dessen Schuss man nicht hören würde. Zudem hatte dieser van Broek es in der Tat geschafft, diesen widerlichen Conner mit einer Flasche niederzuschlagen. Normalerweise würde ich ihn für diese Tat sogar auszeichnen, denn der Mistkerl Conner hat es nicht anders verdient. Aber der Holländer ist, nach Aussage der Beschädigten, im Besitz einer äußerst gefährlichen Schusswaffe, die ich unbedingt beschlagnahmen muss.“ Otto blieb auf dem beengten Treppenhaus einfach stehen, wischte sich mit einem Taschentuch den Schweiß aus seinem faltigen Gesicht, zupfte abermals an seinen gezwirbelten Schnauzer und fuhr fort. „Grace, ich sage es dir nur ungerne, aber du hast leider einem Schwerverbrecher Unterschlupf gewährt. Und dieser Kerl ist obendrein der gemeingefährliche Holländer aus Belfast, falls dir das was sagt. Möglicherweise befindet er sich grade auf der Flucht, weil er noch weitere Straftaten zu verantworten hat. Also muss ich diesen Halunken unbedingt festnehmen!“, flüsterte er energisch.
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Doch die gute Frau schüttelte mit dem Kopf und blickte ihn empört an.

„Nein Otto, ich habe noch nie von einem Holländer aus Belfast gehört. Das ist doch völliger Unsinn, was du mir da erzählst. Du täuscht dich, denn Mister van Broek ist ein anständiger junger Mann. Er ist immer schick gekleidet, sehr höflich und gibt meinen Frauen großzügig Trinkgeld. Er hat sein Zimmer bis Sonntag gemietet und sogar schon im Voraus bezahlt. Ein Schurke würde sich niemals so nett verhalten und im Voraus bezahlen, geschweige denn überhaupt bezahlen!“, meinte sie aufgebracht. Daraufhin gab Otto ihr einen Klaps auf den Oberarm, blickte sie streng an, hielt wieder seinen Zeigefinger auf den Mund und ermahnte sie erneut, dass sie endlich leiser reden sollte. Grace verschränkte daraufhin ihre Arme und schüttelte verständnislos mit dem Kopf.

„Na schön, Otto“, sprach sie flüsternd. „Du tust ja nur deine Pflicht. Geh hoch zu ihm, aber wehe dem du irrst dich und Mister van Broek ist unschuldig, wovon ich ausgehe. Dann wirst du von mir aber ein Donnerwetter erleben!“, ermahnte sie ihn.



Vorsichtig, mit vorgehaltenem Revolver, schlich der Chief Inspector auf der 2. Etage den Flur entlang. Der Dielenboden knarrte fürchterlich. Grace blieb derweil am Treppenabgang stehen. Direkt hinter Ottmar Marshall folgte der junge Polizist, der sein Gewehr ebenfalls im Anschlag hielt. Als die Chefin des Hauses wortlos auf die Zimmertür von Ike deutete, packte Otto am Türgriff und versuchte zaghaft zu öffnen. Doch die Tür war verschlossen. Nun klopfte Otto energisch dagegen.

„Mister van Broek, öffnen Sie sofort die Tür! Hier spricht die Polizei! Das Haus ist umstellt!“

Als aber keine Reaktion erfolgte und man auch rein gar nichts hörte, hielt der Chief Inspector sein Ohr gegen die Tür und lauschte. Seine Augen wanderten dabei nervös hin und her. Nochmal hämmerte er mit der Faust gegen die Tür und wiederholte seine Forderung.

„Mister van Broek, wir sind bewaffnet! Ich weiß, dass Sie da drinnen sind! Machen Sie sofort auf! Wenn Sie nicht augenblicklich die Tür öffnen, werden wir sie eintreten!“, brüllte Chief Inspector Marshall warnend.
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Als sich aber immer noch nichts tat, forderte der Polizeichef seinen Officer mit einer Kopfbewegung auf, die Tür einzutreten.

„Unterstehe dich, Otto!“, empörte sich daraufhin Grace. „Du wirst meine schöne Tür nicht kaputt machen!“ Sie watschelte auf ihn zu, griff in ihre Schürze, holte einen Schlüsselbund heraus und schloss die Tür auf.

Chief Inspector Marshall stürmte sogleich ins Zimmer hinein, fuchtelte mit seinem Revolver rum und brüllte: „Keine Bewegung! Sie sind verhaftet!“

Doch der betagte Polizeichef hielt seine Pistole nur auf ein unordentlich verlassenes Bett. Die Bettwäsche war komplett abgezogen. Verwundert schaute er sich in dem kleinen Zimmer um. Auf dem Sekretär lag der Zimmerschlüssel, eine Schere und abgeschnittene Fetzen einer Mullbinde. Otto blickte sich verdrossen im Spiegel an und verzog sein knautschiges Gesicht. Der zugezogene Vorhang zum Balkon wehte sachte. Dann drehte er sich blitzschnell um und riss die Tür zum schmalen Toilettenraum auf, aber auch dort war Ike nicht aufzufinden.

„Chief Inspector Marshall!“, rief der Officer aufgebracht. „Die Balkontür ist offen. Am Balkongeländer ist Bettwäsche verknotet. Van Broek muss sich abgeseilt haben und ist geflüchtet. Der ist wahrscheinlich schon über alle Berge.“

Ottmar Marshall steckte seinen Revolver in den Halfter und zupfte sich an seinem gezwirbelten Schnauzbart. Dann verschränkte er die Hände hinter seinem Rücken und wanderte langsam zum Balkon.

„Mmh … Der Holländer hat den Braten gerochen und ist mir entwischt, da beißt die Maus kein Faden ab. Geflüchtet, wie ein Feigling. Aber wohin? Weit kann er ja nicht sein“, grummelte er vor sich hin. „Weit kann dieser Schurke nicht sein.“

Chief Inspector Ottmar Marshall betrat den Balkon, umfasste das hölzerne Geländer und blickte auf das Meer hinaus. In der Ferne sah er die Titanic. Immer noch ankerte das riesige Schiff vor der Küste. Er schloss seine Augen und atmete die frische Frühlingsluft tief ein.

„Wo bist du nur, Holländer? Wo versteckst du dich jetzt? Wenn ich dich schnappe, das schwöre ich, gehe ich freiwillig in Rente.“

Als Otto nach unten schaute und seine jungen Kollegen sah, wie sie mit ihren Gewehren haltend bedröppelt zu ihm hinauf blickten, scheuchte er sie mit einer unmissverständlichen Handbewegung verärgert fort.
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Es fuchste ihn ungemein, dass ihm der berühmtberüchtigte Holländer entwischt war. Ike van Broek zu verhaften, wäre die Krönung seiner langen Berufskarriere gewesen.

Seufzend überblickte der alte Mann nachdenklich das Meer. Vom hölzernen Balkon aus sah er, wie das letzte Tenderboot, besetzt mit Passagieren, an der Titanic andockte. Andächtig beobachtete er das riesige Schiff und bewunderte einen Augenblick den Fortschritt der Technik. „Ein imposanter Kahn. Heutzutage ist wirklich alles möglich“, murmelte er vor sich hin.

Plötzlich ertönte das Signalhorn der Titanic und dröhnte dreimal hintereinander laut auf. Ein dumpfer Widerhall schallte bis zur Stadt hinüber, sodass jeder Anwohner von Queenstown unweigerlich vernahm, dass die Titanic jeden Moment ablegen wird.

Otto kniff scharfsinnig seine Augen, während er das Schiff beobachtete und dabei nachdachte.

In dem kleinen Zimmer hatte der Flüchtling keinerlei persönliche Gegenstände hinterlassen, nicht einmal ein paar alte Socken ließ er liegen, selbst seinen Koffer hatte van Broek in der Eile mitgenommen. Otto lehnte sich nach dieser Erkenntnis weit über die Balkonbrüstung hinaus und brüllte: „Alle Mann sofort runter zum Hafen! Haltet das verdammte Schiff auf! Der Holländer will mit der Titanic abhauen!“



Mara und Jean verbrachten die ganze Zeit auf dem Promenaden-Deck, lehnten sich gegen die weiße Bordwand, blickten hinunter und beobachteten, wie das Tenderboot zum Schiff und wieder zurück zum Hafen pendelte und sahen interessiert zu, wie das massenweise Postgut verschifft wurde. Als das letzte Tenderboot schließlich die Passagiere beförderte und diese nacheinander durch eine geöffnete Luke in das Schiff stiegen, starrte Mara zuerst völlig erstaunt hinunter. Dann rüttelte sie aufgebracht an Jeans Jacke.

„Jean, sieh nur … Das gibt’s doch nicht. Siehst du diesen Kerl mit der verbundenen Hand? Ist das nicht der Rüpel aus Southampton, der mich gestern am Hafen angerempelt hatte, bis ich gestürzt bin?“

Jean aktivierte an seiner Nickelbrille die Zoom Funktion und betrachtete das Gesicht des Mannes, der mit einem grauen Herrenanzug gekleidet war, eine Schirmmütze trug und dessen rechte Hand mit einer Mullbinde verbunden war.
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Jetzt war auch er erstaunt.

„In der Tat. Du hast recht, Cherie. Er ist scheinbar derselbe Kerl, der uns auch zuvor im South Western Hotel auf dem Flur begegnet ist. Wie ist es ihm bloß gelungen, vor uns in Irland anzukommen? Und wenn er jetzt von Queenstown aus zusteigt, weshalb ist er nicht gleich in Southampton an Bord gegangen?“

„Das frage ich mich grade auch“, erwiderte Mara verwundert.

„Vielleicht ist er mit einem Flugzeug geflogen“, meinte Jean, doch Mara schüttelte mit dem Kopf.

„No, niemals! Diese Möglichkeit können wir getrost ausschließen, denn die Luftfahrt befindet sich zurzeit noch in den Kinderschuhen. Erst vor drei Jahren hatte der Franzose Louis Blériot mit einem selbstgebauten Eindecker Propellerflugzeug es geschafft, den Ärmelkanal zu überfliegen. Das war damals ein großes Medienereignis gewesen, ähnlich wie die Abfahrt der Titanic aus Southampton. Also, wenn heutzutage jemand in eine Propellermaschine steigt und damit ernsthaft einen Flugversuch wagt, dann erfährt es sogleich die ganze Welt“, erklärte Mara aufgebracht.

„Dann muss dieser Herr mit einem anderen Schiff nach Irland gereist sein, noch bevor die Titanic ausgelaufen ist, und wir hatten es gar nicht mitbekommen. Schließlich ist die Titanic, aufgrund des Vorfalls gestern Mittag, eine Stunde verspätet ausgelaufen.“

Wieder wankte Mara mit dem Kopf.

„Es gab aufgrund des Kohlestreiks kein anderes Schiff, das nach Irland gefahren ist. Nur die Titanic.“

Minutenlang beobachteten Jean und Mara wortlos, wie die Passagiere vom Tenderboot in das Mittelschiff einstiegen. Insbesondre beobachteten sie dabei Ike.

„Dann ergibt es sich nur noch drei Möglichkeiten, die Erscheinung dieses Mannes zu erklären“, sagte Jean. „Entweder ist dieser Typ ein Zwillingsbruder oder ein Doppelgänger, der ihm unglaublich ähnelt. Sieh dir nur seine Hand an, gestern Mittag war sie bei dem anderen Kerl aber nicht verbunden.“

„Der Verband ist irrelevant. Eine Verletzung kann man sich jederzeit einhandeln. Aber wie lautet deine dritte Vermutung?“

„Dass er sich mit einem Transmitter hierher teleportiert hat. Dann ist er allerdings kein Akteur sondern wie wir, ein Zeitreisender.
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Daraufhin blickte Mara ihn empört an.

„Das wäre unerhört, das wäre ja Betrug! Die Time Travel Agentur hat uns versichert, dass wir die ersten und einzigen Zeitreisenden auf der Titanic sind! Dafür haben wir unsere Existenz aufs Spiel gesetzt und unsere Ersparnisse aufgebraucht!“

„Beruhige dich, Cherie. Ich kann mir kaum vorstellen, dass die TTA uns wissentlich betrügt. Die darauffolgende Konventionalstrafe würde unsere Regierung niemals riskieren. Falls dieser Typ tatsächlich ein Zeitreisender ist, dann kann es sich eigentlich nur um diesen Agenten Ike van Broek handeln, der uns beharrlich aufsuchen wird, um an den Zahlencode in deiner ID zu gelangen.“

„Na gut, dann gehen wir jetzt runter und suchen ihn. Soll er doch seinen bescheuerten Code haben. Ich will diese unangenehme Angelegenheit endlich hinter mich bringen“, schlug Mara vor.

„Das halte ich für keine gute Idee. Die Möglichkeit, dass er trotz alledem ein Akteur ist, dürfen wir keineswegs außer Acht lassen. Morgen Abend werden wir uns im Rauchersaloon aufhalten, so wie es Lieutenant Nicole Kalbach uns aufgetragen hat, dann werden wir Gewissheit haben. Wir müssen behutsam vorgehen und bloß nichts überstürzen, Cherie. Schließlich sind wir kein gewöhnliches Ehepaar auf einer Kreuzfahrt, sondern Zeitreisende.“



Die Einstiegsluke des Mittelschiffs der Titanic war weit geöffnet. Vier Matrosen zogen das Tenderboot mit Seilen zum Schiffsrumpf nahe heran, ließen eine Treppe hinunter und halfen den Passagieren hinein. Die See war zwar ruhig, dennoch schwappte das Meerwasser kräftig gegen das Tenderboot und ließ es leicht schwanken.

Ike stand mittig auf dem Boot, umgeben von Auswanderern und Familien mit ihren Kindern, hielt seinen Koffer in der Hand und sah am schwarzen Schiffsrumpf blinzelnd hoch hinauf. Er erblickte ungefähr dreißig Meter höher, dass unzählige Menschen vom Promenaden-Deck hinunter schauten und freudig winkten. Mit gemischten Gefühlen bestieg er die Titanic, dieses Schiff drei Jahre lang beinahe täglich sein Arbeitsplatz gewesen war. Ein Schiffsoffizier kontrollierte an der Einstiegsluke die Tickets der Passagiere und erklärte ihnen zackig, welcher Gang zu ihren Deck führte. Bei Ausländern, die kein Wort Englisch verstanden, sprach der Offizier deutlich lauter, langsamer und gestikulierte dabei mit seinen Händen, dass sich am Ende des Korridors ein Wegweiser befinden würde.
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Allerdings waren alle Beschilderungen ebenso ausschließlich in englischer Sprache beschriftet worden.

„Sir, sprechen Sie meine Sprache?“, fragte der Schiffsoffizier laut, als wäre Ike schwerhörig und als er nur nickte, redete der Offizier zwar hektisch weiter, aber dafür mit normaler Lautstärke.

„Sie haben ein Ticket für die Zweite Klasse, Sir. Ihre Kabine befindet sich achtern des Schiffes, also hinten im Heck auf dem C-Deck. Gehen Sie bitte den Gang entlang bis zum Treppenhaus, dann müssen Sie …“

„Danke Sir, ich kenne mich hier bestens aus“, schnitt Ike ihm das Wort ab, schnappte sich ruppig sein Ticket aus dessen Hand und ging einfach an ihm vorbei. Der Schiffsoffizier blickte ihm verwundert hinterher, wankte mit dem Kopf und murmelte: „Was für ein arroganter Fatzke. Der glaubt ernsthaft, dass er sich auf der Titanic auskennt. Hoffentlich verläuft er sich auf dem Schiff.“

Nachdem Ike seine Kabine erreicht hatte, schloss er hinter sich ab, ließ seinen Koffer fallen und deaktivierte zuerst alle Mikrokameras im Raum, indem er einfach mit seinem Daumen fest darauf drückte und diese somit zerstörte. Dann nahm er seinen Verband ab und versorgte die Brandwunde an seiner Hand mit einer Salbe aus dem Medikit. Danach legte er sich erschöpft ins Bett, verschränkte die Hände hinter dem Kopf und starrte zur Decke hinauf. Ike atmete erleichtert auf.

„Das hätten wir schon mal geschafft. Sobald es dunkel wird, knöpf ich mir Murdoch vor. Aber wie erkläre ich ihm bloß, dass ich plötzlich auf der Titanic bin?“, murmelte er vor sich hin. „Ich hoffe nur, dass ich mich nicht getäuscht habe. Falls Murdoch den Beamer doch nicht besitzt, sieht’s echt übel für mich aus.“ Wieder seufzte er, während er zur Decke starrte. „Dann muss ich außerdem unbedingt dieses zeitreisende Ehepaar finden, die sich unter 2.200 Menschen an Bord befindet. Die wahre Stecknadel im Heuhaufen wird das werden. Hoffentlich hat Sergeant Nicki gute Arbeit geleistet und alles so organisiert, wie wir es besprochen hatten.“

Ike griff hinter sich in seinen Hosenbund, holte seine EM23 heraus und betrachtete andächtig die silberne Schnellfeuerwaffe.
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Wenn alles scheitern sollte, würde er nicht einmal den Untergang abwarten um zu sterben, sondern sich selbst erschießen. Er fühlte sich an Eloises tragischem Schicksal schuldig, zudem vermisste er sie ungemein, liebte sie mehr denn je, seitdem sie erschossen wurde. Außerdem würde man ihn in seiner Gegenwart sowieso mit Verbannung aus allen Citys bestrafen, dies würde für Ike bedeuten, dass er in einer völlig verseuchten Landschaft, allein nur mit einem Astronautenanzug irgendwie überleben müsste. Ike konnte sich nur ein Leben gemeinsam mit Eloise in der vergangenen Welt vorstellen und während er nachdachte, fasste er sich kurz an seine verbundene Hand, dessen Schmerz abklang, und schlief kurz danach fest ein. Ike war dermaßen erschöpft, dass ihn nicht einmal das dreimal hintereinander laute Dröhnen des Signalhorns der Titanic aufschreckte, als das Schiff Irland verließ und den Nordatlantik ansteuerte.



„Jetzt sieh dir mal diesen witzigen Kerl am Hafen an, Cherie“, sagte Jean schmunzelnd. „Was ist denn mit dem los? Der hüpft ja wie ein wütendes Rumpelstilzchen umher. Die Akteure verhalten sich wirklich manchmal etwas eigenartig“, bemerkte er und überreichte seiner Ehefrau die Brille. Mara setzte sich die technologische Nickelbrille auf, aktivierte den Zoommodus und blickte hinüber zum Hafen. Zuerst kicherte sie, dann aber lachte sie herzhaft als sie einen uniformierten Polizisten beobachtete, einen älteren Herrn, wie er wütend sein Käppi wegschleuderte und offensichtlich mit allen Hafenangestellten schimpfte.

Unterdessen hatten sich Aaron und die anderen Handwerkerlehrlinge auf dem Achterdeck versammelt, lehnten gegen die Reling und schauten wortlos zu, wie sie sich allmählich von der „Grünen Insel“ entfernten. Die Schiffsschrauben wirbelten das Meerwasser dermaßen auf, sodass die Titanic einen meilenweiten schäumenden Wasserschweif hinter sich herzog. Die englische Flagge am Fahnenmast des Achterdecks flatterte wild umher.

Nach einer Weile trotteten die Jungs wieder zurück, wobei sie ihre Späßchen miteinander trieben, indem sie sich gegenseitig ihre Schirmmützen vom Kopf stahlen und wie ein Frisbee über das riesige Achterdeck schleuderten. Schließlich wanderten sie fröhlich über das Popdeck, hüpften übermütig über die befestigten Sitzbänke und pfiffen gemeinsam ein Lied.
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Sie mussten sich in der Mannschaftsunterkunft bei ihren Gesellen melden, um neue Anweisungen zu erhalten. Nur Aaron blieb einsam an der Reling zurück, rauchte eine Zigarette und schaute seiner Heimat nachdenklich hinterher, bis Irland nur noch als eine schwache Silhouette am Horizont zu erkennen war. Er war fest entschlossen in New York auszusteigen, um in Amerika ein neues Leben zu beginnen. Es belastete Aaron sehr, dass er seine geliebte Mutter vorerst zurücklassen musste. Er war sich dessen zudem bewusst, dass er sein Heimatland wohlmöglich nie wiedersehen würde. Dann schnickte Aaron die Zigarette fort und flitzte seinen Kameraden hinterher.
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Kommentar von "Jonatan Schenk" zu "Eine Rose wird blühen"

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