Kurzgeschichten · Nachdenkliches

Von:    Waldkind      Mehr vom Autor?

Erstveröffentlichung: 8. April 2018
Bei Webstories eingestellt: 8. April 2018
Anzahl gesehen: 2196
Seiten: 5

Von unserem Bett aus kann ich ihn sehen. Er sitzt in unserem Wintergarten und hat vor sich dieses alte, rote Buch mit den noch unbeschriebenen Blättern liegen. Es gab Zeiten, da hatte er nötig, in dieses speckige Buch zu schreiben und mir danach daraus vorzulesen. Es gab auch Zeiten, in denen er mir nicht vorlesen konnte oder wollte. Ich fürchte dass heute ein Tag ist, an dem er mir nicht vorlesen wird. Ich weiß aber, dass er es dringend nötig hätte.

Es ist Frühling und die Magnolien stehen im Schöntal wie betörend duftende Jungfrauen und locken zahllose Besucher an. Ich würde sie so gerne sehen und einatmen, mich berauschen lassen von ihrem Duft und ihrer Schönheit. Ich würde einfach nur sitzen wollen. Auf einer Bank im Park. Vielleicht hätte ich ein Buch bei mir oder eine seiner mehr oder weniger charmanten Geschichten, die er nicht ins rote Buch geschrieben hatte.

Die zweiflüglige Tür in den Wintergarten war aber in diesen Tagen das Einzige, was mich mit dem Draußen verbinden konnte. Zwar nur mit der sehr begrenzten Außenwelt unseres Wintergartens, aber ich war dankbar für die minimierten Reize.



Wenn Marie wie jeden Morgen mein Bett und das Schlafzimmer frisch gemacht hatte, verließ sie schweigend das Zimmer und schloss die Tür hinter sich. Sie schloss sie mit einem immer gleichen schweigenden Ritual, dass ich heimlich und mit Schmunzeln immer auf einen Patzer überprüfte. Meine Überprüfungen blieben stets erfolglos, was mir Bewunderung für Maries Contenance abrang. Auch heute. Den Raum verlassen, auf dem Absatz kehrt machen und nach der Türklinke greifen. Die Klinke noch vor dem Bewegen des Türblattes geräuschlos herunterdrücken und dieses wie von Zauberhand ohne Knarzen ins Schloss ziehen. Danach die Klinke langsam (ich horche vergebens auf das Schaben eines sich schließenden Schlosses) nach oben gleiten lassen. Auf meinem Bett hatte sie ein Tablett zurückgelassen, auf dem sich eine Kanne Earl Grey befand und ein kleines Kännchen Milch. Vor der noch leeren Tasse standen ein Tellerchen mit Keksen und ein Schälchen mit einem geschnittenen Apfel darin. Er (nicht der Apfel) hatte mir heute ein Väschen mit einer Magnolienblüte auf das Tablett stellen lassen.

Ich weiß, dass Marie sich vertrauensvoll täglich (außer Sonntags) um alles kümmern wird. Unsere Wohnung ist immer perfekt für eventuellen Besuch, die Einkäufe werden nach Wunsch erledigt und die Zubereitung unserer Mahlzeiten hat sie auch im Griff.
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Ich bin froh, dass wir sie haben.

Derzeit jedoch wünschte ich, ich hätte sie nicht zwingend nötig.

Derzeit wünschte ich nur, nicht mehr an Bett und Dämmrigkeit gefesselt zu sein.



Selbst die oben erwähnte zweiflüglige Tür in den Wintergarten, auf die ich immer so stolz gewesen war, konnte ich unverhangen nur wenige Stunden am Tag genießen. So wie gerade jetzt. Auch wenn das Stechen in meinem Kopf seit Wochen permanent vorhanden scheint, gibt es leichtere Momente. Sie sind rar, aber ich koste sie aus, so gut ich eben dazu in der Lage bin. Ich sehe ihn also im Wintergarten sitzen und schreiben. Sein Füller kratzt Buchstabe für Buchstabe auf das Papier und alleine dieses Geräusch macht mich reich, weiß ich doch, dass er nicht in all den schlimmen Dingen um uns herum vergeht, sondern dass ihm ein Ventil gegeben ist. Ein Ventil erlaubt uns Menschen zu atmen, wenn wir wegen zu großer Lasten gedrückt sind und zu ersticken drohen. Ich kann sein Gesicht sehen, während er mit seinen Gedanken fließt, die in blauer Tinte tief in die Seiten des roten Buches dringen. Seine Mundwinkel zucken wie immer beim Schreiben und unter dem Morgenmantel sehe ich diese ständig wippenden Beine, die wohl ein Überbleibsel seiner Kindheit als Zappelphillip sein müssen. Ich lächle und liebe dieses Bild, weil es zu ihm gehört und weil ich ihn liebe. Ich bin so dankbar für jeden Moment, den ich noch mit ihm haben darf, auch wenn ich ihm derzeit nicht mehr viel körperliches geben kann. Sicher bin ich ihm derzeit mehr Last als Frau. Was mich traurig weiterblicken lässt, ist, dass ich seine gebeugte Haltung wahrnehme, während der Füller stetig die Leere des Papiers füllt. Ab und an fährt er sich mit der linken Hand über die Augen, was mir verrät dass er weint.



Wenn ich jetzt versuchte aufzustehen, zu ihm zu gehen und eine Hand auf seinen Nacken zu legen, ihm einen tröstenden Kuss zu schenken, würde er mich unter liebevoll tadelnden Worten wieder an das Bett führen.



Erst in der letzten Woche war ich bei dem gescheiterten Versuch alleine meine Notdurft zu verrichten so schlimm gegen das Waschbecken gestürzt, dass ich eine große Platzwunde auf meiner Kopfhaut nähen lassen musste. Zu allem Überfluss musste eine kreisrunde Stelle meines langen, hellen Haares kahl rasiert werden, was meiner nur noch mit gutem Willen sichtbarer Schönheit einen argen Abbruch tut.
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Mit Hilfe von Marie versuche ich jeden einzelnen Tag, so gesund und frisch auszusehen, wie es mir nur möglich ist. Sie bringt mir jeden Morgen ein frisches, blütenweißes Nachthemd und stellt mir Waschschüssel und Spiegel so zurecht, dass ich die Morgentoilette gut im Sitzen erledigen kann. Während ich mich pflege, kämmt sie mir liebevoll mein Haar und versichert mir, wie schön glänzend es noch immer sei und wie gut ich doch heute wieder aussehen würde. Manchmal, da kann ich die schmerzvollen Lügen in der Spiegelung ihrer Augen lesen. Es gibt Tage, da dreht sie sich wortlos weg, wenn meine Haare gekämmt sind und sie sich anschickt, die Waschschüssel nach draußen zu bringen. Ich höre sie dann im Bad schnäuzen, weiß, dass sie an meine Krankheit denkt und daran, dass diese in einigen Wochen ihr Ende haben wird. Den Gedanken daran erträgt sie sichtbar nur momentan nicht. Ich hatte schon von ihrer Contenance berichtet. Wenn sie mein Zimmer erneut betritt um mich ins Bett zu geleiten, wird sie ein zwar steinernes, aber perfektes Lächeln zur Schau tragen. Ich bin froh, sie zu haben, aber es fällt mir unendlich schwer zu sehen, wie die beiden nächsten Menschen um mich herum leidend meinem Verfall als Zaungäste beiwohnen müssen, weil ihnen nichts zu tun, nichts zu lindern und nichts zu heilen bleibt.

Während ich ihn und Marie (außer Sonntags) tägliche betrachte und auf meiner hilflosen Seite zusehen muss wie sie ihrerseits zwar körperlich gesund, aber ebenso hilflos und dem Schicksal ausgeliefert scheinen wie ich, erstarre ich des Öfteren und suche in mir, im Geschehen noch tiefer als sonst nach dem Sinn von alledem.



In gesunden Zeiten wäre ich einfach hinübergegangen, hätte versucht, ihn nicht zu stören, hätte ihm aber einen Kaffee gebracht und ihm gezeigt, dass er nicht alleine ist, dass ein Mensch mit ihm ist, auf den er sich verlassen kann und der ihn liebt. Jetzt jedoch würde ein bloßer Schritt aus meinem Bett heraus ihm und Marie die schlimmsten Sorgen bescheren. Und Arbeit. Als ich im Bad stürzte, musste die arme Marie das Bad wieder vom verkrusteten Blut befreien und meine Wäsche mit Wasserstoff bleichen. Zu ihm wurde ein Bote geschickt, um ihn aus der Firma abzuholen und ein Arzt musste sowohl her als auch bezahlt werden. Da ich niemandem Sorgen oder Arbeit machen will, bleibe ich eben brav in meinem weichen Gefängnis aus Federkern und Gänsedaunen liegen.
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Ich drehe mich vom Fenster weg und weine in mein Kissen.

So befinden wir uns also am Ende eines unserer Leben auf unseren beiden Plätzen und jeder von uns beiden trägt diese eine große Last auf den Schultern, die endgültig ja doch nur der Tod selbst nehmen kann.

Jedem Menschen ist (mehr oder weniger) klar, dass wenn er sich auf einen Partner einlässt, er oder der Partner es sein werden, der eines Tages zuerst der Welt den Rücken kehrt.



Und dennoch lieben wir.

Und dennoch lassen wir uns ein.



Obgleich jeder weiß, dass irgendwann ein Schmerz am Ende steht, wissen wir instinktiv um den Reichtum gemeinsam erlebter Freude und der erleuchtenden Erkenntnisse eines steten Diskurses. Es gibt nichts was einen Menschen runder und voller macht, als die Reibung an einem Gegenüber. Oh und wir haben uns schon so oft und leidenschaftlich in hitzigen Diskussionen aneinander gerieben. Sind dies meine letzten Gedanken vor meinem Tod? Wann wird es endlich soweit sein? Werden meine Schmerzen so schlimm werden, dass ich wegen ihnen aus dem Leben flüchte oder wird der Schnitter mich leise aus dem Schlaf abholen? Ich würde dann am Morgen kalt und mit einem zufriedenen Lächeln auf den Lippen an ihn gekuschelt einfach nicht mehr aufwachen. Das stelle ich mir schön und friedlich vor. Für mich. Wie es für ihn wäre, wage ich mir kaum auszumalen. Auf der einen Seite, gäbe es kein Sterbeleid, dass er mit ansehen müsste, wir hätten uns am Abend liebevoll eine gute Nacht gewünscht und uns auf das erste Lächeln am Morgen gefreut. Das gute Nacht und die Freude auf ein Wiedersehen wünscht man sich doch ohnehin am Ende. Reiner und leidensärmer wie einer, bei dem ein Wiedersehen gewiss ist, kann ein Abschied doch kaum sein, nicht wahr? Er würde die Augen aufschlagen und sich, wenn ich ihn umarmt hatte, langsam in meine Richtung umdrehen. Nicht wie sonst würde ich in diesem Moment meine Augen öffnen, ihn anlächeln und mich noch einmal einkuscheln in seine Nähe. Er würde sich also herumdrehen und mein Gesicht in der Gewissheit, dass ich schlafe, einige Momente anlächeln. Danach langsam merken, dass meine Wärme verschwunden ist und mich mein Atem nicht wie sonst leicht schnarchend durchströmt. Er wird sich dann einige Momente zusammenreißen und versuchen, sich einzureden, dass das nicht sein könne, dass ich doch noch da sein müsse und weiterhin an sich zweifeln, sein Sehen in Frage stellen.
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Wenn erst diese Momente verflogen sind, wird er gescheitert sein mit den Versuchen. Er wird meinen Körper betrachten und wissen, dass kein Leben mehr darin ist.

Ich weiß nicht, was er dann tun oder fühlen wird.

Ich weiß, dass ich ein Verlust sein werde, dass ich eine Lücke hinterlassen werde.

Und ich weiß und hoffe dass weder der Verlust, noch die Lücke dauerhaft bleiben werden.

Ebenso weiß und hoffe ich, dass er immer mit einem Lächeln an mich zurückdenken können wird.

Was ich nicht weiß ist, was mit mir geschehen wird.



Wo werde ich hingehen?

Gibt es ein Danach?



Wann immer ich bisher mitbekam, dass jemand aus dem Leben schied, kann ich sagen, dass bei diesem einen Mal, als ich dem Tod und seiner Stunde am nächsten kam, greifbar erlebt habe wie es ist, wenn eine Seele nur noch um den Körper wohnt. Wie ein Haus kalt wird, wenn der Körper schließlich hinausgetragen wird. Ich weiß nicht, in wie weit der Körper und die Seele nach dem Ableben noch zusammenhaften, doch mir ist bewusst, dass es nach dem Tod beides gibt. Einen Körper der dem Verfall gehört und eine Seele, die, ja die.... ist sie auf Ewig an den verfallenden Körper gekettet? Ich weiß es nicht.



Seine Hand streicht sacht eine Locke aus meiner Stirn. Er hat auf der Bettkante Platz genommen und trägt noch immer seinen Morgenmantel. "Ich bin fertig", flüstert er leise und schiebt mit sorgenvoll gerunzelter Stirn ein entschuldigendes: "Ich kann es dir nicht vorlesen." hinterher. Ich blinzle meine Tränen beiseite und lächle ihn an. Ich lasse meine rechte Hand auf seinem Oberschenkel Platz nehmen und lächle ihn noch immer an. Er beugt sich zu mir herunter und küsst mich liebevoll auf die Stirn. Meine linke Hand legt sich auf seine Wange und schiebt sich langsam über sein Ohr und in sein volles Haar. "Das macht nichts, ich liebe dich." flüstere ich und schlafe ein.
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Kommentare zur Story:

  Wirklich toll geschrieben! Ich liebe es wenn beim Lesen Bilder im Kopf entstehen und Du hast sie mit Leichtigkeit und sehr viel Einfühlvermögen erschaffen!  
   Daniel Freedom  -  10.04.18 10:00

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