Der Spuk im Minh Lo Tempel (Teil 1)   119

Kurzgeschichten · Fantastisches

Von:    Frank Bao Carter      Mehr vom Autor?

Erstveröffentlichung: 23. Februar 2017
Bei Webstories eingestellt: 23. Februar 2017
Anzahl gesehen: 2479
Seiten: 4

Ein Monat war nach dem Vermählungsritus vergangen. Li Shuang und Marc Höppner hatten in einer kleinen Hütte von Ning Unterkunft gefunden.

Heute jedoch durfte Marc sich dem Holzhacken widmen und sich vorm Kanonenofen einen geruhsamen Abend ohne Verpflichtungen gegenüber seiner neuen Gemahlin Li machen.

Diese war nämlich am Nachmittag unter nicht gerade sehr stichhaltigen Gründen von den beiden alten Schwertmeistern Ning und Long abgeholt worden. Zu einem Abenteuer, das für Menschen zu gefährlich wäre, hatten sie Marc abgewiesen und ihn mit der in ihm geweckten Neugier allein gelassen.



Jetzt befanden sich Li und die beiden Schwertkunstmeister weitab der Zivilisation in einem schier unendlich scheinenden Wald.

„Wow, war ich lange nicht mehr hier“, sagte Li zu ihren beiden Begleitern Ning und Long, als alle drei den Trampelpfad betreten hatten, der vom Parkplatz weg führte. Es war einer der ersten herbstlichen Spätsommerabende des Jahres. Noch stand die Sonne leicht über den Bergen, doch aus dem feuchten Boden hoben sich erste Nebelschwaden. „Nun spannt ihr mich aber ganz schön auf die Folter, was mich hier erwarten soll“, fuhr Li fort.

„Na ja, eine Überraschung wird es fürwahr werden“, antwortete Ning.

„Nur wissen wir nicht, ob es eine gute oder eine schlechte für dich wird“, steigerte Long die Spannung.



„Übrigens hat sich dein Mann wirklich sehr gut im Schwertkampf entwickelt“, lenkte Ning das Gespräch auf ein anderes Thema, damit Li nicht zu viel darüber nachdenken konnte, was ihre beiden Begleiter wohl ausgeheckt haben mochten. „Was er uns über Aikido erzählt hat, nötigt uns unseren Respekt ab.



„Und es macht Spaß, mit ihm zu trainieren.“ Li schaute belustigt auf Longs gekrümmten Rücken, als dieser aus dem Unterholz einen Stock hervorzog und mehr mit den Grashalmen als mit seiner Gefährtin sprach. „Du kannst auf ihn mächtig stolz sein“, streichelte Longs Lob Lis Ego, während die Hände des Mannes graugrüne Flechten vom Stock strichen.

„Bist du schon so alt, einen Gehstock zu benötigen?“, flachste Li, als sie sich ihr Haar am Hinterkopf zu einem dicken Knoten band. Nach außen hin war sie die Unbedarfte geblieben, innerlich war sie in höchste Alarmbereitschaft versetzt. Diesen Zustand sollten ihre Begleiter währenddessen nicht erfahren. Ein Stock konnte schnell zu einer Waffe werden, besonders in den Händen eines Kampfkunstmeisters.
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Fürwahr, der grenzenlose Wald hatte etwas Unheimliches an sich und ein Stock erregte weniger Misstrauen als ein gezücktes Schwert. Erwarteten die beiden Alten gar einen Raubüberfall?

„Nennen wir es Wanderstock“, konterte Long mit einem verschmitzten Lachen und stieß den Stock mehrfach heftig in die Erde. Er blieb ganz.

Dennoch wusste Li, ihr Gefährte hatte lediglich die Stabilität des Holzes getestet. Das beruhigte sie mitnichten.



Trotzdem ließ sie sich zu einem langen Gespräch verführen, in dem sie berichten musste, wie sie Marc kennen gelernt hatte und welche rasanten Geschehnisse damals in Hannover vonstattengegangen waren.

Auf ihrem weiteren Marsch schwatzten sie viel. Li, begeistert und gerührt zugleich, die Erinnerungen aus Deutschland den beiden Mönchen mitteilen zu dürfen, hatte ihre Achtsamkeit in eine Tiefgarage ihres Kopfes verfrachtet und nicht bemerkt, wie sich langsam die Landschaft verändert hatte.

Plötzlich waren alle paar Meter größere oder kleinere Moorlöcher zu sehen und nur ein geübtes Auge konnte den schmalen, festen Pfad erkennen. War dieses an sich schon gespenstig genug, wurde jetzt der Nebel in der ausklingenden Dämmerung unaufhörlich stärker.

Wohin führen die beiden Schelme mich? Bin ich zu naiv? Haben sie mich mit dem Lob zu meinem Gatten nur betört, um mir meine Aufmerksamkeit zu rauben?

Als wollte die Natur ihr recht geben, schrie in der Ferne eine Eule. Schaurig fuhr der Schreck in Lis Glieder.



Nur weil sie Geister sind, muss das noch lange nicht heißen, dass sie auf meiner Seite stehen. Unter uns gibt es genauso viel Lug und Trug wie unter den Menschen. Wir sind nichts Besseres. Habe ich es nicht erst kürzlich bei Xue erfahren? Jahrhundertelang waren wir ein Herz und eine Seele. Trotzdem hatte sie nicht davor zurück geschreckt, mich in Hannover ans Messer zu liefern. Haarscharf war ich meiner Liquidierung entgangen.



In diesem Moment frischte der Wind auf. Heulend strich er durch die Bäume und über die Tümpel. Er schnappte sich Nebelwolken und wirbelte sie zu schemenhaften Wesen zusammen. Instinktiv ergriff Li den Knauf ihres Schwertes.

Wie soll ich hier erkennen, ob die Schemen vor mir wirklich nur Wasserdampfwolken sind oder sich der Körper eines Geistes dahinter verbirgt? Ich muss vorsichtig sein.
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Jeden Schritt abwägen. Meine Augen und Ohren überall haben. Was aber wollen die beiden Männer bezwecken? Mich in einem Moorloch versenken? Was hätten sie davon? Ich wäre nur Schachmatt gesetzt bis es irgendwann mal trocken gelegt werden würde. Zusammen mit dem Torf würde ich wieder ans Tageslicht treten. Wahrscheinlicher wäre, dass sie mich zu einer fremden Macht führen. Einem Dämon, der unserer Kraft bei weitem überlegen ist und mich vernichten könnte.

Plötzlich glitschte die große Chinesin aus. Lang schlug sie mit dem Gesicht nach vorne in das feuchte Gras. Sofort war etwas Kaltes, Ekliges auf ihre Hand gesprungen. Mit einem Schrei des Entsetzens fegte sie das unbekannte Wesen hinfort.



Ning und Long lachten frohen Herzens auf.

„Lass die arme Kröte in Ruhe, Li. Sie hat dir nichts getan“, stieß Long die Worte zwischen seinen Lachsalven hervor.

„Wo bist du nur mit deinen Gedanken, Mädchen? Gibt es keine Sekunde, in der du mal nicht an Marc denkst?“, foppte Ning.

„In diesem Sumpf gibt es Dämonen, die unsere ganze Aufmerksamkeit fordern. Eine Träumerin können wir uns an unserer Seite nicht leisten. Reiß dich also zusammen, Kriegerin!“ Dabei stierte Long sie mit weit aufgerissenen Augen an, bevor er mit einer theatralischen Handbewegung einen weiten Kreis um sich schrieb.



Also doch. Und jetzt überspielen sie es, indem sie alles ins Lächerliche ziehen wollen, dachte Li.

„Nun guck nicht so bedröppelt aus der Wäsche. Dein Kleid werden wir schon wieder trocken kriegen.“ Dabei blickte Ning verschwörerisch zu seinem Kumpanen hin. Li war diese geheime Verständigung zwischen den beiden nicht entgangen. Jetzt war sie wieder wachsam.

Und es verdrieß sie immer mehr, dass sie sich so blauäugig in dieses Unterfangen eingelassen hatte.



„Ich kenne ein Häuschen, in dem sicherlich schon ein Feuer entzündet ist, an dem du dich wärmen und dein Kleid trocknen kannst.“

Liegt da nicht Spott in Longs Stimme? Was nehmen sich diese beiden jämmerlichen Schwertkunstmeister eigentlich heraus? Wenn ich in diesem Moor nur nicht auf diese beiden Witzbolde angewiesen wäre, hätte ich sie schon lange im Regen stehen lassen, ärgerte sich die für eine Chinesin recht große Frau, schluckte schnell allen Groll herunter, um sich nicht zu verraten, und spielte die Beleidigte.
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„Ihr scheint ja mächtig Spaß daran zu haben, ein junges, unschuldiges Mädchen in diese Wildnis zu führen.“

„Nicht Wildnis, mein Schätzchen. Schlimmer noch: Geisterland.“ Und dann schlugen die beiden sich wieder auf die Schenkel. Li fürchtete schon, ihre beiden Pfadfinder würden ersticken.



Japsend kam Long auf die Große zu und legte kumpelhaft seinen Arm um ihre Schulter, wobei er sich weit auf die Zehenspitzen stellen musste: „Nimm es uns nicht übel, Li. Manchmal geht der Schalk mit uns durch.“

„Wie beruhigend, der Anlass für eure Freude zu sein.“ Eingeschnappt stapfte Li dem Trampelpfad weiter entlang. Innerlich tausend Verwünschungen grummelnd. Sicherlich würde ihr ein passender Gegenschlag einfallen, wenn sie erst einmal wieder festen Boden unter den Füßen hätte.



Wie das letzte Tageslicht verschwunden war, kamen sie an einen größeren Teich mit einer kleinen Insel in seiner Mitte.

Die Miesgrämige strengte ihre Augen an. War da nicht ein Licht zu sehen? Doch erneut versperrte eine Nebelwolke ihr die Sicht.

Da! Kurz war es wieder zu sehen. Es flackerte. Es blinkte. Mal war es an, dann gleich wieder aus. Wie ging das zusammen? Hier draußen gab es mit Sicherheit keinen Strom. War Zauberei im Spiel?

„Was ist das dahinten für ein Licht?“, erkundigte Li sich bei ihren beiden Führern.

Ning legte sich die Hand an die Stirn und kniff die Augen zusammen. Long fuchtelte neben ihm salbungsvoll mit seinen Händen in der Luft: „Ein Licht? Hier draußen? Das gibt es nicht. Ich kann nichts erkennen. Du scheinst zu fantasieren.“

„Ihr hattet vorhin von einer Hütte gesprochen. Sicherlich ist die das. Wir müssen nur hinüber zur Insel gehen.“ In ihrer momentanen Gutgläubigkeit kam Li gar nicht der Gedanke, die beiden könnten sie täuschen.



(Der zweite und letzte Teil folgt in Kürze).
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