Eine Baumdämonin auf Jagd (2018, Full Version)   72

Kurzgeschichten · Schauriges

Von:    Frank Bao Carter      Mehr vom Autor?

Erstveröffentlichung: 3. Oktober 2016
Bei Webstories eingestellt: 3. Oktober 2016
Anzahl gesehen: 2550
Seiten: 11

Etwas schreckte Lylitha auf. Verschlafen räkelte sie sich in ihrem Nest. Kuschelte sich in ihr Erdkissen, die Hände unter ihrem Kopf gebettet. Die Lederhaut ihrer Augen füllte sich langsam mit einem fluoreszierenden Leuchten. Ein silbrig-blaues Schummerlicht flutete in die kleine Höhle. Lylitha wollte nicht aufstehen. Gerade noch hatte sie so fest geschlafen. Versunken in wunderschöne Träume längst vergangener Tage. Zur Zeit Barbarossas. Eberhard hieß ihr Gemahl. Vom vierten Zug gegen Mailand kam er nicht zurück. Lylitha musste ihr Gelöbnis einlösen. Am 30. April 1168 zog sie schweren Herzens zum Blocksberg. Grausames würde ihr widerfahren, doch das war der Preis. Drei Italienfeldzüge hatte der Teufel ihren Eberhard schützen können. Die Gegenleistung war Lylithas Körper und Seele, ab dem Moment, wo sie Witwe wurde.



Die ganze Nacht tanzte sie mit einem kühnen Ritter. Ein Ebenbild Eberhards, aber nicht dessen Charakter. Lylitha wusste, wer ihr Tanzpartner war. Sie würde nicht sterben, hatte er ihr vor vielen Jahren zugesichert. Eberhards Ableben würde ihr die Ewigkeit bescheren.

Aufgeregt war sie gewesen. Eitel in ihrer Sucht nach Reichtum und Anerkennung hätte sie auch ihre Mutter verkauft. Als die Amseln zu singen begannen, schlief sie mit ihrem Tänzer in einem Bett aus Moos. Stundenlang löschte er all ihre Feuer. Nie zuvor hatte sie so erregende Spiele genossen. Unersättlich forderte sie ihn immer wieder aufs Neue heraus.

Der Morgennebel senkte sich auf ihre nackten Körper. Abkühlung und Waschung zugleich. Ein letzter leidenschaftlicher Kuss beim Sonnenaufgang; dann fand sie sich in diesem Erdloch wieder.



Der teuflische Prinz blieb fortan aus ihrem Leben verschwunden. Dafür gesellten sich neue Wesen an ihre Seite: Dämonen des Harzes. Und hölzerne Verbündete.

Lylitha streckte sich in ihrer kleinen Höhle. An der Decke hingen die faserigen Enden kleiner Baumwurzeln. Wie Spinnweben aufgefächert. Ihren Kopf hatte sie in die Gabel zweier mächtiger Wurzelstränge gelegt. Sie fühlte sich darin beschützt und geborgen. Weich gebettet auf einer breiten Lage getrockneten Mooses. Einen Hauch an Waldbodengeruch verströmend, das übermächtige Aroma der schweren Lehmerde wie ein Blütenduft auffrischend.
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Und über ihrer Nase der kräftige Geruch nach Harz und Holz.

Da knurrte laut ihr Magen.



Wohl oder übel ein Zeichen, endlich aufzustehen.

Auf der Seite liegend robbte sie an die rechte der beiden dicken Wurzeln heran. Rau und kalt legte sich das Holz an ihren Mund. Ihre Lippen kribbelten, als sie ihren Rachen weit aufriss. Messerscharfe Raubtierzähne wuchsen ihr. Wie in Butter drangen sie in das Holz. Schmatzend begann sie zu saugen. Der Saft des Baumes schmeckte fad. Wann würde sich endlich ein Mensch in ihrer Falle verfangen? Sie sehnte sich so sehr, einmal wieder für ein paar Wochen aromatisierte Nahrung zu sich zu nehmen.

Da stockte ihr der Atem. Mit einem Schlag war sie hellwach.

Sie roch Traurigkeit und Verzweiflung. Tief sog sie diese wunderbaren Gerüche ein.

Als hätte Luzifer ihr Flehen erhört.

Zitternd vor Freude schmolz sie zu einer teerigen Masse.

In diesem Zustand kroch sie langsam durch die Erdschichten nach oben.

*

Jeanette beendete das kurze Telefongespräch mit ihrer Mutter. Sie musste einmal austreten. Gökhan und Nico setzten sich auf einem am Wegesrand liegengebliebenen Baumstamm. Den Trekkingrucksatz nicht absetzend schlüpfte die junge Frau etwas tiefer in den Wald, bis sie sich sicher sein konnte, nicht mehr von ihren Wandergefährten gesehen zu werden. Schnell öffnete sie die Schnallen des Rucksacks. Sich geschmeidig nach rechts drehend, ließ sie das schwere Bündel auf ihren ausgestellten Oberschenkel rutschen. Ohne größeren Kraftaufwand glitt er danach zu Boden. Leise knackten kleine Äste unter seinem Gewicht.



Jeanette hörte junge Spechte nach ihrer Mutter rufen, leise klangen die Stimmen von Nico und Gökhan an ihr Ohr, in den Wipfeln rauschte der Wind. Ein Hauch von Waldmeister wehte an ihrer Nase vorbei. Der Duftspur mit ihren Augen folgend sah sie die Fläche der weißblühenden Meister.

Die Hosen wieder hochgezogen, richtete sie ihr langes, glattes, pechschwarz gefärbtes Haar. Es reichte ihr bis weit über die Schulterblätter, bedeckte ihre jeweils mit sechs Ringen bespikte Ohren, verbarg aber nicht das Piercing in ihrer rechten Augenbraue. Wie ein Mond wachte es über die breit mit schwarzen Lidschatten hervorgehobenen Augen, den mit Mascara gestärkten Wimpern und dem mitternachtsblauen Eyelinerstrich auf dem unteren Lid.
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Eine Königin der Nacht.

Heute mal nicht in langen, schwarzen Kleidern sondern in zweckdienlicher, bunter Wandermontur. Lediglich ihr schön geschminktes Gesicht bekundete der Welt, ich bin ein Gothic- Girl.

Jeanette wuchtete der Rucksack wieder auf ihre Schultern.

Irritiert verharrte sie.

Etwas stimmte nicht.

Aber was?



Acht Jahre intensives Kampfkunsttraining hatte ihre Wahrnehmung geschärft. Sie spürte, etwas war nicht so, wie es sein sollte. Doch noch mehr bewegte sie ein anderes Empfinden; sie hatte Angst. Angestrengt lauschte sie in den Wald.

Da war . . . nichts.

Ihr Knie zitterte, als sie den ersten Schritt tat. Schwer setzte er sich in das Laub und Geäst. Weder raschelte das welke Blatt noch knackte ein Ästchen.

Da erkannte sie, was sie beim Aufsetzen des Rucksacks stutzig gemacht hatte: Es hatte keine schubbernden Geräusche auf der Kleidung gegeben. Fast schon panisch rief sie nach Gökhan und Nico, doch sie hörte ihre eigene Stimme nicht.

Der Wald absorbierte jeden Ton.

Wahnsinnig vor Angst rannte Jeanette zum Weg. Doch sie erreichte ihn nicht mehr. Dabei waren es höchstens fünfzig Meter gewesen, die sie in das Unterholz hineingetreten war. Jetzt war sie schon mehrere hundert Meter gelaufen, mal etwas nach links, mal etwas nach rechts; doch nie hatte sie den Schotterweg erreicht. Furchtsam blickte sie zur Sonne. Nein, verdammt, es war die korrekte Richtung gewesen. Der Weg war verschwunden.



Mit zitternden Händen nestelte die junge Frau das iphone aus ihrer Beintasche. Kein Empfang.

Sie rannte tiefer in den Wald. Traf auf eine kreisförmige Lichtung, etwa hundert Meter im Durchmesser. Erschöpft fiel sie am Rande der Wiese auf den Boden, robbte in den Schatten, dachte nach.

Nach ein paar Schluck Wasser und einer Stulle stand sie auf. Zuversicht kehrte in ihr Gemüt zurück. Die Sonne immer zur rechten Hand schritt sie wieder in den Wald. Wenn sie eine Richtung konsequent beibehielte, würde sie irgendwann auf einen Weg treffen. Und auf Menschen, die ihr die Route zeigen könnten.

Erneut probierte sie ihr iphone aus.
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Wieder kein Erfolg.

Nach einer Stunde sah sie endlich etwas hell zwischen dem dunklen Wald hindurch schimmern. Hoffnungsvoll sprintete die Wanderin los. Es musste ein Weg sein.

Sie durchbrach das Unterholz.

Ihr Blut gefror zu Eis.

Bei Dreißig Grad im Schatten.



Ein Blick zur Sonne. Sie stand immer noch zu ihrer rechten Hand. Trotzdem war sie im Kreis gelaufen. Wie war das möglich? Zweifelsfrei stand sie wieder auf der kreisrunden Lichtung. Deutlich erkannte sie den Platz wieder, wo sie vorhin gesessen hatte.

Weinend rannte Jeanette dieses Mal in die andere Richtung.

Am Abend saß sie wieder auf dieser Lichtung.

Egal, wohin sie ging, immer wieder kam sie hier an.

Jetzt bereute sie die Idee, den Harz einmal in seiner ganzen Länge zu durchwandern. Zum Glück hatte sie Isomatte und Schlafsack mit. Morgen würden Hubschrauber und Hundestaffeln nach ihr suchen. Neue Hoffnung getankt, suchte sie sich Holz für ein Lagerfeuer zusammen.



Im Lichte der letzten Abenddämmerung entzündete die junge Frau in der Mitte der Lichtung das Feuer. Von hier aus könnte sie Feinde früh genug erkennen. Und sie hätte in alle Richtungen Platz, sollte es zu einem Kampf kommen. Der dritte Dan in Taekwondo gab ihr etwas Sicherheit.

In den Schlafsack gestiegen, setzte sie sich an die munteren Flammen und trank die erste der beiden Wasserflaschen aus.

Das Feuer prasselte munter vor sich hin, der Wald sang sein Wiegenlied. Sofort griff Jeanette zum iphone. Diese zeigte leider noch immer keinen Empfang ein.

Doch die Geräusche waren zurück. Hoffnung strömte wie eine warme Abendbrise in ihre Seele.



Jeanette steckte sich einen Ohrstöpsel ins Ohr und suchte ein für ihre Stimmung passendes Lied aus. „When Angels Fall“ von Beyond The Black. “I got lost in the dark, on the trail of your fading heart. All these dreams left to die on our way to a broken sky”, sang sie leise mit.

Langsam fiel die Einsame in einen unruhigen Schlaf.

In der Ferne heulte ein Wolf. Sie baute ihn in ihren Alptraum ein. Mit wehenden Haaren floh sie durch den nächtlichen Wald. Es knackte und stöhnte überall, Zweige und Dornen griffen nach ihrer Kleidung, ihrem Gesicht; wie aus dem Off hallte ein hässliches Lachen, dann ließ das Knurren des Wolfes ihr die Adern gefrieren.
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Als hätten ihre Beine Wurzeln geschlagen, sich tief in das Erdreich gegraben und um große Findlinge geschlungen, um dem Aufprall des Wolfes widerstehen zu können. Wie das Untier der Nacht mit weit aufgerissenem Rachen auf sie zugesprungen kam, erwachte sie.



Schweißgebadet setzte sich Jeanette in ihrem Schlafsack wieder auf, warf kleine Ästchen in die Glut, hoffte, das Spiel der Flammen könnte die Angst vertreiben, die der Traum hinterlassen hatte.

Schnell hüpften erste Feuerzungen in der grauschwarzen Asche, erleuchteten das verdreckte und verweinte Gesicht der Verlorenen, zeigten ihr das Holz zum Nachlegen und öffneten eine Tor zur Anderswelt. So kam es Jeanette jedenfalls in diesen Minuten vor. Die ganze Situation schien so unwirklich: Verlaufen im Wald, geplagt von Alpträumen und Kreaturen aus der Hölle; allein im riesigen Harz an einem knisternden Feuer sitzen, über ihr die goldgelbe Scheibe des Vollmonds, schon weit im Westen stehend.

Schleiereulen heulten. Zitternd sah die junge Frau ihre Silhouetten vor dem erleuchteten Himmel. Da wehten Nebelwolken über die Wipfel auf die Wiese hinab. Der helle Schein des Mondes wandelte sich in ein hellblaues Zwielicht, tausendmal gruseliger als der erste Beginn der Morgendämmerung. Nass und klebrig legte sich der Nebel auf Jeanettes schwarzes Haar. Strähnen backten ihr an den Wangen, als sie stehend sich um sich selber drehte. Sie wusste, jetzt wurde es ernst.



Glockenschläge, perfekte Harmonie aus Xylophon und Glockenspiel erschallten den Wald, ließen die Frau erstarren. Ein kleines Orchester setzte ein, Xylophon und Cello gaben den Rhythmus und dann ein männlicher Gesang, klagend und hoffnungslos, wie es die Welt nie zuvor vernommen hatte. Ein Schauer nach dem nächsten rann Jeanette über den Rücken. Sie kannte diese Musik nicht, wusste aber, derjenige, der sie erschallen ließ, zeigte ihr damit die Zukunft an. Diese war alles andere als schön und lang. Jeanette wusste, sie hörte ihre Grabgesänge. Eine Macht, uralt und unbezwingbar, war aus seiner Gruft erstiegen und zog die einsame Wanderin in das Unglück. Und diesen Sog des Unabänderlichen konnte sie nicht entgehen.

Wann aber würde ihr Gegner zuschlagen?



Mit dem Mut der Verzweifelten nahm sie eine Kampfstellung ein.
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Langsam drehte sie sich im Kreis, den Waldrand musternd. Nirgends war etwas zu sehen. Auf den Boden schaute sie nicht. Hätte sie es getan, vielleicht hätte sie eine Chance gehabt.

So sah das Mädchen nicht die schwarze, teerige Masse, die im Schatten der dreihundert Jahre alten Fichte aus dem Gebüsch gekrochen kam und sich langsam wie ein schmales Band in zwei entgegengesetzte Richtungen ausbreitete.

Stattdessen glaubte Jeanette immer wieder, Gespenster am Waldrand zu sehen. Doch wenn sie ihre Augen zusammenkniff und das Mysterium näher fixierte, erkannte sie die Täuschung. Wind, Nebelwolken und Büsche spielten Tischtennis mit ihren Nerven. Mit irrer Kraft wurden die Bälle durch ihren ganzen Körper getrieben.



Wenn sich der Gegner nur endlich zeigen würde. Dieses Warten war Grausam. Lieber ein kurzer Kampf und ein schneller Tod als dieses Ausgeliefertsein in der Ungewissheit. Da kam das erste Mal die Angst vor dem Tod über das Mädchen. Jeanette wollte nicht sterben. Verzweifelt hoffte sie auf eine Rettung, wähnte den Feind im Gebüsch und sich in der Mitte der Lichtung in kurzzeitiger Sicherheit. Aber die Angst trübte ihre Wahrnehmung. Dabei hatte ihr Kampfkunstmeister sie so oft ermahnt, nicht die weite Wahrnehmung zu verlieren.

Aber die vor Furcht zitternde, junge Frau achtete nur noch auf den Waldrand, den Himmel über den Baumwipfeln und denen sich wie lange, hellblaue Schleier durch die Luft ziehenden Nebelschwaden. Sie sah nicht, wie sich der teerige Kreis langsam um sie geschlossen hatte und nun stetig näher zu ihr gekrochen kam. Dabei rasant an Stärke zunehmend.



Mittlerweile hallte das vierte Lied durch den Wald. Die Töne und der Gesang gingen ihr erneut ganz stark unter die Haut. Eine Melancholie, die sich mit ihrem Schicksal abgefunden hatte, und nun ihre Trübsal selber zelebrierte. In einer göttlichen Schönheit. Trompeten setzten ein, der Gesang steigerte sich, alle Alpträume, die Jeanette je gehabt hatte, kamen auf sie zugestürmt, um zu bleiben. Der Gesang löste sich auf in einem sphärischen Spiel der Streicher. Dann war Stille. Jetzt hatte ihre Stunde geschlagen.



Da sah sie die breiige Masse etwa zehn Meter vor sich.
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Ein schneller Rundumblick, das Zeug war überall. Es roch nach Harz, nach Teer und Moder, wabbelte, brodelte und krabbelte wie eine eklige Schlange auf sie zu. Wenn denn Schlangen seitwärts krabbeln könnten.

Blitzartig erfasste die junge Kämpferin die Situation. Über dieses Band war mit Leichtigkeit hinwegzuspringen.

Mit einem Kampfschrei stürmte die junge Frau los. Nur noch drei Meter, da schnellte aus der Masse ein Körper senkrecht nach oben, wie das gefärbte Wachs in einer Lavalampe, das aufgrund der Wärmeeinstrahlung in seinem Wasserbad nach oben blubberte.

Instinktiv wusste Jeanette, dort nicht hindurch stoßen zu können. Sie schlug einen Haken nach rechts und sprintete mit voller Kraft. Doch auch dort erhob sich die riesige Blase.



Egal, wohin die Verzweifelte hastete, dieses dämonische Wesen versperrte ihr den Weg. Kämpferisch sprangen Jeanettes Augen hin und her. Sie riss einen brennenden Ast aus dem Feuer. Wenn der Dämon aus Teer ist, würde er wunderbar brennen, dachte sie sich. Da hallte ein schallendes Lachen durch die Nacht. Ehe die junge Frau sich versah, hatten sich Nebelschwaden um den Ast gewickelt. Mit einem Zischen erstarb die Glut. Mit ihr die Hoffnung des Mädchens.

Ergeben wartete sie auf das Unausweichliche.

Die auf dem Boden befindliche schwarze Restmasse floss zu der letzten Blase, als würde dieses Gebilde den Brei in sich aufsaugen. Dabei raschelte es, als liefe eine ganze Mäusearmee durch das nächtliche, nasse Gras. In Sekundenschnelle war alles Teer in der stehenden Form gebündelt. Daraus formte sich ein menschliches Wesen.



Mit weit aufgerissenen Augen starrte das junge Mädchen Lylitha an. Was für eine umwerfend schöne Frau. Und von der sollte Gefahr ausgehen?

Jeanettes Tischtennisbälle kamen zur Ruhe. Verräterische Hoffnung umnebelte nun ihren Verstand, verriegelte alle Türen der Wachsamkeit.

„Hat Dir die Musik von Dead Can Dance gefallen, meine Kleine.“ Mein Gott, was hatte diese fremde Frau für eine warme Stimme. Am liebsten hätte sich die Wanderin an ihre Brust geworfen und all ihre Anspannung und Angst hinaus geweint. „Das erste Lied hieß übrigens „Anywhere Out Of The World“. Findest Du das nicht passend? Hat die Musik Dich nicht fast schon hypnotisch in Dein Unglück gezogen?“

Sofort erwachte Jeanette aus ihrer Trance.
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Die Fragen der Fremden signalisierten Gefahr. Schnell wich das Mädchen mehrere Schritte zurück.

„Was wollen sie von mir?“, hüstelte Jeanette und ärgerte sich, ihre Unsicherheit so schamlos verraten zu haben.



Die hübsche Frau blieb stehen und lächelte.

Jeanette war, als würde ihr Blut durch ein Kakteenfeld fließen und sich jede Sekunde an einem neuen Stachel verletzen, so sehr bohrten sich die leeren Augen der Dämonin in ihr Fleisch. Das Lachen war nur eine simulierte Blüte und würde wie eine Seifenblase zerplatzen, landete die Biene am Stempel. Erst wenn das Insekt aufgespießt wäre, würde es seinen Irrtum erkennen.

Jeanette wollte nicht diese Biene sein. Sie durfte sich nicht von der schönen Frau täuschen lassen, die von ihrer Kleidung her sogar in ihre Szene passte. Schöner und geheimnisvoller könnte eine Herrscherin der Nacht nicht sein. Lylithas schwarze, vom Eigengewicht langgezogene Locken waren mit einem Hauch an Blau überzogen. Kleine Perlen des Morgentaus funkelten darin im fahlen Licht des Mondes. Als würde die Wärme des Lebens sein letztes Gefecht mit der Kälte des Todes bestreiten.



Auf der ausladenden Hüfte der Jägerin ruhte der Bund ihres Faltenrockes. Pechschwarz wie ihr Haar. Die Falten erinnerten an die aufgebrochene Rinde einer uralten Eiche. Darüber eine dunkelrote, metallisch schimmernde Miederbluse mit weitem, rechteckigem Ausschnitt, vorne mit schwarzer Spitze überzogen, auslaufend in zwei Schwalbenschwänze rechts und links des Bauchnabels. Einen erotischen Blick auf den Bauch freigebend, da die Schnürung zehn Zentimeter oberhalb des Nabels endete. Oben hatte das Mieder der Baumdämonins große Brust fest umschlossen. An ihm angebracht waren zwei lange, schwarze Ärmel aus Samt. Abnehmbar, wollte sie das Mieder solo tragen.

Als Lylitha sich in Bewegung setzte, ächzte das Gras unter ihren schweren Plateaustiefeln.

„Du bist hübsch, Mädchen. Wie heißt Du?“, kamen die Worte wie Glockenklänge aus dem Mund der Geheimnisvollen. Eine sorgenvolle Mutter könnte nicht anteilnehmender klingen.

„Jeanette“, antwortete die langsam rückwärts Schreitende.
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„Sie haben meine Frage noch nicht beantwortet. Was wollen sie von mir?“



„Jeanette, das ist ein schöner Name. Er passt zu Dir. Du siehst so zierlich aus und doch ist Dein Körper gut durchtrainiert. Wie groß bist Du? Einsfünfundsiebzig? Wunderbar. Deine schlanken Arme glänzen wie Elfenbein, Deine eckige Schulter reizt mich, hineinzubeißen. Du bist ein wahrer Leckerbissen. Nicht für mich. Keine Angst, ich fresse Dich nicht.“

Unbarmherzig kam die Frau näher.

Jeanette hob ihre Hände in Kampfstellung. Die Frau ging nicht auf ihre Fragen ein. Sie wollte nicht wirklich kommunizieren, auch wenn sie so viel redete. Alles diente nur der Einschüchterung.

„Ola, die Kleine will kämpfen. Hast Du denn so eine große Angst vor mir?“

Ja, das hatte Jeanette. Todesangst. Heimlich hoffte sie, so lange zurückweichen zu können, bis sie den Waldrand erreicht hätte. Vielleicht könnte sie sich im Schatten des Waldes vor dem Monster verstecken. Auf alle Fälle würde sie rennen.

Jeanette änderte ihren Kurs um fünfundvierzig Grad. Sie wollte die Distanz zum Wald einschätzen, ohne sich vor ihrer Gegnerin zu verraten. Ein Schrecken fuhr ihr in die Glieder. Sie war doch schon so viele Schritte gegangen. Warum war der rettende Wald noch immer so weit weg?

Die Wanderin schritt schneller aus.

Lylitha schmunzelte mitleidvoll. Hob den Saum ihres Kleides etwas an, als wollte sie nun schneller laufen.

Jeanette drehte sich um und rannte.

Doch sie kam der schützenden Dunkelheit keinen Meter näher.



Hinter ihr raschelte das Kleid der Dämonin über das Gras. Von den Baumwipfeln stoben Nebelschwaden wie Geister herab, deren lange Arme nach Irina griffen. Und wirklich, sie packten in ihr Haar, wickelten es um ihre Hände und zogen.

Jeanette stürzte.

Messerscharf schnitt das Gras in ihre Hände.

Schnell sprang das Mädchen wieder auf ihre Füße. Fürchtete, die langen Grashalme wollten ihr das Fleisch vom Körper schneiden.

Lylitha wahrte den Abstand von mindestens drei Metern. Hatte die Hexe vielleicht doch Angst vor Jeanettes Kampftechnik? Hoffnung kam in der Verlorenen auf.
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Etwas Anderes blieb ihr ja leider nicht übrig. So sehr sich Jeanette bemühte, sie konnte den Abstand zwischen sich und dem rettenden Schwarz des Waldes nicht verringern. Immer blieb sie in der Mitte der Lichtung.

Da stellte sich Lylitha zum Kampf.



Im Wald hörte das junge Mädchen ein Schnarren, Knistern und Reißen. Was mochte das sein? Es klang, als würden stoffbeklebte Pappen aufgerissen werden. Nur hundert Mal lauter.

Mit einem lauten Ki-ai griff Jeanette an. Ihr Naeryo-Chagi, einem Tritt von oben nach unten, durchbrach die Dekung der Dämonin. Sofort folgte ein Miro-Chagi in den Bauch und ohne abzusetzen ein Halbkreistritt zur Schläfe.

Lylitha taumelte kurz.

Dann packte sie mit einer wahnsinnigen Schnelligkeit zu. Ihre Hände gingen in Jeanettes Kragen. Ein Ruck, und sie hatte dem Mädchen Jacke und Pullover entzwei und vom Leibe gerissen. Diese achtete das nicht. Sie zimmerte eine Kanonade an Faustschlägen gegen Lylithas Brust und trieb die Hexe dadurch dadurch wirklich vor sich her.



Was die junge Kämpferin nicht verstand, die Baumdämonin lockte sie zu einem ganz speziellen Baum.

Jeanette spürte noch den Griff in ihren Gürtel, dann flog sie durch die Nacht. Mit dem Rücken knallte sie an einen Baum. Unmenschlich brüllte sie auf, als sich die senkrecht aufgestellte Rinde des Baumes in ihren Rücken fraß. Sofort hing die Dämonin an Jeanettes Vorderseite und drückte sie tiefer in die wie Sägeblätter aufgestellten Rindenreihen. Nun wusste Jeanette, was das Reißen vorhin gewesen war.



Wie das Mädchen nicht mehr vom Baum hinab rutschen konnte, presste Lylitha Jeanettes Hände mit ihrer linken Hand über deren Kopf an den Stamm. Mit einem bösen Lächeln zeigte sie ihrem Opfer ihre rechte Hand. Diese formte sich zu einem spitzen Metalldorn. Brutal schlug sie diesen durch Jeanettes Hände in den Stamm. Sogleich wuchs der Dämonin eine neue Hand.

Schnell rutschte sie runter, zog der Gefangenen die Schuhe und Socken aus und pflockte die Füße ebenfalls in das Holz.

Die Gekreuzigte musternd sagte sie wieder mit ihrer warmen Stimme: „Langsam wird der Baum Dir Deine Lebenssäfte aussaugen, mein Schatz.
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Ich bringe Dir jeden Tag etwas zu essen und zu trinken, damit Du länger durchhältst. Wenn Du Dich nicht aufgibst, kannst Du noch mehrere Wochen lang hoffen, gerettet zu werden.“



Schnell band Lylitha ihrem Opfer einen Knebel in den Mund. Darauf wandelte sie sich von den Füßen her in die schwarze, teerige Masse und floss am Baumstamm hinab. Mit Entsetzen beobachtete Jeanette im Zwielicht des voranschreitenden Tages, wie sich am Fuß des Baumes eine große, schwarze Pfütze bildete und langsam in der Erde versickerte.

Bäche an Tränen stürzten der Gekreuzigten aus den Augen.

Jeanette war verloren.

Hier oben würde sie keiner mehr finden.

*

„AAAARRRRGGGG!!!!!“

Mit einem Schlag saß Achill senkrecht im Bett. Neben ihm hockte Nela in den Kissen, die Haare vom Schlaf her struppig in alle Himmelrichtungen abstehend, die Augen weit aufgerissen und wie irre in die Unendlichkeit starrend. Dabei ihre Hände in die Bettdecke gekrallt.

„Was ist?“, fragte er verschlafen und war sich nicht sicher, ob sich nicht gerade eine Dämonin in sein Bett geschlichen hatte.

„Ich habe ein Mädchen durch die Luft fliegen sehen. Sie wurde an einen Baum genagelt.“

Der Dämonenjäger Achill vertraute der seherischen Gabe seiner Partnerin: „Besonderheiten?“

„Lange, schwarze Haare. Gefärbt. Jung. Zierlich. Mit sehr viel schwarzem Lidschatten.“

Achill fischte nach seinem iPhone, stellte auf laut. „Achill Winterkorn hier. Bist Du es, Harry?“

„Sei gegrüßt, Achill. Wie geht es Dir?“, antwortete der Wachtmeister der Polizeidienststelle in Goslar.

Achill rumorte es im Bauch. Mühsam hielt er sich zurück. Was für eine dumme Frage. Er rief doch nicht mitten in der Nacht an, um über Belanglosigkeiten zu plaudern. Das Beste war, gleich auf den Punkt zu kommen: „Wurde vor kurzem eine Frau vermisst gemeldet, Harry?“

„Jaaaa-aaaahhhh???“, knirschte es aus dem Lautsprecher. Der Wachtmeister war eindeutig noch mit sich im Widerspruch, ob er dem Anrufer Detailwissen mitteilen sollte.

„Haaaa-ryyy“, in Achills Antwort schwang eine deutliche Warnung mit, „ich gehe bei euch ein und aus . . .“

„Willst Du zum Frühstück vorbeikommen, Achill? Ich habe frische Croissants.
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„Schwarzhaarig, jung, zierlich?“, durchbrach der Dämonenjäger forsch das Schweigegelöbnis des Polizisten.

„Bingo!“

„Die letzten Koordinaten ihres Handys, Harry. Und lasse bitte einen Notarzt samt Ranger in Bereitschaft stehen.“

Während Achill die Daten in sein Navi tippte, sprang Nela aus dem Bett: „Ich packe den Rucksack mit den Waffen. Kümmere Du Dich um die Stullen und den Kaffee.“ Schelmisch blickte sie ihren Partner an, froh, den Rollentausch durchgeboxt zu haben.

„Wie hätte die Dame denn gerne ihren Kaffee?“, grummelte der Dämonenjäger.



*



Diese und andere wunderhübsch gruselige Geschichten von den Schreiberlingen des "Autorenstammtisch" gibt es in dem liebevoll mit vielen Bildern gestalteteten Einband "Autorenstammtisch Bd. 2 - unheimliche Geschichten" zu lesen. Herausgeber ist Markus Kohler, veröffentlicht wurde das Buch 2016 im Karina-Verlag.
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Kommentar von "weltuntergang" zu "Abschied nehmen"

Schweres und schönes Gedicht. Gefällt mir sehr total. Ganz liebe Grüße

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