Das Kind war fünf Jahre alt   55

Kurzgeschichten · Trauriges

Von:    Frank Bao Carter      Mehr vom Autor?

Erstveröffentlichung: 26. April 2015
Bei Webstories eingestellt: 26. April 2015
Anzahl gesehen: 2405
Seiten: 3

Das Kind nahm sich einen Zeichenblock und Buntstifte.

Seine Eltern waren von der Arbeit noch nicht nach Hause gekommen.

Die älteren Geschwister spielten draußen mit ihren Freunden.

Es sei noch zu klein und zu dumm, um dieses Mal mitspielen zu dürfen, hatten seine Schwester ihm gesagt. Sein großer Bruder hatte es nur ausgelacht.

So beschloss es in diesen Minuten, schnell groß und schlau zu werden. Es nahm sich seine vielen kleinen Walt-Disney-Figuren und baute sie auf dem Tisch auf. Eifrig begann es sie nachzumalen.

Den Kummer, allein gelassen worden zu sein, hatte es so schnell vergessen können. Akkurat zeichnete es Micky-Maus, Gofi, Donald, Daisy und all die anderen ab. Jede Farbe stimmte überein. Selbst Daisys hellorange Bluse, obwohl sie gar kein orange hatte. Aber für diese Fälle hatte seine Mutter ihm beigebracht, erst alles mit Gelb auszumalen und dann mit Rot drüber zu gehen. Seine Mutter wusste alles. Wenn irgendjemand eine Frage hatte, das Kind schickte denjenigen zu seiner Mutter.

Erst die hellere Farbe, dann die dunklere. Es war ihm in Fleisch und Blut übergegangen. Und es malte für sein Leben gern. Schnell entstand auf dem Din-A3-Blatt eine kleine Parklandschaft mit Wiesen, Bäumen, Büschen und ein paar Spielgeräten. Alles eingeschlossen von dreistöckigen Reihenhäusern. Ein Blick aus dem Küchenfenster und man hatte die Vorlage dieser Situation gefunden.

Aus einem überdimensional großen Fenster im Haus am gegenüberliegenden Ende schaute ein Kind heraus. Es sah sehr traurig aus und eine dicke Träne kullerte aus seinem linken Auge. Der Gegenpol zu all den lachenden Comicfiguren im Vordergrund.

Gerade als es fertig war, drehte sich ein Schlüssel in der Eingangstür. Seine Mutter kam. Freudestrahlend sprang das Kind vom Stuhl, stürmte aus der Küche und umklammerte die Beine der noch im Flur stehenden Mutter.

Endlich nicht mehr alleine.

Endlich jemand, der Schutz versprach und es vielleicht auf die Arme nahm, um es zu trösten. Vielleicht.

„Lass mich erst einmal die Jacke ausziehen.“ Deutlich war der Stress der Arbeit heraus zu hören. Doch das Kind ignorierte es. Es wollte jetzt Aufmerksamkeit, wollte sich nicht mehr verstoßen und ungeliebt fühlen: „Komm mit! Schau, was ich gemalt habe!“

„Aber nur kurz.
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Ich muss uns gleich etwas zu essen kochen. Du willst doch auch, dass es Mittag gibt.“

„Natürlich will ich das, Mama“, log das Kind. Es hatte mit der Zeit gelernt, Mutter nicht zu widersprechen, wollte es sie an seiner Seite behalten. In Wahrheit war ihm Mittagsessen in diesem Augenblick zuwider. Mit Mama spielen, war das Einzige, was es sich wünschte.

„Oh, das ist ja ein richtig kleines Kunstwerk geworden“, lobte die Mutter. Dann runzelte sie ihre Stirn. „Aber einiges hast Du falsch gemacht. Kannst Du erkennen, was es ist?“

Das Kind schaute auf das Bild und konnte beim besten Willen nicht erkennen, was daran falsch sein sollte. Hosen, Jacken, Haare – alles stimmte mit den noch immer auf dem Tisch stehenden Vorbildern überein. Die Tanne war dunkelgrün, die Pappel hatte deutlich hellere Blätter und die Birke einen weißen Stamm. Und außerdem war es ein Bild und kein Foto. „Ich sehe nicht, was falsch ist, Mama.“

„Ach, mein Dummerchen. Dann schau es Dir noch einmal ganz genau an. Und wenn Du die Fehler gefunden hast, malst Du es noch einmal, aber dann richtig, nicht wahr, mein Schatz? Ich koche uns Mittag. Du hast genug Zeit.“

Enttäuscht, dass es seine Mutter nicht hat zufrieden stellen können, setzte es sich erneut an den Tisch. War es gar ein falsches Kind? Hätte Mutter lieber ein anderes gehabt? Kurz nur hatte es diese schlimmen Gedanken. Dann wendete es sich wieder seiner Aufgabe zu. Seiner Chance, ein richtiges Kind zu werden.

Die Zungenspitze durch die Lippen gedrückt malte es eifrig die Szene ein weiteres Mal. Wenn Mutter danach mit ihm zufrieden wäre, würde sie ihm vielleicht ein Märchen vorlesen.

Da das Kind nun nicht mehr so traurig war, verzichtete es auf das menschliche Abbild im Haus gegenüber. Zwangsläufig hatte danach das Fenster eine angemessene Größe.

„Bist Du fertig, Schatz?“

„Gleich. Nur noch ein paar Bäume.“

Mutter stellte sich hinter ihm und schaute ihm über die Schulter. Seine Nackenhaare stellten sich auf. Die Hände begannen zu zittern.

„Ich habe gewusst, dass ich ein sehr schlaues Kind habe. Das hast Du gut gemacht. Beide Fehler sind weg.“

Das Kind wusste zwar nicht, was es jetzt richtig gemacht hatte.
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Jedoch die Freude überwog, Mutter zufrieden gestellt zu haben. Anscheinend war es doch kein falsches Kind.

Erneut drehte sich der Schlüssel in der Eingangstür.

Stolz zog das Kind seinen Vater an den Tisch. Geduldig ließ er sich in seinem Mantel mitziehen. Die Aktentasche noch in der Hand haltend, sah er auf die beiden Bilder.

„Dieses ist das Schönere“, sagte das Kind und zeigte auf das neue Bild.

Die Blicke des Vaters hingen jedoch ausschließlich auf dem anderen. Speziell auf das ausgesperrte, traurige Kind hinter der Fensterscheibe. Traurigkeit und Mitgefühl stiegen in ihm auf. Und Scham, die er sich nicht erklären konnte. Die erklären zu wollen er sich mit aller Gewalt verweigerte.

„Unser Nestküken hat ganz von alleine gemerkt, dass das Fenster auf dem ersten Bild viel zu groß war und dass ein menschliches Kind nicht in eine Gesellschaft von Comicfiguren gehört.“

Wo gehört es überhaupt hin? fragte es sich im Stillen. Sicherlich wird es richtig sein, dass man es immer ausschließt, damit es später einmal groß und schlau wird.

Schnell versteckte es eine Träne, die sich auf Reisen gemacht hatte.

„Dann kannst Du das erste Bild jetzt zerreißen und in den Müll schmeißen.“ Dieser Pragmatismus des Vaters ließ weitere Tränen folgen. Schnell schmiss es das „falsche“ Bild weg, um nicht länger an die eigene Traurigkeit erinnert zu werden.

Sichtlich erleichtert atmete der Vater auf.

Das Kind konnte dies nicht verstehen.

Dabei war offensichtlich gewesen, das Kind hätte seinen Beistand gebraucht. Ein anerkennendes Wort, Anteilnahme.

Jetzt war das Richtige falsch und das Falsche richtig geworden.

Nach dem Essen hielt Mutter ihr Versprechen ein und las dem Kind das Märchen von Schneeweißchen und Rosenrot vor. So war es wieder versöhnt. Vorerst.

Das Kind war fünf Jahre alt.
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Punktestand der Geschichte:   55
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Kommentare zur Story:

  Hallo Lillii,

herzlichen Dank für Deinen Kommentar. Dass Du Dich in das Kind und die Mutter so gut hinein versetzen kannst, gefällt mir sehr.

Das Leid des Kindes wird in drei Geschichten weiter gehen. Wird es werden, wie seine Eltern, oder sein Leid zum Festigen seines Charakters nutzen?

Ich habe die Farbe blau unter dem Schreibfeld angeklickt.

Wünsche Dir einen schönen Abend
Frank Bao  
   Frank Bao Carter  -  05.05.15 19:24

   Zustimmungen: 0     Zustimmen

  Du hast mich mitgenommen in die Welt des Kindes, ich habe Einsamkeit und seine Traurigkeit gespürt und die Enttäuschung, die es empfand über die Mutter und dann auch über den Vater.
Auch kann ich Verständnis für die Mutter aufbringen, die gestresst von der Arbeit nach Haus kam und schon in Gedanken am Herd stand um ihre nächste Aufgabe zu erfüllen.

Wie wichtig wäre für das Kind etwas Anerkennung und wenn auch nur einige Minuten zugewendete Zeit gewesen.

Du hast diese Situation, die oft herrscht, mit Worten gemalt.


was bedeuten jetzt die Farben unter dem Schreibfeld ?
Lieben Gruß
lillii  
   lillii  -  03.05.15 23:15

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Interessante Kommentare

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