Kurzgeschichten · Nachdenkliches · Winter/Weihnachten/Silvester

Von:    Rosalina Brand      Mehr vom Autor?

Erstveröffentlichung: 10. Dezember 2014
Bei Webstories eingestellt: 10. Dezember 2014
Anzahl gesehen: 2233
Seiten: 3

Lieber Rolf, lieber Mathias, liebe Nora – so würde sie den Brief beginnen, mit allen Namen, und sie würde den wohlüberlegten Entwurf drei Mal handschriftlich abschreiben. Die drei Namen der Anrede sollten signalisieren, dass alle die gleiche Information bekämen, eine Information, die sie nicht nur als einzelne Personen, sondern als Familie betreffen würde.

Ein etwas anderer Weihnachtsbrief, von dem sie nicht wusste, wie er bei den Empfängern ankommen würde. Aber es musste sein, alles andere stimmte für sie nicht mehr. Zwanzig Jahre waren genug.

Zwanzig Jahre war es her, seit sie sich von ihrem Mann getrennt hatte, und Jahr für Jahr trafen sie sich alle am Heiligabend, zu dem immer gleichen Ritual: Zuerst das Fondue Chinoise, dann die Kerzen am immer gleich geschmückten Weihnachtsbaum - darauf hatten die Kinder Wert gelegt - dann das gemeinsame Musizieren und am Schluss die Geschenke. Jahr für Jahr, seit zwanzig Jahren, immer gleich.

Es war damals ihr Wunsch gewesen, dass die Kinder wenigstens an Weihnachten ihre beiden Eltern um sich haben sollten. Mathias war damals elf gewesen, Nora acht. Sie wollte ihren Kindern in der schwierigen Situation wenigstens an Weihnachten das Gefühl geben, dass sie noch immer eine Familie waren. Damals war dies vermutlich auch richtig gewesen, aber in der Zwischenzeit waren aus den Kindern Erwachsene geworden, sie waren von zu Hause ausgezogen, und das Organisieren und Durchführen des Festes war immer belastender geworden. Jedes Mal die Angst, die Erwartungen, die mit Weihnachten verbunden sind, nicht erfüllen zu können. Die Angst, dass etwas schief laufen könnte, dass eine Missstimmung zwischen Vater und Sohn ausbrechen könnte. Die Scheidung hatte Mathias kurz vor seiner Pubertät in einem sensiblen Alter getroffen. Er hatte für die Mutter Partei ergriffen, hatte es seinem Vater eigentlich nie verzeihen können, dass er die Familie verlassen hatte. Jede Weihnacht saß sie wie auf Kohlen. Nur kein Streit an Weihnachten!

Zum Glück hatte Nora es immer wieder geschafft, mit ihrem fröhlichen Naturell die Stimmung zu heben, für eine gute Atmosphäre zu sorgen. Nein, die große Katastrophe war ausgeblieben, aber jetzt war es Zeit einen Schlussstrich zu ziehen, zwanzig Jahre waren genug.

Sie versuchte, es so einfühlsam als möglich zu formulieren, schließlich ging es darum, für alle eine lieb gewonnene Tradition zu beenden.
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Kein Fondue Chinoise, kein Weihnachtsbaum, keine Geschenke. Sie unterschrieb den Brief nicht mit Mama, sondern mit ihrem Vornamen, das war plötzlich selbstverständlich, sie fand es passender.

Als sie die drei Briefe zur Post trug fühlte sie sich leicht wie schon lange nicht mehr. Zwar wusste sie nicht welche Reaktionen der Inhalt auslösen würde, aber daran wollte sie im Moment nicht denken. Sie freute sich auf ihre ersten Weihnachten ganz ohne Stress, ganz ohne Belastung, stille Weihnachten mit ein paar Tannenzweigen, der Krippe und vielen Kerzen. Das war schon lange ihr Traum, einmal stille Weihnachten, ganz für sich alleine.

Das Telefon von Nora kam schon am nächsten Abend:

„Hallo Mama, dieser Brief ist dir vermutlich nicht leicht gefallen. Aber ich finde deine Entscheidung gut, auch wenn du sie ganz ohne uns gefällt hast. Für mich ist es schön, dass ich endlich einmal am Heilig Abend mit meinen Freunden losziehen kann. Wir steigen nach dem Mittag hinauf zur Hütte und feiern dort zusammen Weihnachten. Dann haben wir noch zwei ganze Tage zum Skifahren, ich freue mich so.“

Das war ganz Nora. Sie würde nicht für die gute Stimmung in ihrer Familie sorgen müssen, sie konnte einfach mit ihren Freunden genießen.

„Ich freue mich für dich, ich bin froh, dass du nicht enttäuscht bist.“

„Ach was,“ antwortete die Tochter, „aber könnten wir nicht am letzten Adventsonntag zusammen in ein Konzert gehen und danach lade ich dich zu einem guten Nachtessen bei mir zu Hause ein. Nur du und ich, ein richtiger Weiberabend.“

Ja, das war Nora.

Mathias meldete sich einen Tag später:

„Geht es dir gut, Mama? Ich habe mir gedacht, dass wir vielleicht zusammen in das kleine Hotel fahren könnten, von dem du einmal gesagt hast, dass es schön sein müsste, dort Weihnachten zu feiern. Weist du noch?“

Ihr Sohn war jetzt über dreißig, und immer noch fühlte er sich verantwortlich für sie. Hatte sie etwas falsch gemacht?

„Das ist lieb von dir, Mathias, vielleicht ein ander Mal. Aber dieses Jahr freue ich mich darauf, ganz alleine zu feiern.“

„Es würde dir also nichts ausmachen, wenn ich mit Christine in den Süden fahre.
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Du weißt ja, ich bin eigentlich ein Weihnachtsmuffel.“

Und er sprach davon, wie er gleich morgen buchen würde und wie sehr sich auch seine Freundin darüber freue.

Rolf, der Vater ihrer Kinder meldete sich mit einem Brief, dem er das Weihnachtsgeschenk all der letzten Jahre beigelegt hatte, Karten für die laufende Wintersaison des Theater.

„Noch ein letztes Mal, mit einem herzlichen Dank für alles, was du für uns in den vergangenen Jahren getan hast.“

Er würde wohl Weihnachten zum ersten Mal mit seiner neuen Partnerin feiern können, sie mochte es ihm gönnen.

Ja, zwanzig Jahre waren genug, vielleicht waren zwanzig sogar einige Jahre zu viel gewesen.
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