Kurzgeschichten · Fantastisches · Herbst/Halloween

Von:    Mes Calinum      Mehr vom Autor?

Erstveröffentlichung: 9. Juli 2014
Bei Webstories eingestellt: 9. Juli 2014
Anzahl gesehen: 2549
Seiten: 10

Die Wölfin setzte ihre Pfote auf das Wasser und beobachtete das Spiel der Wellen, welches ihr Spiegelbild umgab. Kreise flüchteten über die glatte Oberfläche des Sees hinfort und verzerrten das Licht der Sterne, das sich bereits unter diesen in dunkler Tiefe verlor.

Ihre braunen Augen blickten müde, graue Haare durchsetzen ihr schwarzes Fell. Die Vergänglichkeit hatte ihr Herz ergriffen, hielt es fest umklammert und zog daran mit einer süßlichen Schwere, in der sie sich nur allzu gern verlieren wollte. Die Verlockung sich einfach fallen zu lassen, erschien so groß.

Sie war schon viel zu lange hier und hatte schon so vielen auf ihrem Weg geholfen. Wann war es Zeit selbst zu gehen? Sie wusste es nicht, hatte sich das nie selbst gefragt. Sie fühlte sich durch die Ewigkeit an diesen Ort gebunden, an ein Versprechen, das einst vor langer Zeit gegeben wurde. Ein Duft berührte kaum spürbar ihre Sinne, doch lag er zu tief in ihr vergraben, als dass dieser es an die Oberfläche ihres Bewusstseins schaffte.



Sie spielte mit den Ohren, als sie ein leises, verzweifeltes Weinen hörte. Sie trottete über die Wasseroberfläche des Sees hinweg und trabte hinauf auf eine Düne. Heftig atmend erreichte sie den Dünenkamm. Ein kühler Wind durchwühlte ihr Fell. Ihr Blick schweifte über den Strand. Dort unten stand ein Menschenkind und blickte hinaus auf das Meer. Vor ihm brachen sich die Wellen herausfordernd und feine Wassertröpfchen verwirbelten im Licht des Mondes über der tosenden Brandung. Das Meer lockte das Kind bereits hinaus ihm zu folgen. Aber es traute sich noch nicht, die Wellen waren zu ungestüm, zu wild, noch weckten sie zu wenig Vertrauen. Denn dort draußen wurde alles besser, dort endete all das Leid und all der Schmerz. Dort draußen lag der Ruf der Sehnsucht, dem alle irgendwann folgten. Und hierbei konnte die Wölfin helfen, wie sie es schon so viele Male getan hatte. Und insgeheim wünschte sie sich, dass sie eines Tages ebenso diesem Ruf folgen durfte.



Langsam bahnte sie sich ihren Weg die Düne hinunter, bei jedem Schritt versanken ihre Pfoten tief im Sand. Sie näherte sich mit Vorsicht, immer darum bedacht, das Kind nicht zu erschrecken, denn sie war eine durchaus imposante Erscheinung, mit der wohl niemand rechnete – schon gar nicht auf dem letzten Weg.

Das Kind drehte sich zu ihr, der Wind zerzauste sein schwarzes Haar. Es war ein Mädchen von vielleicht 12 Jahren.
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So stand es vor der Wölfin und war in sanftes silbernes Licht gehüllt. Ihre nussbraunen Augen weiteten sich als die Wölfin sich ihr näherte und es trat einige Schritte zurück.

Die Wölfin hielt inne und betrachtete das Kind mit geneigtem Kopf. Auch an ihr haftete der Geruch der Vergänglichkeit, der es zu ihr gebracht hatte. Das Mädchen hob abwehrend die Hände und wimmerte leise.

Sie fühlte eine tiefe Traurigkeit bei dieser Geste. So viel Angst und Ablehnung brachten ihr die Kinder selten entgegen. Viele trugen so viel Mut in ihren Herzen, stellten sich der Herausforderung und fassten Vertrauen zu ihr. War sie mittlerweile so eine furchtsame Erscheinung geworden? Was war aus den Zeiten geworden, in denen sie Ruhe und Frieden auf diese Kinder übertrug, die ihre Welt viel zu früh verlassen mussten? Sie fühlte sich ihrer Aufgabe nicht mehr gewachsen. Trotzdem versuchte sie es mit einem fröhlichen Spiel.

Sie machte einen Satz in Richtung des verängstigten Kindes, drückte ihre Vorderbeine auf den Boden und kläffte wie ein kleiner Welpe. Sie stieß mit der Nase in den Sand, wirbelte ihn auf und nieste dabei. Ein Lächeln umspielte die Gesichtszüge des Mädchens als die Wölfin sich in den Sand fallen ließ, sich wälzte und dabei genüßlich quietschte. Dann sprang die Wölfin auf und sauste um das Mädchen herum, welches jetzt vor Freude lachte, in die Knie ging und in den Sand griff, um ihn nach der Wölfin zu werfen. Sie tobten gemeinsam am Strand entlang und die Wölfin fühlte sich ihrer Aufgabe wieder etwas mehr gewachsen. Nie kam es auch nur zu einer Berührung zwischen ihr und den Kindern, es war wie ein stilles Einverständnis – ich spiele noch einmal mit dir, bevor ich dir den Weg zeige. Du musst keine Angst haben.

Immer wieder lief die Wölfin jetzt auch in die Wellen hinein. Das Mädchen folgte ihr, seine Kleidung bald von Wasser durchtränkt. Noch holte sie die Wölfin immer wieder auf den Strand zurück und als sie merkte, dass das Mädchen ihr Spiel verstand, stürzte sie sich in das Wasser und drang angestrengt schnaubend durch die Gischt. Die Wellen schlugen über ihr zusammen und sie drehte sich nach dem Kind um. Es schwamm tapfer hinter der Wölfin her. Gemeinsam zog es sie auf das Meer hinaus, irgendwann ließen sie sich von der Strömung einfach treiben, denn dort draußen war das Wasser viel ruhiger und nur die Sterne bewachten den Weg.



Die Wölfin wurde müde, ihre Bewegungen schwerfälliger und sie wusste, dass das Kind ab hier alleine weiter schwimmen musste.
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Sie fiel hinter dem Mädchen zurück, das leise prustend weiter schwamm. Es schien als wüssten sie ab einen bestimmten Zeitpunkt, dass das Meer sie zurück holte. Wohin sie gingen, das wusste die Wölfin nicht. Gerne würde sie folgen und das Geheimnis, das sie an diesen Ort band, ergründen. Doch sie hatte ein Versprechen gegeben. Sie schwamm zurück, kämpfte sich erschöpft an den Strand und blieb schnaufend im kühlen Sand liegen. Schließlich hob sie den Kopf und heulte. Doch niemand antwortete ihr auf den einsamen Ruf, den sie an den Himmel richtete. Sie fühlte sich unendlich müde.



Wieder blickte die Wölfin auf die Wasseroberfläche dieses einen Sees, betrachtete ihr Antlitz, die Spuren des Alters. Warum hatte sie dieses Versprechen gegeben, warum war dies damals ihr einziger Wunsch gewesen? Der Gedanke war so fern, sie konnte sich einfach nicht mehr daran erinnern, wie sie hierher gekommen war. Doch da war dieser Geruch. Der Griff um ihr Herz wurde stärker, sie fühlte eine Melancholie, einen Schmerz. Und sie verstand, dass hier das Geheimnis verborgen lag. So etwas hatte sie vor Ewigkeiten zuletzt gefühlt und darum gebeten den Schmerz von ihr zu nehmen.

Erschrocken hob sie den Kopf. Ihr Herzschlag beschleunigte sich und sie zitterte am ganzen Körper. Ihre Beine gaben nach und ein leichter Schwindel tobte durch ihren Kopf, verschleierte ihre Augen und plötzlich roch sie es. Der Wind trug den Geruch mit sich. Erst ganz schwach, dann immer deutlicher. Es war ein neuer Geruch und doch um so vieles Vertrauter als alle anderen. Auch ihm haftete der Hauch der Vergängnis an, ein Hauch von Krankheit und Schmerz und Hoffnung. Fast wie der Geruch der Kinder und doch so ganz anders. Aber sie hörte kein Lachen und kein Weinen, sie hörte auch sonst nichts. Es war vollkommen still. Doch die innere Erregung, die dieser Geruch in ihr aufstiegen ließ, die trieb sie an.

Langsam richtete sie sich auf. Sie fühlte sich eigentlich zu schwach, um die Düne empor zuklettern. Dennoch schleppte sie sich über die Wasseroberfläche, setzte eine Pfote vor die andere. Es schien eine Ewigkeit, bis sie den Kamm der Düne erreichte. Sie sackte zusammen. Der Geruch war jetzt so intensiv, dass er ihr die Sinne vernebelte. Sie ließ ihren Blick über den Strand schweifen.
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Dort unten lag jemand.

Vorsichtig erhob sie sich, glitt die Düne hinab und näherte sich dem Körper, der dort leblos im Sand lag. Sie blieb erstaunt stehen, als sie merkte, dass der Körper viel zu groß war, um der eines Kindes zu sein. Sie näherte sich langsam, sog den Duft ganz in sich ein, wieder ging dieses Zittern durch ihren Körper. Der Mensch lag auf dem Bauch, die Arme leicht von sich gestreckt, den Kopf zur Seite geneigt und die Augen geschlossen. Der Atem war kaum zu vernehmen. Die Wölfin verstand, dass dies ein erwachsener Mensch war, ein Mann und sie wusste nicht so recht, was nun zu tun war. Die Kinder, die hierher geschickt wurden, waren alle hellwach und sie brauchte nie lange, bis sie ihr voller Neugier ins Meer folgten. Die Sprache der Kinder hatte sie immer verstanden.



Langsam ging die Wölfin auf den Mann zu, sie strecke sich, schob ihren Kopf nach vorne, und schnüffelte vorsichtig. Der Geruch war so intensiv in seiner unmittelbaren Nähe, dass ihr ganzer Körper vor Anspannung zitterte. Sanft schnaubte sie in sein Gesicht, ohne in dabei zu berühren. Vielleicht würde ihn der Luftzug aufwecken, doch dieser blies im lediglich das Haar aus der Stirn.

Was sollte sie denn jetzt tun? Sie ließ sich vor ihm in den Sand sinken und kläffte einmal laut auf. Sie sprang auf und flitzte vor ihm auf und ab, doch der Mann rührte sich nicht. Letztendlich sank sie wieder neben ihm in den Sand und legte ihren Kopf nachdenklich auf ihre Vorderpfoten. Vielleicht wachte er von alleine auf? Vielleicht brauchte er eine kurze Weile? Sie schloss ihre Augen und ließ sich von seinem Geruch durchfluten. Für einen Moment dämmerte sie vor sich hin und lauschte den leisen Atemzügen. Und sie ertappte sich dabei, dass sie sich wünschte, nicht mehr alleine zu sein.

Erst als sich sein Atem beschleunigte, öffnete die Wölfin ihre Augen. Etwas hatte sich verändert, doch der Mann war noch immer nicht aufgewacht, sein Atem ging jetzt viel schneller und Unruhe umspielte ihn. Die Wölfin richtete sich wieder auf und kam vorsichtig näher.

In ihr breitete sich ein ihr wohlbekanntes Gefühl aus und sie hob den Kopf und blickte in Richtung Meer. Es rief nach ihr, es war Zeit den Menschen aufzunehmen. Der Griff um ihr Herz verstärkte sich. Was sollte sie denn nur tun? Er bewegte sich nicht. Sie durfte ihn nicht berühren ... oder doch? Unschlüssig blickte sie zwischen dem Meer und dem Mann hin und her.
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Sie war sich nicht sicher, was sie tun sollte ... mit den Kindern war es so viel einfacher gewesen. Vielleicht sollte sie ihn wecken? Was würde geschehen, wenn sie ihn berührte?

Sie wollte ihn so sehr berühren ... und machte einen zögerlichen Schritt auf ihn zu. Ihre Schnauze stieß sanft gegen seine Wange und ein warmes Gefühl durchflutete die Wölfin. Bilder schossen durch ihren Kopf – nur für den Bruchteil einer Sekunde übermannte sie eine Fülle von Gedanken und Emotionen ... und dann für einen kurzen Moment sah sie ein Bild von sich selbst. Viel jünger, sie stand auf einer Klippe und heulte dem Sternenhimmel entgegen. Was bedeutete das? Sie sprang zurück und schaute den Mann mit geneigtem Kopf an. Erst begriff sie nicht, was eben passiert war, doch dann verstand sie es.

Sie hatte Ausschnitte seines Lebens gefühlt und gesehen, nur einige Fragmente, viele Fragen, Angst und Hoffnung. Er war auf der Suche, schon sehr lange. Und zum Schluss erfüllte ihn eine Angst, die ihm letztendlich erst das Ziel seiner Suche offenbahrte. Sie selbst. Es war der letzte große Abschnitt auf seiner Reise. Als man ihm eine schreckliche Mitteilung machte, fühlte er sich zuerst verlassen, aber er schöpfte neuen Mut und erkannte, das Potenzial, das Geschenk, das man ihm gegeben hatte. Die Hoffnung stieg nahzeu ins Grenzenlose. Und es war eben diese Hoffnung, die das Herz der Wölfin nun berührte und die sie an die eine Nacht zurück erinnerte. Konnte es sein, dass er zurückgekehrt war? Dass er sie nun gefunden hatte, so wie sie einst ihn entdeckte?



Sie blickte auf das Meer. Es rief sie beide. Konnte sie ihn jetzt gehen lassen? Ihn wieder verlieren ... Sie schaute ihn an, er bewegte sich und öffnete seine Augen. Sie blickte ihn an und er sah zurück ... sie erkannten sich zum ersten Mal beide. Dennoch ging die Wölfe einige Schritte zurück. Sie hatte nicht mehr damit gerechnet, dass sie sich jemals wieder sehen würden. Damals. Es war die Nacht, in der sie sich entschied eine Wölfin zu sein und er ein Poet zu bleiben. Der Nebel hatte sich zwischen ihnen zugezogen. Und hier hatten sie sich wieder gefunden, an der Grenze unter den Sternen, die er einst so sehr liebte, so viel mehr als alles andere, so viel mehr als sich selbst.



„Ich kenne nicht einmal deinen Namen“, flüsterte er. „Es tut mir so leid.“ Er richtete sich auf und kniete vor ihr im Sand, die Hände auf die Oberschenkel abgestützt.
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„Ich habe deinen Namen immer gekannt. Aber es spielte keine Rolle, es hat dich nicht interessiert“, flüsterte die Wölfin. Es hat dich nie interessiert, du bist immer nur deinen Weg gegangen, du hast nie nach rechts und nach links geschaut, sondern immer nach oben zu den Sternen. Du hattest verlernt Fragen zu stellen. Selbst mit den einfachsten Fragen, hätte ich dir alles offenbahrt, was dein Herz berührte, du aber nie verstanden hast. Dir fehlte der Mut im Herzen. So lernte ich schweigen und du bist weitergezogen.“



Schmerz trat in die Augen des Mannes. Dann verkrampfte sich sein Körper. Er schlug die Arme über dem Bauch zusammen, krümmte sich nach vorne, hustete und spuckte. Dunkle Flecken färbten den Sand. Beide blickten sie hinunter. Sie roch das Blut und seine Angst. Langsam trat sie näher. Er zitterte und sie drückte ihre Schnauze sanft gegen seine Wange. Er Griff in ihr Fell und hielt sich fest. Und zum ersten Mal in ihrem Leben ignorierte die Wölfin den Ruf des Meeres und ging vollkommen in diesem einen Moment auf. Sie wurde von seinem Schmerz durchflutet und erinnerte sich wieder an ihr eigenes Leid, den sein Verlust für sie einst bedeutet hatte.



Er löste die Umklammerung und sah sie an. Dann kramte er etwas aus seiner Tasche hervor. Es war ein Zettel.

„Ich bin hier, um dir etwas zu zeigen. Auf meiner Suche habe ich jemanden kennengelernt, er versprach mir zu helfen ... uns zu helfen.“ Er faltete den Zettel auseinander. „Es ist eine Karte. Ich weiß nicht, ob dieser Ort existiert. Ist hier ein Wald?“

Die Wölfin nickte.

„Und führt durch diesen Wald ein Pfad zu einer Quelle?“

Sie nickte.

„Zeigst du mir den Weg?“ Er hatte die Augenbrauen leicht gehoben.

Die Wölfin erwiderte seinen Blick und drehte sich um. Es war lange her, dass sie den Wald besucht hatte. Alles war jetzt besser als dem Ruf des Meeres zu folgen. Sie brauchte Zeit, viel mehr Zeit.



Und so betraten sie gemeinsam den Wald, in dem es viel dunkler war als am Strand. Doch die Wölfin orientierte sich an den Gerüchen und verließ sich auf ihre guten Augen. Immer wissend, dass er hinter ihr war, seinem Atem lauschend. Sie sprachen beide kein Wort.

Es roch nach modrigem Holz, Farnen und Pilzen. Der Boden unter ihren Füßen war weich und mit Moos bedeckt.
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Es dauerte auch nicht lange, als sie das Plätschern des Wassers hörte. Sie erreichten eine kleine Lichtung im Wald, die der Mond erhellte. Eine kleine Felswand erstrecke sich in die Höhe. Aus ihren Klüften strömte das Wasser und sammelte sich in einer kleinen Wasserstelle, aus der ein Bach hervorging und sich in den Wald schlängelte. Und neben der Stelle, am Fuße der Felswand, dort wo das Wasser auf den Boden tropfte, dort wuchs eine blaue Blume. Im silbernen Licht, wirkte ihre Farbe sanft und irrisierend. Sie war feingliedrig mit ihren vielen schmalen Blütenblättern. Neben ihr thronten zwei Wächter, zu ihrer linken und ihrer rechten Seite - zwei Pilze mit roter Kappe und weißen Flecken. An diesem Ort war sie schon lange nicht mehr gewesen. Einst traf sie hier ihre wichtigste Entscheidung.

Der Mann kniete neben sie auf den Boden, legte seinen Arm über ihre Schultern. „Er hat mir erzählt, dies ist der Ort, an dem du darum batest, mich zu vergessen, all den Schmerz zu vergessen.“

Die Wölfin verkrampfte sich bei seinen Worten. Sie erinnerte sich an das Versprechen.

„Und es blieb die Leere“, antwortete sie. „Es war so viel einfacher danach. Es tat nicht so weh.“

„Es ist die blaue Blume der Sehnsucht, nach der wir beide wohl so endlos gesucht hatten. Ich wollte nur die Sterne und du wolltest mich. Letztendlich haben wir uns beide gefunden, aber die Sehnsucht wird bleiben. Ich werde gehen müssen, aber der alte Mann erzählte mir, du weißt, was zu tun ist. Du kannst uns beide retten.“

Eine große Angst der Verlust durchströmte die Wölfin. „Nein, du darfst nicht gehen, jetzt wo wir uns gefunden haben. Wir können hier bleiben, zusammen. Bis in alle Ewigkeit.“

Sie drehte sich zu ihm um und schmiegte ihre Stirn an seine Brust. Er hielt ihren Kopf umklammert und drückte sein Gesicht in ihr Fell.

„Ich muss gehen, meine Zeit ist abgelaufen. In mir wütet bereits der Tod. Wir können ihn nichts aufhalten. Aber du musst dein Versprechen auflösen. Nur dann kannst du mir folgen, nur dann sind wir vereint.“

„Aber ich weiß nicht wie ...“

Er erhob sich und drückte erneut die Arme gegen seinen Bauch. Er schwankte. „Ich muss gehen.“

Der Wölfin traten Tränen in die Augen. Er drehte sich um und stolperte den Weg entlang zurück in den Wald, zurück zum Strand.
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Einen Moment blieb sie stehen und blickte ihm nach. Sie wusste nicht, was sie tun sollte.

Und dann rannte sie los, hinter ihm her. Sie bekam ihn am T-Shirt zu fassen. Zog ihn zurück.

„Geh nicht!“

Er blickte sie so verzweifelt an, wie sie sich fühlte. „Ich muss gehen. Komm mit mir und begleite mich auf diesem Weg. Lass mich nicht allein.“ Sie blickte in seinen braunen Augen und wusste, sie würde ihm überall hin folgen, nie mehr ohne ihn sein.

Und sie schritt an seiner Seite, mit hängendem Kopf, begleitete ihn in die Wellen und schwamm mit ihm hinaus. Sie wich nicht von seiner Seite, bis er langsamer wurde und unterging. Sein Kopf war eben noch da gewesen und plötzlich war er weg. Noch nie hatte die Wölfin einen Menschen so weit hinaus begleitet.

War das, was mit allen passierte? Sie ertranken? Konnte das wirklich alles sein? Panik ergriff sie. Sie tauchte unter und schnappte nach ihm. Bekam ihn erneut am T-Shirt zu fassen. Wollte ihn nach oben zerren, doch sein Körper war so schwer, sie schaffte es nicht, gegen die Tiefe anzukämpfen. Sie zog und strampelte, die Luft ging ihr aus. Sie hustete und lies für einen Moment los. Es war der Moment, in dem er in die Dunkelheit der Tiefe entglitt.

Prustend kam die Wölfin nach oben. Tauchte wieder ab, doch sie sah nur Schwärze, tiefe Schwärze. ... er war fort und der Schmerz, der sie durchfloss war von einer Schwere, wie sie diese noch nie im Leben gefühlt hatte. Sie wollte ihm Folgen, doch der Schmerz schlug in Hass um. Sie strampelte und schwamm zurück ans Ufer. Sie hatte ihn verloren ... für immer ... an die Dunkelheit des Meeres. Wie konnte das sein? Es war ungerecht!

Sie hatte ein Versprechen gegeben, aber war damit miteinbegriffen, dass man ihr nahm, was sie am meisten liebte?

Sie reckte ihren Kopf empor und heulte zum Sternenhimmel; heulte jene an, die ihr den Schmerz damals nahmen. Das hatte sie so nicht gewollt. Nun durchflutete sie dieser Schmerz zehnmal stärker als zuvor. Und sie rannte los ... ohne zu schauen, wohin der Weg sie führte. Sie wollte einfach nur rennen, Tränen verschleierten ihren Blick. Bald brannte ihre Lunge und die Kräfte ließen nach. Erschöpft sank sie schließlich mit geschlossenen Augen und bebender Brust auf den Boden. Sie schnaufte.

Erst als der Schmerz sich ein wenig lichtete, roch sie den Wald rings um sich herum, sie hörte das Plätschern von Wasser.
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Als sie die Augen öffnete, sah sie die Quelle.

Und dort stand sie ... die blaue Blume der Sehnsucht. Eine Sehnsucht, die sie jetzt nicht mehr ertragen konnte. Sie richtete sich auf und starrte die Blume an. Wie schön sie war, wie unschuldig, als könnte sie alle Zeit überdauern, die Sehnsucht eines jeden in sich aufnehmen.

„Ich will niemals mehr diesen Schmerz fühlen. Ich ertrage diese Sehnsucht einfach nicht.“ Und die Wölfin stand auf und machte eine Satz auf die blaue Blume zu, biss in sie hinein, verschlang die Blume, kratzte mit den Pfoten den Boden auf, zerstörte ihre Wurzeln. Nie wieder wollte sie diese Sehnsucht fühlen ... diesen Schmerz. Sie würde die blaue Blume vernichten, ein für alle mal. Den beiden Wächtern biss sie die Hüte ab. Sie tobte und wütete, bis Schwindel und Würgereiz eintraten. Irgendetwas stimmte nicht. Die Umgebung um sie herum verschwamm. Die Welt waberte vor ihren Augen in goldenen Farben und die Übelkeit ließ ihren Magen zusammenkrampfen. Sie würgte und erbrach sich. Vor sich sah sie ein Gemenge aus Schleim und halbverdauten Blütenblättern. Sie schwankte, erst zitterten nur ihre Beine und dann ihr ganzer Körper. Und als die Beine unter ihr nachgaben, da hatte sie ihr Bewusstsein bereits verloren. Nun lag sie da, ihr Herz schlug laut und schnell, dann immer langsamer und immer leiser ... bis es verstummte.



Und als sie die Augen öffnete, da sah sie das Meer. Die Wellen rasten auf sie zu und brachen sich. Feine Wassertröpfchen wurden vom Licht des Mondes erfüllt, der über ihr alles erleuchtete. Auch ein paar Sterne konnte sie sehen. Aber nur sehr schwach, denn das Licht des Mondes war sehr stark.

Sie spürte eine seltsame Präsenz und als sie sich umdrehte, sah sie einen Schatten die Dünen in der Ferne hinunterlaufen. Langsam kam dieser immer näher, bis sie erkannte, was dort auf sie zulief. Es war ein großer, schwarzer Wolf. Dieser blieb vor ihr stehen und starrte sie aus alten, weisen Augen an. Augen, in denen ein tiefer Schmerz, eine tiefe Sehnsucht zu ertrinken schien. Diese Augen machten ihr Angst, denn es waren ihre eigenen Augen. Sie wimmerte. Sie wollte keine Schmerzen mehr fühlen. Doch die Wölfin lud sie zum Spiel ein, sprang auf und ab, stieß die Nase in den Sand, wälzte sich darin. Und sie lachte über sich selbst, spielte mit ... ein letztes Mal. Und sie folgte der Wölfin in der Fluten, vertraute sich selbst.
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Und sie schwamm. Nun würde sie ihm folgen ... endlich, hinab in die Tiefe. Sie schwamm, einen Zug nach dem anderen, es schien so einfach, die Strömung trug sie mit sich. Die Wölfin folgte ihr eine Weile, dann drehte sie ab. Und sie schwamm alleine, bis jeder Zug schwerer wurde, die Müdigkeit sie übermannte. Und sie fühlte den Ruf der Tiefe, wie ein leises Säuseln, das sie durchdrang ... nach ihr rief. Sie würde das Geheimnis erfahren, sie musste nur lernen loszulassen, zu vertrauen. So lange hatte sie treue Dienste geleistet, sie sollte belohnt werden.

So hörte sie auf zu schwimmen und sie sank, hinab in die dunkle Tiefe, ihrer größten Sehnsucht folgend. Die Schwärze umgab sie rasch. Sie blickte um sich, die Arme von sich gestreckt. Dann erschien ein kleiner Lichtpunkt, dann noch einer. Plötzlich war sie von einem Feuerwerk von glänzenden Lichtern umgeben, wie Glühwürmchen in einer warmen Sommernacht, wie ein Himmel voller Sterne. Und sie wollte heulen, öffnete den Mund, wollte husten. Es fühlte sich seltsam beklemmend an, Panik, die Lichtpunkte umströmten sie, tanzten um sie herum, trugen sie in die Tiefe. Sie bekam keine Luft mehr und verlor sich in dem seltsamen Lichtertanz. Ein vertrauter Geruch umgab sie, sie war ihm schon sehr nah. Sie konzentrierte sich darauf, doch er wurde immer schwächer und schwächer. Bald bin ich bei dir, dachte sie noch, als sie die Schwärze durchflutete, sich ausbreitete, die Lichtpunkte verdrängte. Sanft breitete sie sich aus und umhüllte sie. Der Geruch entglitt, jeder Gedanke verflog, der letzte Atemzug von Wasser verdrängt, eine Seele zurückgegeben.



Und es war Nacht, die erste sternenlose Nacht zum Ende der Zeit.
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Kommentare zur Story:

  Schöne Geschichte und sehr gut geschrieben!  
   Daniel Freedom  -  10.07.14 14:51

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