Nachdenkliches · Kurzgeschichten

Von:    Michael Fleischer      Mehr vom Autor?

Erstveröffentlichung: 9. März 2001
Bei Webstories eingestellt: 9. März 2001
Anzahl gesehen: 2529
Seiten: 3

Stellen Sie sich vor, es ist acht Uhr morgens. Jemand klingelt an der Tür. Ein aufdringlicher Klang, der Sie nicht in Ruhe schlafen läßt. Noch nicht ganz aufgewacht, gehen Sie zur Tür und sehen einen Postboten, natürlich mit einem Päckchen in den Händen. Seltsam, eigentlich erwarten Sie in letzter Zeit nichts Derartiges und überlegen sich rasch, wer es wohl geschickt haben mag.

Nun ist das Päckchen dem Boten abgenommen und Sie können's kaum erwarten, es zu öffnen. Jetzt bemerken Sie mehrere kleine Löcher an der Oberfläche - wozu sollten die eigentlich gut sein ?

Ganz vorsichtig öffnen Sie's.

Was Sie da sehen, läßt Sie vor Überraschung auf Ihrem Platz erstarren, ohne ein Wort zu verlieren. Ein Kaninchen. Ein weißes, rotäugiges Kaninchen, von denen Sie in Ihrem Leben schon Hunderte gesehen haben. Ein gewöhnliches "Oryctolagus". Jemand schickte Ihnen ein Kaninchen, doch wer, bleibt unbekannt, denn Sie finden keinen einzigen Hinweis, wer das sein könnte.

Nun ist das Leben des hilflosen Tieres in Ihren Händen. Ob seine Stunden schon gezählt sind oder ob es noch den Pensionsalter erreichen wird, liegt ganz allein bei Ihnen.

Also wenn ich an meinen Bekannten A denke, dann hat das Arme nicht mehr lange zu leben. Da kommen sofort 'ne Pfanne und 'n Kochbuch ins Spiel - das Ende kommt mit jeder Minute näher... Eigentlich ist A eher ein Bekannte von meiner Mutter als von mir, ich habe mich mit ihm nur ein paar mal in meinem Leben unterhalten. Er kommt aus Ukraine, zusammen mit seiner zweiten Ehefrau und seiner Tochter, da wird vom weißen, hübschen, niedlichen, weichen, flaumigen Kaninchen nicht viel übrig bleiben.

Ganz anders B. Wenn seine siebenjährige Tochter ihn ganz höflich darum bittet, den Inhalt des Päckchens zu behalten, kann die Todesstrafe in einer Mikrowelle verhindert werden, doch schon bald wird sich das Kaninchen wünschen, er würde doch noch gegrillt werden, denn es gibt wahrhaft nichts Schlimmeres, als ein Spielzeug für ein kleines ideenreiches Mädchen zu sein. Aber es geht auch anders : B meint, er kann sich im Moment kein Haustier leisten und übergibt das betroffene an C, der vor mehreren Jahren als Tierarzt jobbte. Keine besonders weise Entscheidung, denn den Gerüchten zufolge, hatte C mal ein kleines Känguruh in seiner Wohnung leben lassen... äh, nein, eher sterben lassen, denn das sich scheinbat erholende Tier krepierte in drei Tagen ihrer Co-Existenz.
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Ich stelle mir schon jetzt seine Reaktion vor, wenn er das kerngesunde Kaninchen zum ersten mal betrachtet : O Gott, es muß sofort operiert werden ! Das traurige Finale läßt sich leicht vorstellen.

Oder nehmen wir unseren Nachbarn von links - D. Die einzige Reaktion, die von ihm zu erwarten wäre, wären lediglich zwei Worte : "Kaninchen ? Gut." Na ja, würden Sie ihn persönlich kennen, würden Sie verstehen, wovon ich spreche. Wahrscheinlich würde ich mit der Behauptung, er sei nicht von dieser Welt, zu weit gehen, doch manchmal redet er solche... merkwürdige Dinge, und fügt immer "Gut" hinzu. Manchmal spricht er auch mit sich selbst... Doch es ist nichts im Vergleich damit, was sein Kumpel E (auch unser Nachbar) von Zeit zu Zeit veranstaltet. Letztes Jahr, da war er mal so voll besoffen, daß er um 11 Uhr abends zu Ds Tür kam und fing an, so laut er konnte, nach ihm zu rufen; der war aber dummerweise nicht zu Hause. Tja, und dann holte er einen Hammer und noch was und fing an, die Tür aufzubrechen.

Doch ich bin vom Thema weggekommen. Ich weiß nicht, was für Tiere... oder na ja, was für Geschöpfe er normalerweise sieht, wer er besoffen ist (und ich will's auch gar nicht wissen), aber in meiner Vorstellung nimmt er das Kaninchen einfach, setzt sich in seinen Sessel im Garten und streichelt es liebevoll an seinem Schoß, während er die nächste Flasche öffnet.

Oder nehmen wir unseren Nachbarn von oben - F. Der kommt aus Pakistan, aber nicht allein, sondern zusammen mit seiner hysterischen Frau und seinem kleinen Sohn. Da muß ich ganz lange überlegen, wie er auf ein solches Geschenk reagieren würde. Wahrscheinlich würde er laut aufschreien : "Der Gott hat uns ein Zeichen geshickt !" und für den ganzen Tag beten gehen...

Da fällt mir gerade ein, ich habe noch jemanden vergessen : die zwei Schwester, G und H, auch Bekannten von meiner Mutter. Sie sind schon ziemlich alt, etwa 60 oder so. Die jüngere ist... ganz normal für ihren Alter eigentlich, aber was die ältere - die nur ein paar Jahre älter ist - angeht, so sieht sie eher wie eine Achzigjährige aus und hört sich wie eine Zehnjährige an. Wenn G uns mal besuchen kommt, bleibt H immer zu Hause und guckt fern. Ich denke, ein Kaninchen würde in ihr Leben die Vielfalt einbringen, die sie gerade braucht, doch ich bezweifele ernsthaft, daß a) das Kaninchen bei ihr besser aufgehoben wäre, als bei der kleinen Tochter von B und b) ihre Schwester es ihr erlauben würde, irgendein Haustier zu halten, und da muß ich ihr - leider - recht geben.
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Ein weniger grausames, dennoch im Dunkeln bleibendes Schicksal erwartet das Tier, falls es in die Hände von I, J und K - drei Mitschülerinnen von mir - gerät. Es scheint so, als würde es seinen Weg auch weiter als Geschenk fortsetzen : von I zu J, von J zu K, von K zu sonst irgendjemandem... Da beneide ich das arme gequälte Kaninchen aber auch nicht...

...und wenn ich's mir so recht bedenke, dann bin ich froh, daß ich als Mensch und nicht als Kaninchen geboren wurde.
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Kommentare zur Story:

  Also irgendwie hab ich jetzt Appetit auf Kaninchen. Oder doch lieber Buchstabensuppe?

Schon interessant. Vor allem wenn man den letzten Satz bedenkt.
"...und wenn ich's mir so recht bedenke, dann bin ich froh, daß ich als Mensch und nicht als Kaninchen geboren wurde. "
O ja, ich auch, was Menschen alles mit Tieren anstellen ist einfach nur widerwertig.  
Regina  -  25.04.04 23:24

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  Nein, aktiver Kannibalismus ist nicht darunter, so weit ich weiß :)

Aber jetzt im Ernst - ich habe WIRKLICH nichts erfunden, all die Leute kenne ich. Die drei meine Mitschülerinnen habe ich sogar danach gefragt, was sie mit dem Kaninnchen machen würden.  
Michael Fleischer  -  10.07.01 23:30

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  Du meine Güte... was hast Du bloß für einen schrägen Bekanntenkreis??? Aber aktiver Kannibalismus ist nicht darunter - oder? Hab ja schon viel gelesen, aber eine Beschreibung von so vielen merkwürdigen Gestalten ist schon exotisch. Klasse geschrieben - musste mehr als nur einmal laut lachen! Gruß, bignose  
bignose  -  10.07.01 22:15

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Kommentar von "Jonatan Schenk" zu "Eine Rose wird blühen"

ein sehr schönes gedicht!

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